52. Da war nun Apache

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V

„Und wie hat es dir gefallen? Ich hätte dir auch eine Tour geben können.". Sasan stand bereits vorn in der Nähe der Tür und empfing uns fast etwas stürmisch. Nur am Rande nahm ich wahr, wie Volkan von einer Person mit verschiedenen Kabeln im Arm ermahnt wurde, sich endlich umzuziehen. Hakan, der sich bereits umgezogen und nun ein vollkommen schwarzes Outfit und eine Schiebermütze trug, begleitete seinen Bruder hinter einen Paravent, hinter dem schon das Team zur Verkabelung wartete. Während ich so im Raum stand, halbherzig Sasan zuhörte, wie er weitersprach und nicht wusste, wohin mit mir, wanderte mein Blick durch den Raum und traf ein weiteres mir bekanntes Gesicht.
„Eve??? Ist das Eve?" hörte ich eine Frauenstimme rufen. Volkans Mutter lief aufgeregt auf mich zu und zog mich sofort zu sich, um mich auf meine Wangen zu küssen und zu umarmen.
Sie rief ihrem Sohn mitten durch den Raum zu: „Du hast nicht erzählt, dass sie auch kommt. Warum nicht, Oğlum?". Sie wandte sich wieder zu mir und sprach leiser.
„Ach, Kızım, wie schön, dich zu sehen. Ich freue mich ja so.". Immer wieder umarmten wir uns und blieben nah beieinander stehen, während sie meinen Arm streichelte. Ich fühlte mich so wohl mit dieser Familie, dass es mir fast Angst machte. 
Volkan steckte gerade seinen Kopf durch das weiße Tanktop, als er auf seine Mutter reagierte und kurz über den Sichtschutz hinweg zu uns sah.
„Ich wusste das nicht, Anne. Das haben Hakan und V zusammen geplant, als Überraschung". Sie nickte und schien über etwas nachzudenken und sah mich etwas fragend an. Volkan trat nun an uns heran, küsste seine Mutter auf die Wange und flüsterte ihr etwas auf Türkisch zu. Sie nickte schnell und kniff ihrem Sohn spielerisch in die Wange.
„Ja ja, Volkan, mach dir mal keinen Kopf. Wie lange bleibst du denn, Liebes? Kommst du auch mit zu uns? Ich wollte kochen und vielleicht können wir wieder einen Mädelsabend machen, wie in Berlin. Was hältst du davon?". Sie schaute mich erwartungsvoll an und es wurde mir warm ums Herz. Während ich noch über eine Antwort nachdachte, kam Hakan dazwischen.
„Anne, sie ist doch nur bis Sonntag hier und wo soll sie denn bei dir schlafen, hm? Ich hab ihr ein Hotel gebucht in Mannheim. Dann können wir sie immer noch mal zum Mittagessen abholen.".
„Ja, aber sie kann doch wieder mit Vo-" Ihr Satz verlief im nichts. „Ok..ja, das klingt doch auch gut, vielleicht kommst du noch ein anderes Mal und wir machen dann unser eigenes Programm." fragte sie an mich gewandt. Ich nickte freudig über ihre indirekte Einladung.
„Das würde ich sehr gern. Dann komme ich mal über ein Wochenende her, wenn nicht gerade große Konzerte stattfinden. Dann haben wir genug Zeit.". Wir nahmen uns gegenseitig halb in den Arm, standen eine Weile so im Raum, während um uns herum gewuselt wurde und tauschten uns etwas aus. In der Zwischenzeit schlüpfte Volkan in seine enge blaue Jeans und die schweren Docs. Ich liebte dieses Outfit und warf ihm verstohlene Blicke zu. Ich wurde von ihm ertappt und ein Schmunzeln zeichnete sich auf den Lippen ab. Hinter ihm trat eine Frau an ihn heran, beendete damit unseren kleinen Moment und er duckte sich zu ihr nach unten, sodass sie an seine Haare herankam. Sie zog den Dutt noch enger und kämmte erneut das Deckhaar glatt. Er richtete sich wieder auf, strich sachte über sein Haar, während er sich im Spiegel betrachtete und aus der Hosentasche seine Brille zog. Da war nun Apache.

Hakan kam wieder in den Raum und verkündete, dass die Show gleich beginnen würde. Alle im Raum griffen nach einem der vorbereiteten Becher. Wir sammelten uns um Volkan und hoben die Becher, die in einem Zug von uns geleert wurden.
„Kommt, ich bring euch zu unserem Spot, da können wir die Show ansehen.". Johannes hatte sich neben uns gestellt und sprach an mich und Volkans Mutter gewandt. Ich griff nach meiner Tasche und lief Johannes nach. Ich drehte mich im Raum noch einmal zu Volkan, der ebenfalls meinen Weg beobachtete, seine Brille wieder etwas von der Nase schob und mir zuzwinkerte. Himmelherrgott.
Johannes führte uns durch einige Gänge und schwere Metalltüren. Auch hier stiegen wir einige Stufen aufwärts und erreichten eine weitere Tür, auf der Zugang Arena zu lesen war. Wir betraten die kleine Lounge auf der Empore im ersten Stock der Arena und blickten auf unzählige Menschen, die sich lautstark unterhielten, sangen und schrien. Auch die anderen kamen nun zu uns und verteilten sich auf den Sesseln und auf dem kleinen Balkon. Ich stand gegen das Geländer gelehnt und betrachtete das Treiben. Ich merkte selbst die Aufregung in mir und hatte Lust auf das Konzert bekommen. Ich liebte diese Atmosphäre auf Konzerten, laut mitzusingen und je nach Show ausgelassen tanzen zu können. Gut, das ausgelassene Tanzen wäre heute eher nicht drin, dazu war ich doch etwas zu angespannt.
Sasan stellte sich neben mich und hielt mir eine Cola entgegen.
„Haben auch noch Jacky, wenn du magst. Dann mach ich dir ne Mische.".
„Ne Cola ist gut erstmal, danke dir." lächelte ich ihn kurz an und blickte zurück auf die Menschenmengen. Ich verstand immer besser, was Volkan damals meinte, dass er sich manchmal so klein fühlte. Dieser Ort war so riesig und all diese Menschen waren nur seinetwegen gekommen. Sie wollten alle Apache207 hören, sehen und erleben.
Ich versuchte mir auszumalen, was für Leben all die Menschen hier führten, deren Wege sich hier in Mannheim gebündelt an einem Ort kreuzten. All diese vielen Menschen in der Arena hatten die Gemeinsamkeit im Musikgeschmack und sind genau hierfür herkommen und werden sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nie wieder in einem anderen Kontext über den Weg laufen. Dass mehrere Tausend Menschen wegen Volkan da waren, um sein Konzert zu hören, war ein verrückter Gedanke. Es fühlt sich vollkommen surreal an, dass es sich bei Apache, der heute hier ein Konzert gab und Volkan, der Musik schrieb und sang, um die gleiche Person handelte. Der Volkan, der sich oft so ungeschickt in meiner Wohnung an allen Möbeln stieß, der gern zum Einschlafen irgendwelche Geschichtsdokus sah, der seine Nudeln häufig gern mit Ketchup aß und sich über Kindercartoons totlachen konnte. Er brachte diese Massen an Menschen zusammen und würde bei ihnen für eine unvergessliche Erinnerung sorgen. Während ich über all diese Dinge nachdachte, wurde mir klar, dass ich ihm das erzählen musste. Er liebte es, abends noch im Bett über solche Hirngespinste zu sprechen und sich Szenarien zu wildfremden Menschen auszudenken. Was sie beruflich machten, wo sie ihren letzten Urlaub verbrachten oder wann und warum sie das letzte mal lachten oder weinten.
Ich wurde abrupt aus meinen Gedanken gerissen, als die Trommler auf der Bühne zu spielen begannen und Volkan hinter der kleinen Schattenwand auftauchte. Sofort merkte ich die Aufregung in mir und folgte gebannt dem Treiben auf der Bühne. Das Programm des Konzerts hatte sich im Vergleich zum letzten Mal geändert, das fiel  mir gleich auf. Es hatte neue Videoszenen gegeben und meine Augen waren stur nach vorn gerichtet, um bloß jeden Moment mitzubekommen. Ich war überrascht, denn Volkan hatte nichts von den neuen Videos erzählt, geschweige denn von dem Drehtag.
Seine Mutter stellte sich neben mich ans Geländer und beobachtete ihren Sohn. Ihre Augen glänzten vor Stolz und das Lächeln auf ihren Lippen wurde immer breiter. Sie sang einige Textpassagen leise mit und schien sich an den vielen Ausdrücken gar nicht zu wirklich zu stören. Die Lounge füllte sich mit der Zeit und auch der Rest seines Teams, die nun vorerst nicht mehr gebraucht wurden, beobachteten wahrscheinlich zum 100. Mal die Show und tranken reichlich von der Bar.
Ein paar junge Frauen, ich hätte sie auf Anfang 20 geschätzt, hatten sich auf den Polstern auf dem Balkon niedergelassen und tauschten sich lautstark über Volkan aus. Die blonde, die sich nun in die Mitte setzte, kannte ich schon vom Essen vorhin. Sie hatte mit Sasan getuschelt und mich so lang angestarrt. Je mehr ich versuchte, dem Gespräch nicht zu folgen und mich auf die Musik zu konzentrieren, desto größer wurden meine Ohren.
„Naja, also in dem Outfit würde ich ihn auch sofort mit auf mein Zimmer nehmen. Stellt euch diesen Körper mal nackt vor." lachte eine der drei Frauen und zeigte angedeutet mit dem Zeigefinger in Richtung Bühne und trank anschließend einen großen Schluck aus ihrem Glas.
„Ich kann euch sagen, ich bin ja immer mit dabei, wenn er sich umzieht und so. Das in seiner Boxershorts ist sehr vielversprechend. Ich werde euch dann berichten, wie fest dieser Arsch tatsächlich ist.". Die blonde schien also mit ihm zu arbeiten. Der Groschen fiel ziemlich laut, denn sie hatte vorhin seine Haare gestylt.
In mir entwickelte sich eine Mischung aus Amüsiertheit und Wut. Ich konnte ihre Schwärmerei sehr gut verstehen. Er war ja tatsächlich ein schöner Mann und diese Gespräche und Fantasien über Volkan hatten bestimmt mehrere Tausend Personen in dieser Halle. Doch sie als Mitarbeiterin sollte sich vielleicht etwas zurückhalten. Vor allem wollte ich, dass sie Abstand zu ihm und seiner Boxershorts hielt.
Volkans Mutter schien mitbekommen zu haben, dass ich etwas abgelenkt war und fuhr sanft mit ihrer Hand über meinen Arm und katapultierte mich zurück in die Realität.
„Alles ok, meine Süße?". Sie sah mich besorgt an, doch versuchte ich schnell, ein Lächeln zurückzugewinnen und sie zu beruhigen. Ich sah wieder hinunter zu Volkan, der manchmal einen kleinen Blick nach oben riskierte, insbesondere in den Momenten, in denen er über seine Mutter sang. Johannes tauchte ebenfalls neben mir auf und bat mich in einem ruhigen Ton, einen Moment ins Innere der Lounge zu kommen, da Volkan gleich von der Bühne aus mit seiner Mutter sprechen würde. Verständlich, da war eine fremde Frau neben der Mutter nicht gern gesehen und würde Fragen bei den Fans aufwerfen, egal in welcher Verbindung man tatsächlich zu Volkan stand. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, ob er etwas wusste. Ob er mich nicht nur wegschickte, weil keine unbekannten und vor allem weiblichen Personen im Backstage von den Fans gesehen werden sollten, sodass keine Gerüchte aufkamen, oder ob er doch etwas ahnte. Doch auch die drei Frauen wurden kurz darauf von ihm nach Innen geschickt, sodass nur noch Volkans Freunde und seine Mutter auf dem Balkon zurückblieben.
Ich bereitete mir einen Drink und setzte mich in den roten Ledersessel. In der Lounge hingen zusätzlich einzelne Bildschirme, die die Show, die nur wenige Meter neben uns lief, übertrugen.
Wie unnötig, dachte ich kurz. Doch das schien der Luxus von reichen Menschen zu seine. Eine Show über den Fernseher ansehen, die nur wenige Meter neben einem lief. Damit man beim Drink befüllen ja nichts verpasste.
In Gedanken beobachtete ich Volkan über den Bildschirm, der ohne T-Shirt und nun in Lederhosen auf der Bühne stand und gerade seinen nächsten Song ankündigte. In mir zog sich etwas zusammen. Ihn so arbeiten zu sehen war heiß und ich begab mich gedanklich in den Moment vorhin auf der Treppe zurück, als er sich an mich drückte. Wieder entwickelte sich dieses dümmliche Lächeln auf meinem Gesicht.
Volkan richtete sich nun tatsächlich einen Moment an seine Mutter und sprach durch das Mikrophon zu ihr. Mir platzte fast das Herz, als auch Hakan auf die Bühne kam und beide Söhne eine Dankesrede für ihre Mutter präsentieren. Alle drei wischten sich immer wieder Tränen aus den Augen, bis sie ihnen vom Balkon Kusshände zuwarf, die nächste Videoszene eingespielt wurde und die Bühne verdunkelte. Volkans Mutter kam gerade ins Innere gelaufen und wischte sich noch einmal über ihre Augen, vollkommen ergriffen von der Situation von eben und ließ sich neben mir nieder. 

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt