98. Halt dich nicht zurück

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V

„Was meinst du mit ‚Ich wusste es'?". Verwirrung machte sich breit.
Er richtete sich etwas aus der Liegeposition auf, blickte noch immer nach unten.
„Ich habs gehört. Ist auch egal... ich hätte es vielleicht auch einfach nicht ansprechen sollten. Es war nur so, als ich das gehört habe, da... das hat mich krass gefickt. Also nicht, dass du mit nem anderen... sondern, dass ich es verkackt hatte. Weißt du, wie ich meine? Dass du in den Armen von einem anderen warst, dass es meine Schuld war. Und dann hab ich diese Nachricht geschrieben, weil ich ein verletzter Vollidiot war. Ich meinte es schon so, naja, den Teil, dass du für immer in meinem Herzen bist und dachte, dich endlich gehen lassen zu müssen."
Ich war sprachlos. Ich atmete ein paar Mal ein und aus, bevor ich etwas sagen konnte.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich dachte die ganze Zeit, du hättest jemanden kennengelernt oder wärst... mit dieser Charlie...und wolltest deswegen meine Sachen loswerden. Aber das macht natürlich absolut Sinn."
„Macht es das?" überrascht schaute er jetzt auf, Falten bildeten sich auf seiner Stirn und zwischen seinen Augenbrauen.
„Ja, schon. Es tut wahrscheinlich nichts zur Sache, aber... naja, also ja, wir kamen uns näher, aber du weißt, dass ich da...". Gott, war das schwierig. Ich eierte mit meinen Worten rum, aus Unsicherheit, zu viel zu sagen. Letztlich ging es ihn nichts an, was ich gemacht oder nicht gemacht habe, aber ich habe selbst gemerkt, wie erleichternd es gerade war, zu hören, dass er eben nicht mit dieser Frau... aber gab es danach eine? Ich riss mich zusammen und sprach die Worte einfach aus, bevor ich zu viel darüber nachdenken konnte.
„Ich glaub, ich sollte langsam den Mund halten.". Nun war ich diejenige, die ihr Glas intensiv inspizierte.
„Ne, ne. Rede ruhig weiter. Ist doch wichtig. Und ich höre dir jetzt einfach als Freund zu, nicht als... dein Ex.".
Dein Ex. Wie furchtbar waren diese Worte aus seinem Mund.
„Das kannst du?" fragte ich überrascht und gleichzeitig etwas misstrauisch.
„Wahrscheinlich nicht so gut, wie ich es wollen würde, aber ich will hören, wie es dir in der Zeit ging. Am liebsten würde ich alles hören, was du gemacht hast, worüber du nachgedacht hast. Ich will das wieder gut machen, naja, soweit man das überhaupt kann.". Er richtete sich nun wieder vollkommen auf, verschränkte seine Beine zu einem breiten Schneidersitz und steckte sich eine Kippe an, die er mir hinhielt, danach folgte eine zweite für sich selbst.
„Ok, Freund Volkan. Dann... dann erzähle ich jetzt unverblümt, was in den Monaten passiert ist, unter der Voraussetzung, dass du danach auch erzählst, ok?"
„Tamam. Auch wenn ich glaube, heute nur einen Bruchteil zu hören. Eine weitere Voraussetzung: Wir können immer wieder darüber sprechen, ok? Das ist heute keine einmalige Sache und eigentlich hätte ich bei unserem ersten Treffen gern darauf verzichtet..." er klopfte seine Asche an der fast leeren Colaflasche ab. „aber so ist es nun einmal. Du musst mir nur sagen, wenns... zu doll wird, oder unangenehm.". Ich nickte langsam, um ihm zu signalisieren, dass ich verstand.
„Okay... wo fängt man denn am besten an? Ich... also, als du hier bei mir warst, in Berlin, und das mit Charlie erzählt hast... um ehrlich zu sein, ist eine Welt für mich zusammengebrochen. Und das meine ich nicht so theatralisch, dramatisch, sondern ganz ernsthaft. Ich hab eigentlich alles daraufhin in Frage gestellt und bin in einem krassen Loch versunken. An manchen Tagen dachte ich, ich hätte es geträumt und bin weinend aufgewacht, weil ich immer wieder vor Augen hatte, wie du über einer anderen Frau liegst und sie... berührst und, ja. Ich hab krass viel gearbeitet, weil das irgendwie das war, was am beständigsten war. Da konnte mich niemand hintergehen oder enttäuschen, weißt du, wie ich meine?" er nickte etwas traurig vor mir. Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. Ich sah, wie sehr er sich schämte und griff im nächsten Moment seine Hand, hielt sie locker in meiner.
„Hey, du musst auch sagen, wenn es zu viel ist, ja?" er nickte wieder als Antwort auf meine Frage.
„Mach weiter, ich muss das hören.". Ich stieß kräftig den Atem aus, auch mir fiel es nicht leicht, ihm das so ungefiltert alles zu erzählen und ihn damit zu verletzen.
„Letztlich hab ich mich den ersten Monat im Büro verschanzt, weil ich es zu Hause kaum ausgehalten habe, alleine. Meine Freunde kamen immer wieder vorbei, um nach mir zu sehen, haben mir Essen gebracht, weil... ich irgendwie damit aufgehört habe."
„Ja, das ist mir aufgefallen, du bist... sehr dünn geworden, ohne das so krass wertend zu meinen."
„Ja... daran arbeite ich noch" ich lächelte ein müdes Lachen in dem Bewusstsein, wie viel ich abgenommen haben muss in dieser Zeit.
„Nach einiger Zeit habe ich mich dann wieder rausgetraut, bin ausgegangen, bin son Film gefahren, unantastbar zu sein, oder so..." jetzt lachte ich ernsthaft über die Erinnerung daran, wie ich teilweise durch die Straßen stolziert bin. „...ich hab mir eingeredet, dass es gut so war, wie es gekommen ist und ich ohnehin besser alleine dran bin. Dass ich niemanden brauche und Liebe immer weh tut. Glaube, ganz abgelegt habe ich diese Ansicht auch noch nicht..." den letzten Teil brachte ich deutlich leiser heraus. „Es hat mich ziemlich erschreckt, wie sehr ich mich in den wenigen Monaten an dich gewöhnt habe. Also wie viel Einfluss du auch auf mich hattest und die Erkenntnis, wie tief man dann fällt, war krass. Ich war enttäuscht von mir, dass ich das so zugelassen habe. Und als ich dir dann diesen Brief geschrieben habe, da wurde mir irgendwie klar, dass es ok war. Also, dass ich nicht böse mit mir sein muss. Jedenfalls nicht so sehr. Und... naja, du hast den Brief ja gelesen. Da war echt eigentlich der Punkt, wo ich ok damit war. Also, nicht damit, dass du fremdgegangen bist... also bist du ja nicht, aber..."
„Schon gut, ich verstehe schon. Halt dich nicht zurück, raus damit." unterbrach er mich kurz, streichelte dabei kurz über meinen Handrücken.
„Hmm... weißt du, als ich mit diesem Typen war..." ich zögerte einen Moment, als ich im Kerzenschein sah, wie sich seine Kiefermuskeln anspannten. Ich wollte ihm nicht unnötig weh tun und Dinge sagen, die ich danach nicht zurücknehmen konnte. Was, wenn er mir nichts aus seiner Zeit erzählte, wenn wir gleich einfach zu streiten anfangen würden und dieser Scheiß hier das letzte war, was ich ihm dann erzählt hätte. Doch dann wurde es mir klar. Wir mussten wirklich mit offenen Karten spielen, unsere Gefühle teilen, eben auch die nicht so schönen. Ich hatte ihn schon einmal verloren, oder wir uns, ich würde es auch nochmal überleben, wenn es so sein sollte nach diesem Gespräch. Mir wurde klar, dass ich nun schon einige Zeit in meinen Gedanken gesteckt haben muss und blickte auf. Volkan beobachtete mich, seine Gesichtszüge waren sanft und freundlich. Ich musste keine Angst vor ihm haben, oder seiner Reaktion. Es war Volkan, der vor mir saß.
„...ich dachte ich könnte einfach unverfänglich Sex mit ihm haben, einfach mal abschalten nach den vorherigen Wochen. Als wir uns dann geküsst haben, hat sich das so anders angefühlt, ganz fremd. Ich habe ihn die ganze Zeit mit dir verglichen und kaum ausgehalten, wenn er mich angefasst hat, bis ich dann abgehauen bin..." ich musste mein Lachen an die Erinnerung sehr unterdrücken. Im Nachhinein muss diese Situation für Jakob auch wahnsinnig bizarr gewesen sein.
„Ihr, also du... bist nicht da geblieben?". Ich glaubte ein wenig Freude in seiner Stimme gehört zu haben. Seine Frage war so galant formuliert, obwohl mir sehr klar war, was er eigentlich wissen wollte.
„Ne, ich hab meine Klamotten gegriffen und bin weg...wir haben nicht...". Er nickte nur und doch sah ich das Zucken seiner Mundwinkel.
„Es... es waren echt beschissene Monate. Es war super herausfordernd, das alles irgendwie wieder zusammenzubekommen und mich selbst aushalten zu können. Das ist auch die Angst, von der ich gestern gesprochen habe. Ich habe Angst, mich noch einmal so hinzugeben. Die Zeit mit dir... Du... hast das Potential, alles um mich und irgendwie auch mich zu vergessen. Soll halt gar nicht so böse klingen eigentlich. Aber es hat so eine Macht über mich bekommen, dass ich das so nicht noch einmal kann. Ich darf mich nicht mehr so krass hingeben, dass ich vergesse, wer ich bin. Dazu gehört eben auch dieser Punkt, über den wir früher schon gesprochen hatten. Dass du mich und uns geheim gehalten hast. Beziehungsweise ja musstest, ich weiß, und ich will dir damit auch keinen Vorwurf machen. Ich habe eben nur gemerkt, wie wenig ich letztlich über dich und uns und all den Scheiß, der da passiert ist, sprechen konnte, weil ich es geheim gehalten hatte. Ich konnte niemandem richtig erklären, warum es mir beschissen ging..."
Ich hörte ihn neben mir räuspern.
„Krass, das muss ich erstmal kurz verdauen. Du hast wirklich viel nachgedacht und ich würde fast sagen, nicht nur zu meinem Vorteil... aber... wenn es dir so schlecht mit mir ging, warum hast du dem allen zugestimmt? Warum bist du gestern zu mir gekommen? Warum bist du heute hier?!" er klang wütend, ließ meine Hand ein wenig los, sodass sich nur noch unsere Finger ohne Druck berührten.
„Weil es eben nicht nur deine Schuld ist, dass es so war. Ich habe es ja mitgemacht, war ja Teil dieser Dynamik. Ich wollte so unbedingt, dass das mit uns klappt, dass ich mich verbogen habe. Das habe ich jetzt verstanden. Und ich will das alles mit dir teilen, hören, was du denkst. Und ich habe nicht einfach mit dem Abend, an dem du vor meiner Tür standest, aufgehört dich zu lieben, Volkan. Das ist doch das Blödeste an der ganzen Geschichte gewesen... Dieses Dilemma, dich zu hassen, so wütend, traurig und verletzt zu sein, gegenüber Gefühlen, die dir gegenüber einfach noch da waren, die nicht verstehen wollten, was abging. Das war der Kampf, beide Seiten zulassen und akzeptieren zu können. Was meinst du wie bescheuert ich mich fühle... weil ich dich umsonst verflucht und gehasst habe. Als ich weg bin am Samstag nach dem Geburtstag, habe ich so viel daran denken müssen, wie es dir wohl damit ging, dass du zu Unrecht all diese Dinge auf dich genommen hast. Es tat mir so leid, dass das alles so gekommen ist und... wie gesagt, ich schäme mich ziemlich dafür. Natürlich war es zu dem Zeitpunkt eine andere Sache, aber das ist es eben jetzt nicht mehr...und das tut mir leid.". Seine Hand griff nun wieder fester nach meiner und einen Moment schauten wir uns an. Ich spürte, wie mich die Gefühle wieder einholten und bekam sofort wieder ein schlechtes Gewissen.

„Ich finde, du musst dich für nichts daran schämen. Ganz ehrlich, ich hätte safe genau so reagiert. Wahrscheinlich hätte ich nicht mal den Arsch gehabt, überhaupt irgendeine Art von Kontakt zuzulassen, abgesehen von Beschimpfungen vielleicht. Und ich fand das alles mehr als gerechtfertigt, echt. Wäre es andersherum gewesen... Gott bewahre... ich... hätte mich auch getrennt. Dieses Gefühl der Enttäuschung, dieser krasse Kopffick mit allen Fragen und Vorstellungen..." er schluckte heftig und brachte den Satz nicht zu Ende.
„Volkan?" vorsichtig sprach ich seinen Namen aus, da er in seinen Gedanken zu hängen schien.
„Hm?"

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt