71. The Show Must Go On

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Volkan, Montag

Ich war ein absoluter Volltrottel. Nach dem Gespräch mit Charlie war ich sowieso nur noch mies drauf und hatte eigentlich keine Lust unter Menschen zu sein. Über Jahre konnte ich mir gut das gespielte Lachen antrainieren, aber meine Laune war so im Keller, dass mir selbst das schwer fiel.
Charlie verließ den Bus, wie ich es ihr gesagt hatte und ich verkrümelte mich wieder ins Bett, bis wir ankamen. Mein Bruder warf mir immer wieder fragende Blicke zu, doch die Hemmung ihm zu sagen, was ich getan hatte, war zu stark. Wir waren natürlich viel zu früh durch mit dem Sound- und Lichtcheck, sodass wir einige Stunden im Backstage verbrachten. Meine Timeline auf Insta war auch nach dem siebten Aktualisieren die gleiche.
Sasan zeigte mir gerade seine neuen Ideen für sein Musikvideo und holte sich meine Meinung ein, als ich V's Anruf sah. Ich starrte einige Sekunden nur auf den Bildschirm und rang mit mir, überhaupt abzunehmen. Ich schaffte es ja kaum in den Spiegel zu sehen, wie sollte ich ihr ins Gesicht schauen. Ja, nein. Ja, nein. Kurz durchziehen, Volkan.

„Hey, warte kurz, ich geh wo hin, wo es leiser ist.". Ich lief durch den Raum, auf der Suche nach einem stillen Eckchen. Im Bad fand ich meine Ruhe, konnte sie aber kaum aushalten. Es blieb keine Ablenkung mehr, in die ich mich hätte retten können. Nur erschwert konnte ich ihren Worten folgen oder sie ansehen.
Als sie mir erzählte, dass sie mit den anderen etwas trinken ging, wurde ich stutzig. Ich wollte nicht, dass sie wieder von diesem Toni belästigt wurde. Meine Sorge kam in mir hoch, doch es schien ihr komplett egal. Sie schütze ihn sogar und wollte trotzdem gehen.
So viel also zur Loyalität. Ich hatte genug gehört und legte auf. Ich wollte nichts mehr hören. Dann sollte sie doch diesen Toni ficken.
Wütend stürmte ich aus dem Bad und schlug die Tür. Alle Blicke waren verwundert auf mich gerichtet und es war schlagartig still im Raum.
Ich räusperte mich.
„Äh, alles gut... mir ist, äh, die Tür nur aus der Hand gerutscht."
Die meisten nickten nur verstehend, doch zwei Augenpaare wurde ich einfach nicht mehr los. Ich setzte mich etwas abseits auf einen Sessel, als ich meinen Bruder und Johannes neben mir auftauchen sah.
„Sollen wir warten, bis du demnächst n Loch in die Wand haust, oder willst du endlich mal reden?" ergriff Johannes das Wort.
Ich schaute prüfend auf die Uhr, es war gefühlt nicht genug Zeit, alles zu erzählen und die Scherben meines Inneren vor der Show wieder zusammenzusammeln.
„Können wir nach dem Konzert sprechen? Ich glaub, sonst pack ich das nicht..."
„Machen wir, aber bitte brich nicht auf der Bühne zusammen. Du weißt, wie wichtig die Shows sind. Und das sage ich dir als dein Manager, nicht als dein Bruder. The Show must go on.".

Ich zog das Konzert durch und war ganz bei der Sache. Ich ließ mich von all den Menschen vor mir mitreißen und mein Kopf hörte endlich auf zu arbeiten. Alle Gedanken waren für einige Stunden wie weggeblasen und der Druck auf meiner Brust nahm ab. Ich konnte endlich wieder etwas atmen. Die Stunden vergingen nur leider wie Sekunden und mit einem Wimpernschlag packten wir wieder unsere Sachen und machten uns auf den Weg in den Tourbus. Wir warteten noch vor dem Nightliner, als ich mir eine Zigarette anzündete und in die Nacht schaute. Der Himmel war so unsagbar klar, dass ich jeden einzelnen Stern hätte zählen konnte. Ein Moment der Ruhe durchströmte meinen Körper, als mich ein Klopfen auf meinem Rücken zurück in die Realität brachte. Johannes stand neben mir und schaute mich vielsagend an.
„Wollen wir?". Ich nickte ihm zögerlich entgegen und schnippte die Kippe auf den Asphalt. Wir liefen durch den schmalen Gang bis hin zur kleinen Sitzecke am Ende des Busses. Johannes setzte sich mir gegenüber, während Hakan den Vorhang zu zog, um uns etwas Privatsphäre zu geben.
Gerade, als er sich neben Johannes setzte, wurde der Vorhang aufgerissen und Musti guckte verwirrt in die kleine Runde.
„Ähm, sorry, stör ich? Wir wollten bisschen zocken." entschuldigend schaute er abwechselnd zwischen uns hin und her.
„Wir müssen noch was für die nächste Woche besprechen, dauert nicht lange." antwortete Hakan.
Musti zog ohne Widerworte den Vorhang zu und ließ uns allein.

Hakan beugte sich über den kleinen Tisch zu mir und begann leise zu sprechen.
„Jetzt sag, was mit dir los ist."
Ich suchte nach Worten und vergrub mein Gesicht in meinen Händen.
„Samstag, als ich mich so abgeschossen habe..." ich seufzte und rang wieder nach Luft.
„... man fuck, ich kanns einfach nicht aussprechen." gespannt schauten mich die beiden an und schwiegen weiterhin.
„Scheinbar habe ich mit Charlie in diesem Hinterzimmer gepennt. Da, wo du mich gefunden hast, Johannes.". Die Augen meines Bruders weiteten sich. Vor seiner Reaktion hatte ich am meisten Angst, doch er sagte nichts. Ich schielte immer wieder seitlich zu ihm, um seinen Blick deuten zu können.
„Ich hab es heute Morgen erst von Charlie erfahren, ich kann mich an nichts erinnern. Gar nichts! Ich weiß nicht, was ich machen soll. Der Streit mit V war am Samstag schon krass genug, das wird sie mir nie verzeihen. Ich weiß nicht mal, ob ich mir das verzeihen kann. Ich schäme mich so krass und kann einfach nicht glauben, dass ich sowas Ekliges gemacht habe.". Meine Stimme begann mehr und mehr zu zittern und ich schaffte es nicht, Blickkontakt zu halten. Ich hatte für den Moment genug gesagt und es vergingen einige Sekunden.
„Krass.". Mehr sagte Hakan nicht.
„Heißt, V weiß davon nichts?" Johannes schien als erster wieder seine Sprache gefunden zu haben.
„Ich kann es ist nicht sagen. Schon gar nicht am Telefon. Was soll ich sagen?! Ich hab in der Nacht, in der du abgefucked aus dem Club gegangen bist, mit ner anderen gepoppt? Ich wollte das doch nicht mal.". Wieder versteckte ich mein Gesicht, dieses Mal, um auch meine Tränen zu kaschieren. Gedämpft durch meine Finger sprach ich weiter.
„Ich war den ganzen Tag so angespannt, dass ich sie vorhin am Telefon richtig angekackt und einfach aufgelegt hab. Und irgendwie hat es mich erleichtert, weil ich ihr jetzt nicht mehr ins Gesicht lügen muss. Ich konnte ihr nicht mal in die Augen sehen vorhin. Ich hab seitdem auch nichts mehr von ihr gehört..."
„Puuh, was machst du denn nur..." Mein Bruder schien ratlos und lehnte sich in seinen Ledersitz und schien nachzudenken.

„Tamam, willst du es ihr sagen? Oder nicht?"
„Ich weiß es nicht. Es hat mich damals zerrissen... Ihr wisst, wie es für mich war, zu wissen, dass Kara fremdgegangen ist. Es hat mich kaputt gemacht.". Ich hörte abrupt auf zu reden, als die Erinnerungen wieder hochkamen.
„Die Frage ist, wie soll es weitergehen. Du kannst ihr nicht in die Augen schauen, glaubst du, das kannst du je wieder, wenn du es ihr nicht erzählst? Kannst du damit leben?"
Ich schüttelte langsam den Kopf und blickte auf meine Finger, die ich nun auf dem Tisch verschränkt hielt.

Wir sagten einige Minuten nichts.
„Willst du damit warten, bis die Tour zu Ende ist? Ohne ultraegoistisch zu denken, aber glaubst du, du hälst das aus?" Johannes schien seine Gedanken auszusprechen.
„Keine Ahnung."

Hakan zog seine Kippenschachtel aus seiner Hosentasche und hielt sie uns hin. Dankbar zog ich eine heraus und zog kräftig daran, nachdem Johannes mir Feuer gab.
„Habt ihr wenigstens verhütet?"
„Ich hab keine Ahnung, man. Diese Stunden sind wirklich komplett weg, ich weiß nichts mehr..."
„Hattest du ein Gummi am Schwanz?"
Ich überlegte und ging in meinen Gedanken zu dem Morgen zurück und schüttelte nur mit dem Kopf.
Die Anspannung in mir ließ nicht nach, noch immer wusste ich nicht, was ich machen sollte.
„Ich muss es ihr sagen, oder?"
„So, wie ich dich als Mensch kenne, kannst du nicht anders. Das hält dein Gewissen nicht aus. Aber du weißt, dass das das Ende bedeuten kann." mein Bruder traf den wunden Punkt.
Der Gedanke bereitete mir direkt Bauchschmerzen. Doch wie meine Mutter schon früher immer sagte, man muss Verantwortung für seine Taten übernehmen. Ich überlegte einige Sekunden und einen Gedanken wurde ich nicht mehr los, bis ich ihn laut aussprach.
„Donnerstag haben wir ja frei... Abi, kannst du mir Tickets nach Berlin buchen? Ich muss persönlich mit ihr sprechen. Ich komme dann direkt nach Hamburg und bin Freitag zum Konzert wieder da."
„Okay... kann ich machen. Wir sind für dich da, ja. Egal, was passiert."

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