61. Ich hab noch nie

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V

Ich spürte die Aufregung bis in den Bauch und wippte von einem Fuß auf den anderen, bis man Volkans Schatten auf den überdimensionalen Leinwänden sah. Ich kannte den Ablauf der Show, hatte oft genug davon gehört und gesehen, und doch klebten meine Augen an dem Bühnenbild, wie bei einem Kind, das das erste Mal einen Disneyfilm sah. Sophie merkte scheinbar meine Aufregung, oder wollte sich selbst etwas beruhigen und griff nach meiner Hand. Auf eine komische Art und Weise fühlte ich mich mit ihr verbunden. Vielleicht lag das am ähnlichen Schicksal mit unserer Partnerwahl.
Volkan sang souverän seine Texte und jeder Ton saß. Ich ließ mich vollkommen auf den Vibe ein und sang einige Lieder mit, von denen ich die Texte kannte. Er war nun an der Stelle des Konzerts angekommen, an der er die Menge mit einem Boot durchquert und er fuhr direkt an Sophie und mir vorbei. Ich konnte es trotz seiner Brillengläser sehen, unsere Blicke trafen sich und er zwinkerte mir zu. Heute war ich tatsächlich eines seines Fangirls. Ich fühlte mich so stolz für ihn und wäre am liebsten mit geschwollener Brust auf die Bühne geklettert, um allen anwesenden Personen zu berichten, was für ein toller Mann hier vor uns stand. Sophies Druck auf meiner Hand wurde fester, als Volkan an uns vorbeifuhr und auch sie das Zwinkern bemerkte, als ich einige junge Mädels hinter uns schwärmen hörte.
„Er hat mir zugezwinkert, habt ihr gesehen? Heute ist er fällig, das schwöre ich euch.". Die Stimme der blonden Mitarbeiterin konnte ich nicht überhören. Es war wie ein Gejaule in meinem Ohr, obwohl sie keine besonders hohe oder schrille Stimme hatte. Ich hatte nur schlichtweg etwas gegen sie. Sophie bekam meine leichte Kopfdrehung in ihre Richtung mit und gab mir mit ihrer Mimik zu verstehen, mich wieder auf seine Musik zu konzentrieren. Volkan war mittlerweile auf seiner Mittelinsel angekommen und begann Weißes Kleid zu singen. Ich merkte die Gänsehaut auf meinen Armen und gleichzeitig den Schauer auf meinem Rücken. So schön dieses Lied war, es erinnerte mich an seine All White Party und das, was mit mir an diesem Abend geschehen war. Mir stieg die Hitze ins Gesicht und es machte mich nervös. Ich hatte den Song schon einige Male seither gehört und bisher nie solche Probleme währenddessen gehabt. Was war heute los. Meine Gedanken wurden wirr und Bilder tauchten vor mir auf, die ich nicht zuordnen konnte. Mein Körper schien mich im Stich zu lassen und produzierte immer mehr Wärme, wohingegen meine Hände eiskalt wurden. Sophie schien es mitzubekommen und sprach mich besorgt an.
„Alles ok? Deine Hände sind ganz kalt.". Ich nickte abwesend und versuchte mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Die vielen Menschen und verschiedenen Stimmen waren gerade nicht hilfreich. Meine Gedanken schrien mich an. JETZT REIß DICH ZUSAMMEN, V!
Ich spürte das Zwicken an meinem Arm und schaute überrascht hinunter. Sophie kniff in meine Haut und schaute mich abwartend an.
„Mir hilft das in solchen Momenten immer." rief sie mir entgegen, in dem Versuch, die lauten Boxen und schreienden Menschen zu übertönen. Mir half es scheinbar auch. Ich war wieder ganz da und spürte das Blut in meinen Körper zurückfließen.
„Fuck, was war das denn..." meine Stimme war nur ein nicht hörbares Flüstern. Sophie näherte sich mir.
„Sollen wir raus gehen? Brauchst du Luft?"
„Es geht schon wieder, danke!" rief ich ihr nun auch zu. Ich schüttelte mich einmal, um alle Gedanken und Empfindungen von eben loszuwerden. Genau im richtigen Moment, denn die Stimmung auf dem Konzert nahm wieder zu und Volkan heizte das Publikum zunehmend an. Ich bekam in den letzten Wochen mit, welche Mühe er sich in der Planung der Konzerte gemacht hatte. Tagelang war er im Büro und hat sich beraten lassen, was möglich war. Das Ergebnis war Pyrotechnik und ein ausgefallenes Bühnenbild. Spätestens an dieser Stelle standen alle Menschen und bewegten sich. Sophie und ich sprangen mit den Menschen um uns herum und sangen laut mit. Ich vergaß tatsächlich, wenn ich die Augen schloss, wer da eigentlich vor uns stand und sang. Ich kippte den letzten Schluck meiner Gin-Tonic-Improvisation und auch Volkan läutete den Schluss seiner Show ein. Er stand vollkommen verschwitzt, ohne Shirt auf der Bühne und bedankte sich gerade bei seinen treuen Fans. Ein letztes Mal erklang Roller und er öffnete seine Arme zum Publikum und genoss den Gesang und die Rufe. Nun traf sein Blick gezielt meinen. Mir schlug es die Röte ins Gesicht und ich lächelte ihn schüchtern an. Er verbeugte sich noch einmal und verließ die Bühne unter tobendem Applaus. Nichts war schief gegangen, alle Töne hatten gepasst und er schien so zufrieden. Sophie und ich liefen entgegen der Menschenmassen nach vorn zur Absperrung und warteten auf eine Person vom Security, um uns rüber helfen zu lassen. Wir hielten unsere Backstagepässe vor, doch sie ließen den Mann vor uns recht unbeeindruckt.
„Schön, aber es ist noch zu früh. Die Halle ist noch zu voll und Apache ist gerade erst von der Bühne. Ihr könnt in ner halben Stunde nach hinten.".
„Wie bitte?" ich schien ihn tatsächlich nicht verstanden zu haben. Er verschränkte seine Arme vor der Brust und baute sich gekünstelt vor uns auf.
„Wir haben doch die Pässe, wir kommen doch von hinten, wir wollen jetzt zurück."
„Ja und das ist ja schön für euch, aber es geht eben jetzt nicht. Kapische?".
Ich öffnete ungläubig den Mund, um ihn gleich wieder zu schließen. Diskutieren schien mit diesem Mann keinen Sinn zu haben.
Hinter mir hörte ich die Stimme eines der jungen Mädchen, die sich an uns richtete.
„Da scheint dein Kabelmann nicht sehr hilfreich gewesen zu sein. Wir versuchen noch Apache abzufangen an dem Seiteneingang, kommt doch mit, vielleicht habt ihr da mehr Glück." Ich konnte nicht einschätzen, ob sie es nett meinte oder uns komplett verarschte. Sophie schaute mich schulterzuckend an, was für mich genug Überredung bedeutete, dass wir uns auf das kleine Experiment einließen. Sophie lief noch schnell an die Bar und holte uns einen Drink für die Wartezeit.
Es hatte sich ein wenig abgekühlt und die Luft tat gut, nach der doch sehr aufgeheizten und stickigen Luft im Innenraum. Ich atmete tief durch und zog meine Zigaretten aus der Tasche, um Sophie und mir eine anzuzünden. Wir liefen den beiden Mädchen hinterher und blieben vor dem Seiteneingang, durch den wir heute Abend bereits reingekommen sind, stehen. Sophie und ich unterhielten uns, während um uns herum die Spannung bei den Wartenden stieg. Es kamen immer mehr junge Frauen, die sich lautstark über das Konzert austauschten und ihrer Fantasie, was heute noch passieren könnte, freien Lauf ließen. Gerade als wir einen Moment zu lange warteten und mir die Lust an dem kleinen Spiel verging, öffnete sich die Tür und Volkan trat in Begleitung von Hakan, Johannes und zwei seiner Schützer aus der Tür. Er lächelte den Umstehenden entgegen und bedankte sich für den Support. Sein Blick glitt durch die kleine Traube um ihn herum und er blieb an uns hängen. Kaum merklich zog er die Augenbrauen zusammen und schaute schnell weg zu der ersten Person, die ihn umarmte und ein Foto mit ihm schoss. Er zog das weiße T-Shirt glatt und richtete seine Ketten. Immer wieder nahm er seine typische Körperhaltung ein und lächelte der Kamera entgegen. Je häufiger ich ihn so posieren sah, desto mehr fehlte mir sein echtes Lachen. Wenn er sich wahrhaftig über etwas freute oder so lustig fand, dass sich sein Atem überschlug. Sophie und ich waren scheinbar die nächsten in der Schlange und ich drückte mich an den anderen vorbei zu Volkan. Er beugte sich zu mir, um mich zu umarmen, dann legte er seine Hand in meinen Rücken und hielt seine Pose in Richtung Sophie, die ein Bild von uns machte. Volkan ließ sich überhaupt nichts anmerken, die Professionalität hatte er vollkommen drauf. Ich strahlte ihn an und bedankte mich für das Bild.
„Klar, gerne. Deine Freundin auch noch?"
„Ja, gerne. Wenns dir keine Umstände macht."
Sophie und ich wechselten die Positionen und sie posierte ziemlich albern neben ihm, bis ich einige Fotos schoss und sie wieder zu mir lief. Die Nächsten rückten gleich nach und schmiegten sich an Volkan, immer in der Hoffnung auf das perfekte Foto mit ihm.
„Gut, ich glaub wir habens. Danke, dass ihr gekommen seid heute und für eure Unterstützung. Ohne euch wäre das alles nicht möglich, ich weiß das echt zu schätzen. Kommt alle gut Heim und bis bald.". Er winkte noch einmal in die Runde und verschwand wieder hinter der großen Eisentür. Langsam löste sich die Fangruppe auf und Sophie und ich liefen auf den Mann in der Neonweste zu, hielten ihm unsere Pässe unter die Nase.
„Wenn ihr Backstagetickets habt, warum habt ihr hier die ganze Zeit gewartet." Er schüttelte genervt den Kopf und zog die Tür für uns auf. Wir hatten den Weg zum Backstage nun doch endlich gelernt und kamen gerade im richtigen Moment in den Raum, als angestoßen wurde. Musti hielt uns schnell zwei Gläser hin und ich trank die kalte Flüssigkeit in einem Zug. Erst, als der Becher leer war und ich absetzte, traf mich das Brennen in meiner Kehle. Vodka. Ich verzog das Gesicht und musste heftig husten. Ich merkte ein leichtes Klopfen auf meinem Rücken, was, je mehr ich hustete, stärker wurde. Als ich mich endlich wieder beruhigt hatte, schaute ich auf und sah Sasans besorgte Augen. Sein Klopfen war nun ein beruhigendes Streicheln geworden.
„Geht's wieder?"
„Jaja, alles gut. Ich trinke nur nicht so gern Vodka."
„Dafür hast du aber fleißig den Becher geleert." grinste er mir entgegen. Volkan stellte sich zu uns und schaute abwartend zwischen uns hin und her.
„Was machen denn die Fans von draußen hier drin?!" gekünstelt hob Volkan seine Stimme und brachte mich zum lachen.
„Ich hab mir schon Sorgen um.. euch gemacht, als ihr nach dem Konzert nicht zurückgekommen seid. Ich habe so viele Fragen, aber erst einmal... wieso!?". Er stieg in mein Lachen ein, ignorierte Sasan, der uns komplett verwirrt ansah.
„Der Typ von der Security hat uns nicht zurückgelassen nach der Show und dann sind wir außenrum. Haben die Gelegenheit gleich fürn Bild genutzt."
„Weißt du wie schwer es war, mir das nicht anmerken zu lassen?! Hakan kam auch gar nicht klar. Der musste sich zwischendurch wegdrehen vor Lachen. Vor allem bei Sophies Posen war komplett vorbei." berichtete er. Mein Blick ging hinüber zu Sophie und Hakan, die sich unterhielten. Wahrscheinlich erzählte sie ihm gerade auch die ganze Geschichte.
„Tut mir leid, aber das wars wert. So jetzt erzählt mal, wie ist der Plan?" wandte ich mich neugierig an die beiden. 
Noch während Sasan und Volkan berichteten, wo es hinging, entstand eine Aufbruchstimmung in dem Raum und alle griffen nach ihren Sachen und noch halbvollen Flaschen für den Weg. In Lichtgeschwindigkeit teilten wir uns auf die Autos auf und fuhren zu dem kleinen Club, der für heute gemietet wurde. In dem Kleinbus wurden weitere Flaschen geöffnet und es schien scheißegal, dass der Fahrer und das Auto nur gemietet waren, alle rauchten und sangen laut zur Musik mit. Während noch die Playlist für die nächsten 40 Minuten ausgesucht wurde, begann Musti die Aufmerksamkeit auf sich lenken zu wollen.
„Ok Leute, hört zu. Ich hab noch nie... beim Pissen versehentlich meine Schuhe getroffen.". Schweigen. Nur Musti setzte seinen Becher an und trank,  bis wir laut über sein Geständnis lachten. 
„Fickt euch, echt! Ok, Hakan, mach weiter."
„Ach man, keine Ahnung...". Hakan zeigte deutlich seine Unlust, ein Spiel zu spielen.
„Jetzt los, sei nicht son Spielverderber.". Musti war wirklich hochmotiviert und deutete spielerisch einen Schlag gegen seine Schulter an.
„Na gut, lass mich kurz denken. Ich hab mir noch nie jemanden aus diesem Auto nackt vorgestellt.". Alle tranken. Ein Raunen ging durch den kleinen Bus.
„Vielleicht sollten wir jetzt zu Wahrheit oder Pflicht wechseln, damit wir noch rauskriegen, wer sich wen vorgestellt hat." Johannes, der vorn neben dem Fahrer saß und nicht wirklich im Geschehen war, schaltete sich dazu. Hakan wackelte herausfordernd mit den Augenbrauen und schaute zu Volkan.
„Jetzt du, Bruderherz.".
„Is nich erst Sophie dran? Geht doch reihum?"
„Ach Reihenfolge ist doch egal, hau raus.". Hakan schien nun doch Spaß an diesem Spiel gefunden zu haben.
„Alles klar. Ich hab noch nie einen Popel gegessen."
„Buuuuh" hörte man es vom Beifahrersitz ertönen. „Was Jugendfreieres ist dir auch nicht eingefallen, oder"? Volkan grinste und trank freiwillig einen großen Schluck aus seinem Plastikbecher.
„Is ja gut. Ich hab noch nie...Sex in Öffentlichkeit gehabt.". Er trank selbst einen Schluck und beobachtete alle um sich herum. Auch ich setzte an.
„Ok und jetzt muss jeder sagen, was der krasseste Ort war.". Musti war total euphorisiert und übernahm quasi die Moderation des Spiels.
„Ich fang direkt an. Im Supermarkt" berichtete Musti stolz.
„Was?!" es platzte einfach aus mir heraus.
„Ja! In sonem schmalen Gang zwischen den Regalen".
„Wurdest du erwischt?".
Musti begann bereits zu schmunzeln.
„Vielleicht... und nur vielleicht habe ich lebenslang Hausverbot in einem Rewe in Hamburg.". Alle lachten laut mit ihm mit.
„V, was ist dein Ort?". Ich überlegte und passte meine Mimik entsprechend an.
„Im Kino. War komplett leer, während nem Horrorfilm in der letzten Reihe. Ich kanns aber nicht empfehlen. Ich hab mich im Gegensatz zu dir aber nicht erwischen lassen, du Anfänger.". Musti verschluckte sich fast an seinem Drink und guckte mich gespielt böse an.
„Jetzt du, Sophie."
„hmm, ich bin nicht so für draußen... aber ich hatte mal was an einem See, aber kein Sex."
Volkan schaltete sich ein und übernahm den Fokus.
„Ich hatte mal was in sonem Fotoautomaten an der Bahn. Und auf nem Riesenrad!". Ich schaute Volkan überrascht an. Dass er auf Sex in der Öffentlichkeit stand, passte in meinem Kopf überhaupt nicht mit seinem Leben zusammen. Er konnte nicht mal allein einkaufen gehen und setzte sich dann einem Risiko aus, beim Sex erwischt zu werden. Aber vielleicht war es genau das, was den Reiz ausmachte.
Wir verbrachten den Rest der Zeit noch mit weiteren Spielen und Offenbarungen, bis uns der Fahrer in einer Nebenstraße der Location absetzte. Ein leichtes Grinsen legte sich auf seine Lippen, als er uns die Schiebetür öffnete. Er hatte also zugehört. Aber wer hätte das denn auch nicht.

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt