103. Das hab ich gesehen

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V

Noch immer brannten meine Lippen vor Hitze, obwohl er mich längst nicht mehr berührte. Die letzten Minuten vergingen wie in Millisekunden. Die kurzen Augenblicke zogen noch einmal an meinem inneren Auge vorbei.
Wie er mein Gesicht in seinen Händen hielt und mich zu sich zog.
Wie ich die Augen schloss, als unsere Gesichter sich kaum noch hätten näherkommen können und im nächsten Moment seine vollen Lippen auf meinen spürte.
Wie unsicher wir uns küssten, kaum Druck ausübten, um uns erst einmal zu spüren.
Wie wir einen Moment brauchten, um uns an den Kuss zu gewöhnen und wie schnell wir einen... nein... unseren gemeinsamen Rhythmus fanden.
Wie meine Beine den Halt zu verlieren drohten und ich mich stürmisch an seinem Oberkörper festhielt, mit meinen Fingern über seine Brust fuhr und seinen schneller werdenden Atem spürte.
Wie er zärtlich seine Lippen noch mehr auf meine drückte, ich ihn schmeckte und sanft mit meiner Zunge über seine Unterlippe fuhr.
Wie sich unser Atem vermischte und aus unserem Seufzen und Hauchen eines wurde.
Wie er dann zurückwich, als das Klingeln der Haustür uns aus der Trance riss und wir uns erschrocken ansahen.
Wie rot und geschwollen seine Lippen aussahen und ich mir nur vorstellen konnte, dass meine Lippen mittlerweile eine ähnliche Farbe angenommen hatten. Mein Gesicht glühte, während ich noch verloren im Raum stand und entfernt die Stimmen im Hausflur wahrnahm. Ich hing, noch vollkommen neben mir stehend, in der Situation von eben.
Dieser Kuss hatte etwas losgelöst, einen Teil in mir wieder frei gelassen, den ich verbannt hatte. Dieser Teil wollte mehr, war hungrig nach seinem Kuss und seiner Berührung.

Ich biss mir auf die Lippe bei dem Gedanken daran, wie es eben nach meinem Gefühl hätte weitergehen können, wenn wir nicht unterbrochen worden wären. Und wie auf Zuruf, spürte ich wieder dieses Ziehen in meinem Unterleib. Ich fuhr erschrocken zusammen, als sich zwei Hände von hinten auf meine Schultern legten.
„Hey!" rief mir Johannes erfreut zu, zuckte jedoch ebenfalls zusammen, als ich mich vor ihm erschreckte. „Sorry, das wollte ich nicht. Mensch, bist du schreckhaft. Muss man sich bei dir annähern, wie bei nem Lama?" lachte er dann verlegen und strich sich über den Nacken, ehe ich ihn zu mir in eine Umarmung zog und über diesen Vergleich nachdachte.
Ich griff schnell wieder nach meinem Glas, als Johannes durch die Wohnung lief, und hoffte, dass der kühle Wein die Schwellung etwas nehmen würde, da ich meine Lippen immer noch pulsieren spürte. Wieder gingen meine Gedanken wie von selbst zu dem Moment von eben und nur mit Mühe konnte ich das aufkommende Lächeln unterdrücken.
Auch die anderen Freunde von Volkan kamen nach und nach ins Wohnzimmer, nachdem sie Jacken und Schuhe ablegten und begrüßten mich, ehe sie Volkans Getränkevorräte plünderten und sich auf dem Balkon und seiner Couch verteilten.
Zuletzt kam Volkan mit Hakan und Sophie zurück ins Wohnzimmer, die sich noch austauschten, ehe ich auch die beiden begrüßte und Sophie sofort an mich riss, um nicht mehr allein herum zu stehen.
Die eben noch so ruhige und romantische Musik wurde nun von harten Bässen abgelöst. Allgemein war die Stimmung von eben nicht mehr die gleiche. Ein kurzer Blick zu Volkan signalisierte mir jedoch, dass dieser Cut für ihn auch etwas zu harsch war. Er lief gerade an uns vorbei, als er mir noch einen tiefen Blick in die Augen warf, sich dann abwandte und nach dem nächsten Drink griff.

Sophie und ich saßen nun bestimmt schon seit einer dreiviertel Stunde in unseren Jacken auf dem Balkon, als Hakan den Kopf zu uns herausstreckte und geduldig abwartete, bis Sophie eine Atempause machte und letztlich verstummte. Abwartend schauten wir ihn beide an, doch schien ihn das eher nervös zu machen.
„Habt ihr über mich geredet?" fragte er zögernd.
Wie im Einklang riefen wir ihm ein Nein entgegen, ehe wir beide in ein herzhaftes Lachen verfielen.

„Klasse, ich frag gar nicht weiter. Also es ist kurz vor, der Countdown läuft schon und wir würden gleich anstoßen. Kommt ihr rein?". Ohne darüber nachzudenken, liefen wir Hakan nach in die Wohnung und blieben hinter dem Sofa, auf dem einige der Jungs und auch ein sehr nervöser Volkan saßen, stehen und blickten auf den großen Fernseher. Das Licht um uns herum war gedimmt, sodass nur das der Fernseher etwas Licht spendete.
Aus dem wirren Gerede wurde irgendwann nur ein Flüstern, bis alle um uns herum verstummten und wir die letzte Minute abwarteten. Mein Blick ging kurz rüber zu Volkan, der hektisch kleine Schlucke aus seinem Glas nahm und immer wieder auf seinem Handy die ersten Kommentare kontrollierte, obwohl der Song noch nicht einmal veröffentlich war. Er schien sich beobachtet zu fühlen, schaute sich um, bis sein Blick meinen traf. Sein Gesicht wurde immer mal wieder von dem flackernden Licht des Fernsehers beleuchtet, sodass ich irgendwann das Lächeln auf seinen Lippen sah und ihn ebenfalls anlächelte. Es schien für einen Moment, als wären wir allein in seinem Wohnzimmer, als gäbe es gerade nur uns beide. Um uns herum wurden gerade die letzten Sekunden gezählt, als würde ein neues Jahr begrüßt werden, bis ich im Augenwinkel sah, wie sich das Bild änderte und das Musikvideo auf dem Bildschirm erschien. Nur kurz ging mein Blick zum Fernseher, dann wieder zurück zu Volkan, der mich noch immer ansah.
Seine Augen sprachen Bände mit mir.
Meine Fantasie schien mit mir durchzugehen. Ich malte mir aus, zu ihm hinüberzugehen, mich rittlings auf seinen Schoß zu setzen, damit wir auf Augenhöhe waren und sein Gesicht in meine Hände zu nehmen. Ich wollte ihn ansehen, so richtig ansehen, jeden Millimeter seines Gesichts und seine Augen ganz genau wahrnehmen. Und vor allem wollte ich ihn küssen, genau jetzt. Ich wollte wieder eins mit ihm sein und mich in seinem leidenschaftlichen Kuss verlieren.
Mein Blick war wie versteinert auf ihn gerichtet, bis mich eine Bewegung neben ihm erschreckte. Johannes, der neben ihm saß, hatte Volkan umarmt und schon stießen sie miteinander an. Volkan guckte mich nicht mehr an, war nun ganz bei den anderen und seinem Video.
Sophie neben mir grinste über beide Ohren.
„Das hab ich gesehen." sagte sie langsam mit einem Zwinkern und hielt mir ihr Glas hin, damit wir ebenfalls anstießen. Ich lauschte dem letzten Rest seines Liedes. Durch meine Tagträumerei hatte ich total vergessen, auf den Song zu achten, geschweige denn auf das Video. Schnell versuchte ich noch die Stimmung des Liedes aufzunehmen und auf den Text zu achten, um irgendeine Rückmeldung geben zu können, falls jemand danach fragte.

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt