48. Eine Stunde und fünfzehn Minuten

494 17 1
                                    

V, am nächsten Tag

Wir hatten im Laufe des Tages nach seiner grandiosen After Show Party kaum Kontakt und immer wieder kehrten meine Gedanken zurück an die Frauenstimme in seiner Audio. 
Die Eifersucht und die Angst breiteten sich immer mehr aus, doch war ich gleichzeitig auch so unsagbar wütend. Er schien irgendwann gegen Mittag wach geworden zu sein und hatte mir direkt eine liebevolle Nachricht geschrieben. Heuchler.
Doch bisher war eigentlich nichts passiert, worauf ich wirklich wütend sein konnte. Es war natürlich nicht verboten, mit anderen Frauen zu sprechen und wir hatten bisher nicht über derartige Grenzen gesprochen. Doch der wenige Kontakt im Moment in Kombination mit solchen Situationen wie gestern, brachten ungeahnte Sorgen zum Vorschein. Und eine Menge Wut. 
Volkan schien irgendwann im Laufe des Tages selbst noch einmal die Audio gehört zu haben und rief mich an. Nur widerwillig nahm ich seinen Anruf an und hörte ihm erst einmal nur zu. 

„Klingt ziemlich mies in der Audio, das tut mir leid. Mir war in dem Moment total danach, dir zu erzählen, wie es war und was ich mache... Der Rest...war nicht geplant.". Seine Stimme war sehr ernst. Ich hatte so ein wahnsinniges Bedürfnis, ihm Vorwürfe zu machen und genau zu erfragen, wer diese Frau war, die sich an ihn ranmachte und ob er mich veraschen wollte. 
So war ich früher. Ich wäre blind meinem Bedürfnis gefolgt. So hatte ich mich selbst verletzt und meine Beziehungen infrage gestellt. All die Jahre, in denen ich mich selbst besser kennenlernte und verstand, warum ich solche großen Verlustängste hatte, waren wichtig und nun kam Volkan in mein Leben und doch blieb das Gefühl zu damals ähnlich. Doch ich wollte mich kontrollieren. Ich wollte nicht diese eifersüchtige Freundin sein, jedenfalls nicht ohne triftigen Grund. Er erklärte mir von sich aus die Situation und ich versuchte mich selbst zu beruhigen, konnte sogar nachvollziehen, was er sagte.

Ich war zwar noch ein wenig angesäuert, versuchte jedoch nicht nachtragend zu sein und sprach mit ihm noch eine weitere halbe Stunde am Telefon. Ich lag währenddessen auf meiner Couch und lauschte seiner tiefen Stimme, die noch ziemlich unter der letzten Nacht litt. Zwischendurch musste ich sogar etwas lachen, auch wenn es sich noch nicht wie immer angefühlt hatte.
Die beruhigenden Worte drangen immer wieder in meinen Kopf. Noch zwei Tage. Es waren nur noch zwei Tage, bis ich ihn in Mannheim überraschen würde und wieder alles gut sein würde. So wie ich den Gedanken endlich zuließ, kam auch wieder das Gefühl der Aufregung zurück. Ich musste ihn endlich sehen und diese anderen bescheuerten Gefühle überwinden. 

Am Nachmittag legte ich bereits ein paar Sachen für die Reise raus, die ich für die Tage mitnehmen wollte und ließ nebenbei Reality TV laufen. Zwei junge Frauen stritten sich recht ungeniert vor der Kamera um den gleichen Mann und noch bevor sie sich gegenseitig körperlich angehen konnten, griff ein Securityteam ein. Ich setzte mich tatsächlich etwas fasziniert für eine Weile hin, um dem Geschehen zu folgen, bis mein Auflauf fertig war, ich das Kofferpacken endgültig auf den nächsten Tag verschob und mich voll und ganz dem Kampf hingeben konnte. Ich schlief zuletzt auch auf meiner Couch ein, eingehüllt in die kleine Strick-Kuscheldecke mit flackerndem Fernsehlicht. 
Am nächsten Morgen entdeckte ich die E-Mail, in der stand, dass mein Zug nach Mannheim nicht fahren und es keinen Ersatz geben würde. Was hatte ich auch erwartet. Kurz rutschte mir mein Herz in die Hose, aus Angst, dass alle Pläne und Vorhaben ins Wasser fallen würden. Mir blieb keine andere Möglichkeit, als kurzerhand ein Flugticket für Donnerstagmittag zu buchen, wenn ich noch rechtzeitig beim früheren Konzert am Donnerstag ankommen wollte. Es war tatsächlich eine Übersprungshandlung, die in einer anderen Situation mehr Reflektion nötig gehabt hatte, doch meine Finger waren schneller, als mein Verstand. Seit meine Chefin mir das Angebot machte, auch schon früher loszufahren, hatte sich diese Idee in meinem Kopf festgebrannt, um noch einen Tag länger in Mannheim und somit bei Volkan sein zu können.
Ich sendete Hakan eine Nachricht über den neuen Plan und er organisierte ein Auto, das mich vom Flughafen abholen sollte. Zu meiner ohnehin vorhandenen Aufregung gesellte sich nun auch noch Nervosität. Ich flog nicht gern, schon gar nicht allein und hatte nun gefühlt keine Möglichkeit mehr, mich mental auf den wenn auch kurzen Flug vorbereiten zu können. Auch vermied ich es, mit Volkan zu telefonieren. Ich hatte Sorge, dass er in meiner Stimme die Aufregung hören würde oder ich versehentlich irgendetwas über die Reise Preis geben würde. Ich erfand ehrlicherweise schlechte Ausreden, warum ich nicht sprechen konnte, und speiste ihn mit kurzen Nachrichten ab, während ich mich wieder meinem Koffer hingab und mich ablenkte.
Nachdem alles gepackt war, ging ich mit Sam noch einen Happen Essen, um ihn in die Planung einzuweihen und mich etwas zu entlasten. Ich berichtete ihm von den letzten Tagen und er gab mir zu denken, ob Volkan sich nach unseren letzten Nachrichten wirklich so auf mich freuen würde. Er verunsicherte mich. Ich war immer offen dafür, in Freundschaften Tacheles zu reden und auch unangenehme Dinge anzusprechen, doch das hatte mich wirklich stutzig gemacht. Sam war auch der Meinung, dass die Stimmung gerade nicht die beste war. Ja, danke, das merkte ich auch, aber freute man sich deshalb nicht, wenn man sich überraschte?
Gedankenverloren starrte ich auf mein Essen, bis Sam mir aufmunternd über den Handrücken streichelte. Er schien gemerkt zu haben, wie nah mir das Thema ging und dass er einen wirklich wunden Punkt getroffen hatte. Wir griffen das Thema erneut auf und überlegten, wie die Stimmung zu retten war. Wenigstens so lang, bis ich endlich bei ihm ankam und wir persönlich darüber sprechen konnten. 
Die Lösung schien, vorerst besonders süß zu ihm zu sein. Noch auf dem Heimweg tippte ich die besonders süße Nachricht an Volkan und sagte ihm ehrlicherweise, dass ich ihn vermisste. Mein Herz klopfte einige Momente schneller, als ich sah, dass er bereits eine Antwort tippte, doch sie beruhigte mich. Der Plan schien aufzugehen, denn er erwiderte meine Worte und sendete mir ein Foto von sich, auf dem er mir einen Luftkuss zuwarf.

Wie an jedem Mittag rief Volkan mich an, sobald er wach wurde. Nur handelte es sich dieses Mal um den denkbar schlechtesten Moment, da ich gerade den Flughafen erreichte und beim besten Willen seinen Anruf nicht annehmen konnte. Zu groß war die Sorge vor den typischen, blechernen Durchsagen und eindeutigen Zeichen, die mich verdächtig machen konnten. Ich starrte auf das leuchtende Display und hoffte, dass sein Name endlich nicht mehr zu sehen sein würde. Während ich in der Schlange zur Securitykontrolle stand, überlegte ich hin und her, fasste einen Entschluss. Es war nicht einfach, ihm solch eine Nachricht zu senden, doch es war mir lieber, dass er ein bisschen sauer wurde, als dass er etwas ahnte und die Überraschung platzte.

V 12:28: Ich bin noch in einem Gespräch, ich rufe dich nach Feierabend an.

Die blauen Haken erschienen, doch er schrieb nicht zurück. Er war also tatsächlich sauer.
Die Kontrollen liefen reibungslos und zu meinem Flug waren es nur noch einige Minuten, in denen ich die Wartezeit mit Musik zu überbrücken versuchte.
Meine Aufregung war nun fast grenzenlos und ich hätte mich zu gern mit einer Zigarette beruhigt, doch war hier kein dafür vorgesehenes Abteil zu finden. Ich bestellte mir stattdessen einen Kaffee, der meine Nerven beruhigen sollte und setzte mich für einen Moment ans Gate, bis zum Boarding aufgerufen wurde. Mit einem tiefen Atemzug trat ich den Weg in Richtung Maschine an, verstaute über meinem Sitz den kleinen Koffer und ließ mich am Fenster in den Ledersitz fallen. Fast geschafft. 
Das Handy in meiner Hand leuchtete erneut auf und zeigte den eingehenden Anruf, der nicht zu enden schien. Mein Blick klebte am Bildschirm, in der Hoffnung, dass diese Tortur endlich endete.  Warum rief er noch einmal an?
Ich hatte ihm deutlich geschrieben, dass ich arbeitete und doch blieb er hartnäckig. Nun war ich ebenfalls etwas genervt und fühlte mich gleichzeitig wahnsinnig schlecht, ihn einfach zu ignorieren, doch waren mir die Hände gebunden. Der Flugbegleiter begann mit seinen Instruktionen und ich schaltete das Handy in den Flugmodus. Nun war Ruhe.
Eine Stunde und fünfzehn Minuten. Ich wiederholte die Zeit in meinem Kopf wie ein Mantra. So lange durfte er nicht noch einmal anrufen, sonst würde sein Kopfkino richtig anfangen. Eine Stunde und fünfzehn Minuten.

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt