42. Die Gerüchteküche brodelt

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V

Es war der erste Tag nach meiner Krankschreibung, dass ich wieder im Büro war. Es fühlte sich merkwürdig an, nach all den Wochen wieder durch die Flure in mein Büro zu gehen, doch die anderen hatten mich lieb empfangen und auch meinen Schreibtisch etwas geschmückt und kleine Aufmerksamkeiten besorgt. Ich war ohnehin den Tag über schon etwas emotional und konnte bei dieser Aufmerksamkeit kaum meine Rührung zurückhalten.

Auch Toni, mein Kollege, der gern mehr sein wollte als das, nachdem er vor einigen Wochen ein wenig zu tief ins Glas geguckt hatte und ziemlich unangemessen wurde, sah ich etwas zurückhaltend in der Ecke stehen. Als unsere Blicke sich trafen, zuckten seine Mundwinkel nach oben, als wollte er austesten, ob wir noch nett zueinander sein könnten. Ich schaute einfach weg.
Die viele Aufmerksamkeit wurde mir zunehmend unangenehm und ich setzte mich an meinen Schreibtisch, um endlich die Arbeit der letzten Wochen in Angriff zu nehmen. Eine Nachricht meiner Kollegin und mittlerweile auch Freundin Hannah ploppte über das Nachrichtenportal auf meinem Bildschirm auf.

Hannah: Schön, dass du wieder hier bist, Süße. Gehen wir Lunchen? Oder lieber Abendessen und Wein?

Eve: Ich arbeite den Mittag heute durch. Jonathan und Chris haben irgendwas geplant für heute Abend, kommst du mit?

Hannah: Ich frag die gleich mal, was der Plan ist. Komme auf jeden Fall mit!

Um 18 Uhr fuhr ich den PC herunter. Ich war erschöpft, obwohl die Aufgaben von heute in einer anderen Situation weniger kräftezehrend gewesen wären. Ich beseitigte das Chaos auf meinem Schreibtisch, sammelte sämtliche Gläser und Tassen ein und beobachtete, wie Hannah gerade zurechtgemacht aus dem Badezimmer lief. Mit ihrer Tasche und der dünnen Jacke über dem Arm, stand sie lächelnd vor mir. Auch ich suchte noch einmal den Weg ins Bad, um wenigsten die Haare, die ich vor wenigen Stunden in einem losen Zopf gebunden hatte, ein wenig zu richten.  Im Bad zog ich auch erstmalig mein Handy aus der Tasche und sah dann auch Volkans Nachricht und ein Selfie von ihm aus dem Tourbus. Ich vermisste ihn schon jetzt und sein Gesicht zu sehen, brachte mir ein kleines Lächeln. Es waren nur noch zwei Stunden bis zu seiner ersten Show und zu gern wäre ich an diesem Tag bei ihm gewesen. Ich hätte wahrscheinlich nur im Weg herumgestanden und hätte ihn durch meine Aufregung noch nervöser gemacht, doch wäre ich gern als Unterstützung an seiner Seite gewesen.

V 18:04 : Seid ihr gut angekommen? Hab den ersten Tag auf Arbeit geschafft und gehe mit Hannah und ein paar Kollegen noch was essen. Bist du schon aufgeregt?

Volkan 18:04 : Sind im Backstage und machen entspannt. Freue mich übertrieben aber auch nervös, wenn ich ehrlich bin. Wie war die Arbeit?

V 18:04 : Du wirst sie alle umhauen! Freue mich schon auf die ganzen Videos von dir aus jeder Perspektive der Arena...
V 18:05 : War gar nicht so schlimm, wie gedacht. Bin aber ganz schön müde geworden. Ich geh mal los zum Essen. Hab ganz viel Spaß und genieß deinen Moment. Bin bei dir

Volkan 18:06: Danke! Lasst es euch schmecken, bis später, Baby

Zufrieden, dass ich ihn noch vor seinem Konzert erwischt hatte, steckte ich das Handy zurück in die Lederhandtasche. Mir wurde schlagartig klar, dass so wahrscheinlich jeder Tag ab jetzt aussehen würde. Und genau so klar wurde mir auch, dass ich es nicht immer rechtzeitig schaffen würde anzurufen oder zu schreiben. Unzufriedenheit machte sich in mir breit, doch bevor ich mir meine eigene Laune verderben konnte, legte ich etwas Lippenstift auf und verließ das Bad. 
Wir gingen zu viert zu einem kleinen Italiener ein paar Straßen weiter und stießen auf meine Wiederkehr im Büro und die für mich etwas überraschende Verlobung von Chris und seinem langjährigen Partner an. Etwas blumig erzählte er mir von dem Antrag und seinen Plänen für die Trauung im kommenden Jahr. 
Nachdem ich die gesamte Pizza verdrückt und jedes Detail der Hochzeitsplanung gehört hatte, drehte ich mir am Platz eine Zigarette und ging mit Hannah an die Luft. Es wurde immer wärmer, die kalten Tage waren endlich überstanden.

Hannah schaute mich etwas prüfend an, während ich an meiner Zigarette zog.

„Hm?" Ich blies den Rauch im hohen Bogen aus und merkte ihren Blick auf mir.

„Naja... ich dachte, jetzt wo wir kurz alleine sind, kannst du ein bisschen freier erzählen. Die Gerüchteküche brodelt ja heftig.". Sie kicherte und hielt sich die Hand vor den Mund. 

„Was meinst du Hannah?" irritiert schauten wir uns gegenseitig an. 

„Naja, Toni hat vor ein paar Wochen erzählt, dass dein Freund dich nach der Arbeit abgeholt hat... Und er meinte, er ist nicht ganz unbekannt. Ich bin wahnsinnig neugierig, V. Ich wusste nicht einmal, dass du datest?" flüsterte sie euphorisch, dass es kaum noch ein Flüstern war.
Jetzt fiel auch der Groschen bei mir. Toni hatte Volkan und mich vor dem Büro gesehen und scheinbar nicht den Mund halten können. Klasse. 
Kurz überlegte ich, wie ich mich aus der Sache hätte rausreden können, doch wollte ich Hannah nicht belügen. Sie war eine Freundin und konnte definitiv besser schweigen als Toni. Zögerlich suchte ich Worte. 

„Also...Damals waren wir nur Freunde, als Toni uns da gesehen hat. Aber wenn ich ehrlich bin, sind wir seit ein paar Wochen...ein Paar.". Ich schmunzelte wie eine vierjährige, die zwei Personen knutschen sah und den Blick nicht abwenden konnte. Ich erzählte Hannah ein wenig von Volkan und unserer, wenn auch bisher kurzen Zeit zusammen, machte jedoch auch deutlich, dass das zwischen uns bleiben musste. Es fühlte sich jedes Mal komisch an, über meinen neuen Partner zu sprechen und gleichzeitig um Verschwiegenheit zu bitten. Beides Dinge, die ich mir nie hätte vorstellen können, mit meinen Freunden zu besprechen. Hannah lauschte gespannt meinen Erzählungen und kommentierte zwischendurch nur mit einem oh oder ach wie süß. So war das also, wenn man Leuten von einer neuen Partnerschaft berichtete, ich vergaß. 
Ich hatte meine Zigarette schon lange aufgeraucht, bis wir wieder an den Tisch zu den anderen gingen und noch eine weitere Runde Wein bestellten. Das Gespräch ging wieder zurück zu der Hochzeitsplanung und über zu der nächsten gebuchten Reise von Jonathan nach Vietnam in wenigen Wochen. 

Am Ende des Abends verabschiedeten wir uns vor dem Lokal voneinander. Hannah blieb noch einen Moment und ließ sich die Geschichte mit Volkan noch einmal ausführlicher berichten, während sie Fragen über Fragen stellte. Je mehr ich über ihn sprach, desto mehr fehlte er mir und ich hatte das große Bedürfnis, ihn zu hören. Hannah sprach natürlich auch Punkte an, die ich bislang immer wieder erfolgreich verdrängen konnte und mit denen ich mich einfach nicht beschäftigen wollte. 
Als auch wir den Heimweg antraten, nahm ich mein Handy aus der Jackentasche. 23:17 Uhr.
Kurz überlegte und rechnete ich, ob er schon mit dem Auftritt durch sein konnte. 

Ich rief ihn direkt an und wartete sieben Freizeichen ab, bis seine Mailbox ansprang und ich auflegte. In der U-Bahn durchforstete ich die Beiträge, auf denen er den Abend über markiert wurde. Und es machte mich sprachlos. Was für eine Show er ablieferte. Seine Stimme war der Wahnsinn und als ich das Video entdeckte, in dem er sein T-Shirt auszog und oben ohne performte, biss ich mir auf die Lippe und dachte an den Rest seines Körpers. Diese zwei Personen, der Volkan, der hier auf den Videos zu sehen war und vor tausenden Menschen sang und der Volkan, der mit mir im Bett lag und für mich ganz normal war, passten einfach nicht zusammen. Die Kopfhörer in meinen Ohren spielten seine Musik und ich verpasste fast meine Station.
Zu Hause angekommen nahm ich eine heiße Dusche und schlüpfte in Volkans T-Shirt, dass er vor ein paar Tagen noch getragen hatte. Ich sog seinen Duft ein und vergrub meinen Kopf im Kissen, um die Sehnsucht nach ihm irgendwie verarbeiten zu können. Immer wieder drehten meine Gedanken um Volkan und eine erst noch kleine Sorge wurde immer und immer größer. Es fiel mir schwer, ohne Bedenken an die After-Showparties zu denken und malte mir Szenarien aus, die mein Herz verletzten. Ich steigerte mich immer mehr in diese Gedanken, malte mir aus, wo er gerade war und was er machte und suchte nach der Erlösung, endlich etwas von ihm zu hören, während die Tränen seitlich mein Gesicht herunterliefen und in das Kissen sickerten, bis ich einschlief. 

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt