77. DAS hier

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Volkan, einige Tage später

Ich bekam den Gedanken von Johannes nicht aus dem Kopf. Ob V vielleicht trotzdem zum Konzert kommen würde? Vielleicht nicht mehr als Teil der Crew, aber vielleicht im Publikum? Ich versuchte die Vorstellung abzuschütteln, um letztlich nicht von der Enttäuschung überrumpelt zu werden.

Wir hatten mittlerweile die letzten Shows hinter uns und packten die Koffer für unser letztes Ziel in Berlin. Ich freute mich darauf, wieder in meinem eigenen Bett zu schlafen und mehr Zeit für mich zu haben. Doch bedeutete das auch mehr Zeit allein zu sein, nicht permanent die Ablenkung nebenan zu haben und wieder im Alltag anzukommen.
Ich sammelte die verstreute Kleidung im Bus zusammen und presste alles in die drei Reisetaschen, die ich zu Beginn der Tour gepackt hatte. Es war zwar nur ein Monat, doch kam mir die Zeit im Nightliner und den verschiedenen Städten Deutschlands deutlich länger vor.

„Klopf, Klopf" mein Bruder stand an der Treppe zu den Schlafabteilen und lächelte mich an.
„Ja?"
„Wir sind unten soweit fertig, da lag nichts mehr von dir. Willst du deinen Wagen selbst zurück nach Berlin fahren, oder soll einer von uns?".
„Ne, ich fahr schon. Hast du Bock mitzufahren?"
„Klar, kann ich machen. Du musst mich aber Hauptbahnhof absetzen, ich hole direkt Sophie ab.". Ich merkte Neid in mir aufstoßen. Ich wollte es ihm wirklich von Herzen gönnen und das tat ich auch -irgendwie-, aber warum bekam er seine gottverdammte Lovestory. Warum schafften sie es, so glücklich sein und zu bleiben?! Weil dein Bruder im Gegensatz zu dir treu bleiben konnte.
Diese verschissenen Gedanken machten mich fertig. Ich schüttelte kaum sichtbar den Kopf und schnappte mir zwei der drei Taschen, um sie in meinen Wagen zu bringen.

Nachdem ich Hakan am Bahnhof abgesetzt hatte, fuhr ich schnell in meine Wohnung, um die Reisetaschen schon mal abzulegen. Heute nach der Show war mal wieder eine riesige Party zum Abschluss geplant und ich wusste, ich hätte danach keinen Kopf mehr für die Taschen gehabt; geschweige denn, um Auto zu fahren.
Ich nutzte den Moment, um eine Weile unter meiner eigenen Dusche zu stehen und mich für den Abend in meinem eigenen Bad fertig zu machen. Es fühlte sich merkwürdig an, wieder in meinem Schlafzimmer zu stehen und meine Kleider durchzuschauen. Viel zu sehr hatte ich mich an die kleine Auswahl im Bus gewöhnt. Die Überauswahl überforderte mich fast. 

Ich zog mein weißes Satinhemd aus dem Schrank und schlüpfte in die recht enge schwarze Jeans. Im Spiegel betrachtete ich das Outfit für den Abend. Das Äußere stimmte, ich sah aus wie immer. Doch ich fühlte es nicht. Ich legte zuletzt noch das goldene Armband an, dass ich von V geschenkt bekommen hatte. Es begleitete mich auf jeder Show, so wie sie es damals gesagt hatte.
Da ich wusste, wie die Party heute Nacht aussehen würde, bestellte ich mir einen Wagen zur Arena und mit jedem Meter, den ich näherkam, setzte dieses Kribbeln ein. Diese Vorfreude und leichte Aufgeregtheit, die ich trotz der vielen Shows noch immer hatte.

Ich kannte den Weg ins Backstage mittlerweile auswendig und lief souverän auf die geschlossene Tür zu. Reiß dich zusammen und ziehs durch, Volkan.
Ich setzte mir wieder mein Lächeln auf, öffnete schwungvoll die Tür zum Backstage und blickte sofort in die strahlenden Gesichter meiner Freunde und des Teams. Aufgereiht in einem Halbkreis standen sie um eine riesige Torte herum, auf der mein Gesicht zu sehen war.
„Happy Tourabschluss!!!" riefen sie alle im Gleichklang und aus meinem Lächeln entwickelte sich ein breites Grinsen. Mein Bruder kam bereits mit einem Glas Champagner auf mich zu und begann seine kleine Rede.
„Auf dich, kleiner Bruder. Du hast es wieder mal geschafft und wir blicken auf erfolgreiche und wunderbare Wochen zurück. Ohne dich wären wir heute alle nicht hier." er hob prostend das Glas in meine Richtung. Mir fehlten für einen Moment die Worte.
„Krass. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Danke für alles. Ohne euch wäre ich heute auch nicht hier. Ich liebe euch, auf uns alle!". Es bildete sich eine Traube und die Gläser klirrten melodisch aneinander. Ich drückte alle im Raum nacheinander und versuchte meiner Sensibilität, die ich derzeit nicht gut unter Kontrolle hatte, nicht nachzukommen.
„So, ganz getan ist die Arbeit aber noch nicht, Leute. Wir haben hier noch ein letztes Konzert zu schmeißen. Ready?" den letzten Teil brüllte er fast in die Runde. Hakan klatschte motivierend in seine Hände und ich kippte das Glas in einem Zug. Ich kam kurz ins Überlegen. Alkohol und Texte erinnern passte leider nicht so gut, doch das bisschen Alkohol würde ich gut wegstecken und würde vermutlich sogar beim Lampenfiber helfen. Ein letztes Mal steckte ich den In-Ear-Monitor in die Ohren, nickte Hakan zu, als Zeichen, dass ich soweit war und stellte mich vor die Schattenwand. Tief einatmen.
-
„Wie geil war diese Show, Alter. Ich drehe doch durch!" Musti schrie mir direkt ins Ohr und ich kam langsam von meinem High runter. Wie in einem Wimpernschlag zog die Show an mir vorbei. Ich kannte den Ablauf in und auswendig, traf die meisten Töne und beobachtete meine Fans, die mitsangen und abgingen. Ich war tatsächlich zufrieden.
Mein Blick ging während ich sang immer wieder durch die Reihen. Während ich in all die strahlenden Augen sah, suchte ich immer wieder ein Gesicht, doch fand es nicht. Kein Augenpaar befriedigte dieses Brennen in mir. Ab der Mitte der Show gab ich auf und entschloss meinen Emotionen freien Lauf zu lassen und „Schrei" zu singen. Ein Lied, das mir immer an die Nieren ging und ich eigentlich nie vor Publikum sang. Kurz schoss mir die Idee in den Kopf eine kleine Rede zu halten, falls V doch in den Menschenmengen stand und ich sie einfach nicht sah. Ich wollte so vieles loswerden, doch ich entschied mich dagegen. Zu groß war die Angst vor der fehlenden Rückmeldung und ich würde mich komplett vor meinem Publikum outen.
Noch immer hörte ich meine Fans vor der Bühne meinen Namen schreien, als Hakan mir den Shot zum Anstoßen hinhielt. Ich schloss die Augen und versuchte mir diesen Moment einzuprägen. Für die Tage, an denen ich an mir zweifeln würde, an denen ich alles hinwerfen wollen würde, an denen ich mich einsam und allein fühlen würde.

„Auf dich, Bruderherz" Hakan stieß seinen Becher an meinen und ich fiel ihm in die Arme.
„Danke für alles, Abi. Du bist der Beste." ich nuschelte die Worte in sein Shirt und drückte ihn fest an mich.
„Ich hab dich lieb. Aber jetzt lass uns feiern. Wir haben so hart geackert die letzten Wochen."
Wir packten schnurstracks unsere Sachen und setzten uns in den Wagen, der uns zur Location brachte. Noch während der Fahrt wurde die nächste Flasche Vodka geöffnet und mir schwante schon Böses, was die Vorstellung an den weiteren Abend anging.
Ich war schon gut angesoffen, noch bevor wir überhaupt die Tür des Clubs betraten. Wir entschieden uns dieses Mal gegen eine private Location, doch der VIP-Bereich blieb. Es schien sich rumgesprochen zu haben, dass wir heute hier das Tourende feiern würden, denn nahezu alle Personen im Club drehten sich zu mir, als ich hereinkam. Die Musik setzte einen Moment aus und der DJ empfing mich mit mehr oder weniger warmen Worten. Die Antwort der Menschen vor mir war umso heftiger, denn sie riefen meinen Namen, applaudierten und pfiffen vor Begeisterung.
Wie ging diese Line aus dem Song von KUMMER nochmal? Ich will, dass alle klatschen, ich bin süchtig nach...
„Guck dir das an!!!! Verdammte Scheiße wie geil". Sasan sprang an meine Schulter und brüllte in mein Ohr, riss mich aus meinen Gedanken. Er hatte Recht, es war geil. Wieso war ich schon wieder mit den Gedanken ganz woanders. Ich sollte DAS hier genießen. Ich hob dankend meinen Drink in die Höhe, um ein Anstoßen zu symbolisieren, bis der DJ wieder den Song laufen ließ und alle langsam wieder anfingen zu tanzen. Auch ich bewegte mich etwas zum Beat, zündete eine Kippe an und spürte die sinkende Hemmung in mir. Immer weniger Augenpaare schienen mich zu beobachten und meine Entspannung setzte etwas ein.
„Na wer hat denn da schon wieder ne fette Tour abgerissen?!" die Stimme in meinem Rücken kam mir bekannt vor. In einer Bewegung drehte ich mich um und grinste Baui entgegen.
„FUCK! Was machst du denn hier?"
„Glaubst du, ich lasse mein Wunderkind alleine feiern? Hab's leider nicht mehr Backstage zum Konzert geschafft, waren zu spät dran. Hab aber die Show von der Lounge aus gesehen. Sehr sehr geil.". Er zog mich an sich und flüsterte mir ein „Ich bin stolz auf dich" zu.
„Komm, lass kurz setzen, eine rauchen". Noch während wir uns zu den kleinen Polstern begaben, sah ich, dass er eine Hand hielt und mich etwas beschämt anlächelte.
„Erinnerst du doch noch an Luisa?" mir klatschte die verbale Faust in die Fresse. Bilder schossen in meinen Kopf von dem Abend, als wir zu viert etwas trinken waren. In dieser Nacht hatte ich das erste Mal mit V geschlafen. Schemenhaft kamen mir die Umrisse ihres Körpers in den Sinn, ihr süßer Duft lag für eine Millisekunde in meiner Nase.

„Ähm... ja, klar. Hi. Alles gut?" ich wartete eigentlich nicht auf eine Antwort und hielt ihr meine Hand hin, um sie anständig zu begrüßen. Julian beugte sich etwas zu ihr herunter und sprach ihr ins Ohr, jedoch verstand ich nichts. Er drehte sich wieder zu mir und nickte in Richtung der Sitzecken, Luisa lief in die entgegengesetzte Richtung.

„Sie holt eben was zu trinken. Geht's dir gut? Alles gut überstanden?" er grinste mir mit seinem typischen Lachen entgegen und schlug mit der flachen Hand auf mein Knie.
„Ja, soweit. Waren krass anstrengende Wochen, aber auch schön. Bin krass dankbar für alles."
„Glaub ich dir, glaub ich dir. War wahrscheinlich auch nicht leicht, so weit weg zu sein...?" er schaute mich von der Seite an, als wartete er auf eine passende Reaktion.
„Was meinst du? Von Berlin?"
„Ne... naja...also auch..."
„Ich checks nich, was meinst du?"
„Naja... weißt du noch der Abend, als ich feiern war, als ich dir ein Video geschickt hab?" mich traf der nächste rechte Haken. Gab es nicht einmal eine Minute, in der ich vor diesem Thema aufatmen konnte?!

„Achso..." meine Stimmung schlug instant um, meine Worte eigentlich nur noch traurig.
„Sie meinte eigentlich, ich soll warten, bis du es mir selbst erzählst, aber naja, was soll ich jetzt so tun. Also, wo ist deine Süße?"
Etwas verloren schaute ich in dem Club umher, irgendwie auf der Suche nach einer Rettung aus diesem Gespräch.
„Wir... also sie und ich... sind nicht mehr.".
„Oh. Fuck... tut mir leid. Luisa hat nichts gesagt, sonst hätte ich nicht gefragt. Scheiße, ich mein..."
„Alles gut, schon ok. Luisa weiß es wahrscheinlich noch nicht. Vielleicht sagst du auch nichts.". Ich räusperte mich einige Male.
„Lass uns nicht mehr darüber reden, ok? Erzähl mir lieber, wie es dir geht.". Ich versuchte das Gespräch schnell auf ein anderes Thema zu lenken. 
Julian schaute so peinlich berührt und es schien ihm sichtlich unangenehm, während er begann, irgendetwas von sich zu erzählen, um diesen Moment schnell vorübergehen zu lassen.

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