80. Verspätet 19:50

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Volkan, einen Monat später

Ich fuhr über die Bartstoppeln an meiner Wange und versuchte diesen elendigen Juckreiz endlich loszuwerden. Nur noch wenige Stunden, dann kam dieses Scheißding endlich ab. Ich sah aus wie ein Idiot. Der Bart wuchs nun schon seit einigen Wochen und ich hatte auch keinen Grund ihn zu rasieren. Keine offiziellen Termine, keine Shows. Und Lust, mich frisch zu machen, hatte ich eigentlich auch im Moment nicht. Ich nutzte es also gleich als Tarnmanöver.
Ich zog die Basecap noch ein wenig tiefer in mein Gesicht und holte wieder mein Handy aus der Hoodietasche. Hatte ich nicht noch irgendwo eine Spieleapp?
Während ich noch auf meinem Bildschirm hin und her wischte, tauchte ein Kaffeebecher vor meiner Nase auf und ich blickte hoch zu Johannes und nickte ihm dankend entgegen.
„Digga, was geht denn ab. Hab für die sechs Brezeln und Kaffee fast ne Niere da lassen müssen." meine Mundwinkel zuckten vor Belustigung, während ich den ersten heißen Schluck nippte. Johannes setzte sich neben mich und auch die anderen Jungs trudelten langsam wieder ein.
„Kam nochmal was?"
„Ne, immer noch zwei Stunden Verspätung bisher. Hast du das Transferunternehmen informiert?"
„Klar, alles geregelt. Willst du ne Brezel?" ich schnalzte mit der Zunge und schüttelte ein Mal den Kopf. Schulterzuckend biss er herzhaft in die Brezel und öffnete ein Video auf Youtube.
Immer wieder prüfte ich die Anzeige über dem Gate.

KM377 MLA Malta            Planmäßiger Abflug 17:05            Verspätet 19:15

Ich schwor mir wieder auf ein Neues, endlich auch mit einem Privatjet zu fliegen. Je länger ich hier saß, desto höher wurde die Wahrscheinlichkeit, dass ich erkannt wurde und aufflog.
„Habt ihr am Stand gefragt, obs hier ne Raucherecke gibt?" fragte ich wieder an Johannes gewandt.
„Oh...". Musti schaute ertappt zu Boden.
„Ihr habt also nicht gefragt."
Ich steckte mir wieder den Kopfhörer ins Ohr und schloss die Augen. Nur noch wenige Stunden und ich konnte etwas entspannen.
Nach der Tour traf mich alles wie ein Schlag und ich fiel in ein ziemliches Loch, bis Hakan beschloss, dem ein Ende zu setzen und spontan Urlaub zu machen. Ich war ziemlich ausgelaugt nach der wochenlangen Tour und natürlich auch wegen V. Den zweiten Teil konnte ich immer wieder gut verdrängen. Doch jedes Mal, wenn sie doch wieder meine Gedanken einnahm...
„Bro?"
„Hm?" Hakan riss mich aus den Gedanken.
„Den Gang runter ist son Raucherabteil, kommst du?". Ich erhob mich von meinem Sitz und zog die Kapuze zusätzlich über die Cap, damit man meinen Dutt nicht sah.

Sechs Stunden später erreichten wir endlich das etwas protzige Haus, das Johannes gebucht hatte. Im Flieger genehmigten wir uns bereits einige Drinks und öffneten, als wir die Location erreichten und ehe wir überhaupt die Koffer ausgepackt hatten, bereits die nächste Flasche. Wir alberten herum und rangelten miteinander, als wir mit unseren Klamotten in den Pool sprangen.
Einige Minuten chillten wir in dem kühlenden Wasser, hatten uns mittlerweile jedoch schon mal die Shirts ausgezogen. Die Champagnerflasche wurde immer wieder rumgereicht.
„Für ne richtige Party fehlen aber noch paar Leute, oder?" fragte Musti herausfordernd in die Runde.
„Ich brauch erstmal was zu essen" hörte ich Tuna neben mir sagen.
„Ja gut, das eine schließt das andere ja nicht aus. Ich kümmere mich um Pizza und ein paar Leute.". Sasan war wirklich euphorisch. Ich hätte mich am liebsten mit einer Pizza ins Bett gelegt und einfach den Fernseher angeworfen. Die Jungs waren cool, aber viel mehr Gesellschaft vertrug ich im Moment nicht so gut. Ich wollte einfach keine Maske mehr tragen.
Apropos Maske.
„Ich geh mich erstmal rasieren." sagte ich nüchtern in die Runde und drückte mich am Beckenrand aus dem Pool heraus.
„Besser ists, sonst geht bei dir heute Nacht gar nichts, Bro". Die anderen lachten laut über Sasans Einwurf.
Das war für mich absolut kein Grund, den scheiß Bart loszuwerden.

Nach einer halben Stunde kam ich wieder in den großzügigen Wohnbereich, in dem sich die ersten fremden Personen sammelten und auf die Terrasse liefen.
„Woher hast du die Leute auf einmal?" während ich Sasan fragte, lehnte ich gegen die Theke in der Küche und machte mir eine Zigarette an.
„Hab paar Leute angeschrieben und die bringen noch ein paar mit. Das wird wild heute Nacht. Hier, Bro" seine Hand streckte sich mit einem Shotglas entgegen.
„Danke... hab eigentlich gar nicht so Bock, heute so krass zu saufen."
„Ach komm, einer geht doch."
Wir stießen an und ich merkte das Brennen in meinem Hals. Vodka, was auch sonst.

Innerhalb einer weiteren halben Stunde füllte sich unser Haus und es war schwer, auch nur ein bekanntes Gesicht zwischen den Menschen auszumachen. Ich lief hinaus an den Pool, in dem bereits einige Personen badeten, um eine zu rauchen, als neben mir eine junge Frau auftauchte.

„Hast du mal Feuer?". Ich hielt ihr wortlos die Flamme entgegen, bis mir ihr Rauch ins Gesicht zog.
„Danke" nuschelte sie neben mir.
„Und durch welchen Zufall bist du heute hier?" setzte sie noch fort, folgte meinem Blick. 
„Wir haben die Location gemietet."
„Ah, du bist also einer der Gastgeber. Danke für die Drinks.". Ich spürte ihr Grinsen neben mir.
„Kein Ding. Viel Spaß."
„So richtig gesprächig bist du aber auch nicht, hm? Ich heiße Amelia... und du?".
Ich stand nur so da und schaute den Leuten beim Baden zu. Irgendetwas in mir versperrte sich, mit ihr ein Gespräch anzufangen. Aber konnte ich ihr nicht einmal meinen Namen sagen?
„Volkan"
„Freut mich, Volkan. Du wirkst irgendwie traurig, kann ich dich ein bisschen aufmuntern?"
„Alles gut, danke"
„Ich hole uns mal noch einen Drink und dann gucken wir, wie wir dich ein bisschen locker kriegen. Warte hier.". Sie lief los, ohne eine Antwort meinerseits abzuwarten. Ich seufzte auf und lief einige Meter an den Rand, um mich auf die Sonnenliege zu setzen. Wie sehr wollte ich einfach nur in Ruhe gelassen werden.
„Hier, hab gleich noch n Shot mitgebracht. Lass uns bisschen Spaß haben heute. Und Morgen kannst du wieder traurig sein.".
Sie hielt mir den Shot entgegen und ich wartete einige Sekunden zu lang, sodass sie ihn mir nun direkt vor die Nase hielt. Gut, einer ging noch. Schlagartig wurde die Musik lauter und um uns herum wurde wild getanzt. Die Frauen waren kaum noch bekleidet und eine kleine Blondine rieb gerade ihren Arsch an Can, der ihre Bewegungen mit großen Augen verfolgte.
Gut, je eher die Party eskalierte, desto schneller konnte ich ins Bett.
„Gefällt dir, was sie da macht?" ich hatte die Kleine neben mir schon wieder vergessen. Wie hieß sie? A...
Sie kniete sich plötzlich neben mich auf die Liege und strich sanft mit ihren Fingern über meine Schulter. Ihre Hüften bewegten sich zum Beat und ihr Körper schien wie aus Wasser. Ich versuchte angestrengt nicht hinzusehen, doch fiel ihr scheinbar mein kurzer Blick auf.
„Du wirst ja endlich etwas lockerer, hier, nimm noch einen.". Meine Gedanken gaben langsam Ruhe und ich trank den nächsten Schluck. Sie stützte sich an meinem Bein auf und beugte sich zu mir, bis ihr Gesicht nur noch wenige Zentimeter entfernt war.
„Den nächsten Shot trinkst du aus meinem Bauchnabel" flüsterte sie mir zu. Ich musste laut lachen. Sowohl vor Überraschung als auch vor ihrer Direktheit. Ich wurde wirklich langsam lockerer und wippte mit dem Fuß zur Musik. Langsam spürte ich den Alkohol und stand von meinem Platz auf und lief in Richtung der Tanzrunde. Can und Tuna sahen mich und schlugen freudestrahlend ein. Wir bewegten uns zum Rhythmus, als Amelie... Amalia... egal, zu uns kam und vor mir zu Tanzen begann. Ihre Augen waren fest auf meine Brillengläser gerichtet und ihr Blick war heftig. Sanft biss sie sich auf ihre Unterlippe und drehte sich dann mit Schwung um 180° und drückte ihren Rücken näher an meine Brust. Ich spürte ihre Wärme durch meine Kleidung und für einen Moment genoss ich diese Nähe.
Johannes kam mit jeweils zwei Flaschen in der Hand aus dem Haus und die Runde empfing ihn pfeifend und jubelnd. In einer Fontäne schoss das prickelnde Getränk aus den Flaschen über uns alle und die Musik nahm Raum und Zeit. Wir tanzten und die kleine Brünette drückte sich immer fester gegen mich. Jeder Versuch ihre Hüfte von mir zu lösen missglückte und ihr Arsch rieb an mir. Ich hätte gelogen, hätte es sich nicht gut angefühlt, doch musste ich weg. Ich drehte mich aus der Bewegung und lief an den Rand der Gruppe zu meinem Bruder, um eine zu rauchen.
„Die Kleine hat ein Auge auf dich geworfen."
„Kann sein.". Ich versuchte möglichst unbeeindruckt zu klingen.
„Ich kann auf der Couch pennen, falls du unser Zimmer brauchst." sprach mein Bruder so beiläufig, als hätte er mir von dem morgigen Frühstück erzählt.
„Ne... passt schon. Ich will sie nicht."
„Is nur n Angebot, sag Bescheid." er lächelte mich etwas an.
„Ich glaub, ich kann das noch nicht."
„Dachte ich mir schon. Dann scheiß drauf und lass einfach Spaß haben. Sie wird dich schon irgendwann in Ruhe lassen."
„Meinst du nicht, es wäre ganz gut, um mich abzulenken?".
Fragte ich meinen Bruder gerade wirklich um Erlaubnis?!
„Keine Ahnung, Volkan. Scheinbar willst du dich ja nicht einfach ablenken lassen. Jedenfalls nicht von ihr. Ich mein, so lange ist ES jetzt auch noch nicht her. Ist doch ganz normal..."
Ich nickte, doch dachte ich noch über seine Worte nach. Irgendetwas in mir sträubte sich tatsächlich einfach eine der Weiber aufzugabeln und zu ficken. Aber vielleicht würde es dann mal etwas leichter werden und mein Selbstwertgefühl wäre nicht mehr so im Arsch.
„Ja, vielleicht..."
Hakan schaute wieder auf sein Handy und tippte eine Nachricht.
„Ich ruf nochmal Sophie an, gleich wieder da."
Klasse, wieder stand ich allein da. 

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt