75. Und falls doch?

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Volkan

An jedem weiteren Tag verschlechterte sich meine Stimmung und immer wieder ging ich den letzten Abend durch, an dem ich V sah. Ich bekam ihre traurigen Augen einfach nicht aus meinem Kopf. Mir fiel leider auch mit mehr Zeit kein besserer Plan ein, sie nochmal zum Reden zu bewegen, als ihr Zeit zu geben. Für einen Anruf war ich zu feige. Irgendwann musste ich mir eingestehen, dass ich keine Chance hatte. Ich hatte es schlichtweg versaut.
Ich zog mich auf der weiteren Tour zurück, als würde jede weitere Stadt, jedes weitere Konzert, mir mehr und mehr den Antrieb nehmen. Wenn Aftershows oder Backstagepartys anstanden, versuchte ich mich zu drücken und verzog mich ins Zimmer oder in den Bus. Wenn ich mich nicht drücken konnte, setzte ich mich in eine Ecke und trank zu viel Alkohol. Oft waren dies die Momente, in denen das Verlangen ihre Stimme zu hören am größten waren und Johannes oder Hakan wie Wachhunde auf mich aufpassten. In den Nächten, in denen es zu schlimm wurde, kroch ich zu meinem Bruder ins Bett... wie damals. Ich konnte und wollte dann einfach nicht allein sein.

Nach dem gestrigen Konzert in Hannover entschieden wir, nicht direkt nachts noch nach Rostock zu fahren, sondern eine Nacht im Hotel zu schlafen und ein bisschen zu entspannen. Nach wieder nur fünf Stunden Schlaf blieb ich in dem warmen Bett liegen, verschränkte die Arme hinter meinem Kopf und starrte minutenlang an die Decke.
Das Piepen der Zimmertür zog für einen Moment meine Aufmerksamkeit auf sich und kommentarlos beobachtete ich, wie Sasan, Johannes und Tuna ins Schlafzimmer gelaufen kamen.

„Wieso bist du schon wach, es ist erst sieben?" Tuna wirkte mehr als überrascht. Ich zuckte meine Schultern und suchte nach einer plausiblen Ausrede.
„Ausgeschlafen, schätze ich."
„So sehen deine Augenringe aber nicht aus, Digga."
„Na ein Glück trag ich ne Brille. Drauf geschissen."
„Mein Gott, so empfindlich heute wieder." Tuna lief wieder aus meinem Schlafzimmer in den Wohnbereich und schien sich eine Zigarette vom Tisch zu nehmen. Ich konnte nur die Augen rollen.
„Naja so ganz Unrecht hat er nicht. Seit paar Tagen bist du echt gereizt man. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich dir geraten, mal wieder zu ficken." Sasan lachte aufgesetzt laut, während er sprach. Ich konnte es einfach nicht mehr hören. Aber halt...
„Wie meinst du, hättest du es nicht besser gewusst?" ich setzte mich nun etwas auf und schaute ihn fragend an. Ich spürte auch Johannes Blick auf mir, wir wollten scheinbar beide eine Antwort darauf haben.

„Naja... dings... Ich weiß das mit Charlie. Sorry, sie meinte ich soll so tun, als wüsste ich von nichts.. Aber ich muss schon sagen, ich hätte eigentlich erwartet, dass du mir das erzählst. Vor allem, wenn du sie deswegen einfach rausschmeißt. Du sagst doch immer: Never fuck the company. Jetzt machst du es selbst und..."
„Wie bitte?" Johannes kam mir zuvor und unterbrach Sasan, trat einen Schritt näher und setzte sich für das Gespräch auf meine Bettkante.
„Fuck. Du hast es niemandem erzählt, oder?" Sasans Blick wechselte panisch zwischen mir und Johannes.
„Warum Charlie entlassen wurde, geht niemanden was an. Wieso bist du eigentlich auf ihrer Seite? Warum redest du nicht mit uns?!". Johannes schien seine Frage zu ignorieren.
„Ich hab mich voll gut mit ihr verstanden von Anfang an, konnten gut quatschen. Und fands auch voll süß, wie ihr euch beide angenähert habt, sie hat mir dann immer erzählt, was so los ist. Also, ist ja nicht von der Hand zu weisen, dass ihr euch gut verstanden habt... Und seit dem Abend in dem Club und seitdem sie weg ist bist du nur noch mies drauf." Sasan atmete tief durch und schien seine Worte zu sortieren.
„Hol sie doch einfach wieder ins Team, wenn sie dir so fehlt. Ist doch nichts bei. Vielleicht ist fuck the company doch nicht so schlecht. Ich mach auch keine dummen Sprüche, versprochen." Sasan lächelte mich sanft an, während er sprach. Er meinte es also wirklich so. Er dachte wirklich, dass ich Gefühle für Charlie hatte. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen und schüttelte nur immer und immer wieder den Kopf. Wie verstrickt konnte diese ganze Sache nur sein. Was sollte ich denn jetzt dazu sagen. Das mit V wollte ich nicht erzählen. Jedenfalls nicht, solange ich jedes Mal den Tränen nah kam und mich selbst so sehr hasste.
„Ich vermisse Charlie nicht und ich will sie auch nicht zurück. Sie ist zurecht gegangen, alles klar?!" meine Stimme hatte sich erhoben und war schon ein My zu emotional geworden.
„Ist ja gut. Kannst ja machen, was du willst. Sorry, ich hätte gleich mit euch reden sollen, glaub ich.". Es breitete sich eine Stille im Schlafzimmer aus, bis Tuna sich räusperte. Er stand im Türrahmen und schien etwas peinlich berührt.
„Volkan, eigentlich wollten wir dich zum Frühstück abholen. Die anderen sitzen schon und warten, Hakan hat gerade schon angerufen und gefragt, wo wir bleiben."
Ich strampelte mich von der Decke frei und lief ins Bad. Ich konnte mir kaum in meine eigenen Augen sehen im Badspiegel. Alles brachte mich in diese verficke Nacht zurück. Mit beiden Händen sammelte ich das kalte Wasser aus dem Hahn und versank mein Gesicht darin, als würde es die Schuld aus meinem Blick waschen.

„Morgen" sagte ich etwas beiläufig, als ich im Frühstücksbereich an den mir bekannten Gesichtern vorbeilief. Noch bevor ich mich setzte, bog ich ab und machte mir einen Kaffee am Vollautomaten und befüllte den ersten Teller. So richtig Appetit hatte ich nicht und doch blieb ich an jedem zweiten Tablett stehen und tat mir etwas auf. Ich setzte mich an einen freien Tisch etwas abseits von den Jungs und begann mit der Gabel in meinem Essen zu stochern.
„Darf ich?" Johannes stand mit seinem Teller und der Kaffeetasse vor mir und deutete mit seinem Blick auf den leeren Platz vor mir. Ich nickte ihm mit vollem Mund entgegen, wich jedoch sofort wieder seinem Blick aus.
„Willst du den anderen nicht einfach erzählen, was los ist? Sie sind doch auch deine Freunde...". Ich hörte kurz auf zu kauen, schaute zu Johannes und schüttelte doch schnell den Kopf.
„Ernsthaft. Wir halten seit über 15 Jahren immer zusammen, warum nicht bei V?" er senkte seine Lautstärke doch dröhnte ihr Name in meinen Ohren, als hätte er ihn durch einen Lautsprecher gebrüllt.
„Wozu? Es ist vorbei." Ich klang kühler als gewollt.
„Damit die anderen mal checken, warum du so drauf bist?! Du siehst doch was passiert und auf was für Ideen sie kommen. Du kannst so unfassbar dickköpfig sein manchmal, das ist unglaublich. Es könnte vielleicht helfen, mehr darüber zu reden als nur mit Hakan und mir, meinst du nicht? Und mit uns sprichst du ja auch nicht wirklich. Du sitzt rum wie ein Trauerklos oder drehst unkontrolliert durch". Er redete auf mich ein und ich spürte die Wut in mir aufkommen. Ich wollte weg von hier und diesem Gespräch entgehen.
Mir zusammengepressten Zähnen zwang ich die Worte aus meinem Mund.
„Ich will nur, dass dieses Scheißgefühl endlich weggeht."
„Aber das wird es nicht, wenn du schweigst und es weiter in dich hineinfrisst.". Johannes beugte sich über den Tisch zu mir und versuchte durch die Brillengläser meine Augen zu finden, in denen sich mittlerweile Tränen bildeten.
„Bitte hör auf..." er quälte mich. Eigentlich quälte ich mich selbst.
„Lass uns kurz vor die Tür gehen, ok?" er wartete nicht auf meine Reaktion und erhob sich von dem weißen Plastikstuhl. Wir liefen in den kleinen Garten im Hinterhof des Hotels und setzten uns auf eine Bank. Schnell zog ich die Kippenschachtel aus der Hosentasche, immer ein guter Weg, etwas abgelenkt zu sein.
„Du weißt, du bist wie ein Bruder für mich und ich kann langsam nicht mehr mit ansehen, wie dreckig es dir geht."
„Ich kriegs einfach nicht geschissen, man. Die ganze Zeit habe ich diese Last auf meinen Schultern und will nur noch alleine sein. Ich will es den anderen nicht erzählen. Wie stehe ich denn dann da?! Sie würden so viele Fragen stellen und ich würde voll an die schönen Zeiten mit ihr zurückdenken. Ich pack das nicht, wirklich."
„Jetzt denkst du doch auch an die schönen Zeiten zurück. Und so hätten sie vielleicht ein bisschen mehr Verständnis für deine ständigen Ausbrüche. Wir lieben dich doch alle, keiner will dir was böses." Wir schauten beide nur geradeaus und seine Worte taten weh. Ich konnte es nicht anders sagen. Immer wieder schluckte ich schwer, um den Kloß im Hals loszuwerden.
„Ich schaffe es einfach gerade noch nicht darüber zu reden. Ich kriege sie nicht aus meinem verfickten Kopf."
„Schon gut, es war ja nur eine Idee, du musst nicht. Aber vielleicht täte dir ein bisschen Ablenkung ganz gut?" er sprach nur zaghaft.
„Was meinst du?"
„Dich mal wieder bisschen fallen lassen. Ich meine... jetzt nicht mit irgendeiner poppen, aber einfach auch schöne Momente genießen. Vielleicht nach der Tour. Lass uns bisschen rausfahren, vielleicht nach Mannheim, bisschen gewohnte Umgebung, zurück in unsere Jugend."
Ich ließ mir seine Idee einen Moment durch den Kopf gehen, als Johannes bereits fortsetzte.
„Lass uns das spontan entscheiden. Erstmal steht Freitag das Tourende in Berlin an. Dann ist vielleicht schon mal ein bisschen mehr Ruhe drin. Und was danach ist, entscheiden wir dann, ok?" wieder nickte ich nur und zog kräftig an der Kippe.


„Ähm... Johannes, glaubst du, du könntest, wenn wir wieder in Berlin sind... naja... ein paar Tage bei mir schlafen? Ich glaube es wird richtig komisch nach der Tour und all dem mit... V... naja alleine zu sein. Ich hab Angst davor. Hakan will ich nicht fragen, der hat schon erzählt, dass Sophie direkt zum Konzert kommt und dann auch erstmal ne Woche bei ihm bleibt."
„Was für ne Frage, klar. Kein Problem."
„Danke...". Johannes schlug sachte mit seiner offenen Hand auf mein Bein, seine Art, Menschen Zuneigung zu geben. Er war nie der große Umarmer. Einige Minuten saßen wir auf der Bank und rauchten eine weitere Zigarette.
„Ich weiß, is n dummer Gedanke... aber glaubst du, sie könnte trotzdem zum Konzert Freitag kommen?" dieser Satz von Johannes brachte mich ins Grübeln. Natürlich hatte ich mir vorgestellt, wie ich sie im Publikum erblicke und sie mich anlächelt. Wie ich sie ins Backstage holte und wir voreinander standen, uns anlächelten und dann in die Arme fielen. Ich hatte hunderte, wenn nicht sogar tausende dieser Tagträume, in denen sie mir vergab und wir wieder zusammenkamen. In denen alles wieder gut war. Doch jedes Mal traf mich die Realität und meine Vorstellung wurde umso schmerzhafter. An manchen Tagen waren aber die Tagträume die einzige Möglichkeit in den Schlaf zu finden und mich über Wasser zu halten.
„Ne... ich glaube nicht."
„Und falls doch?"

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt