74. Großer Fehler

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Volkan

Auch nach dreißig Minuten saß ich noch immer im Hausflur und versuchte meine Gedanken zu fassen. In mir war nur noch Leere und es fühlte sich an, als hätte mir jemand in den Magen getreten. Mehrfach.
Ich musste für heute aufgeben und entschied, in meine Wohnung zu fahren. Ich wollte sie nicht bedrängen und zwingen, mit mir zu sprechen. Also doch, eigentlich schon, aber ich wusste, dass das bei ihr das Gegenteil bewirken würde. Ich würde mich wahrscheinlich genauso verhalten.
Bevor ich in das Auto stieg, sah ich sie am Fenster stehen. Ich war mir sicher, dass sich unsere Blicke trafen und es gab einen kurzen Moment, in dem ich zögerte. Sollte ich doch noch einmal hochgehen und schauen, ob sie mich rein ließ? Sie bewegte sich nicht und gab mir kein Zeichen, auch nur den Ansatz einer Chance zu haben. Ich hielt ihrem Blick nicht mehr stand und setzte mich hin.

Als mich der Wagen vor meiner Wohnung absetzte, spürte ich dieses dumpfe Gefühl in mir. Ich wollte nicht hoch, ich fühlte mich so leer und schmutzig. Doch wo sollte ich hin, ohne mich erklären zu müssen.

Ich schloss meine Tür auf, schüttelte mir die Schuhe von den Füßen und lief ins Wohnzimmer. Mein Bruder schaute mich erwartungsvoll an. Er hatte kurzerhand entschieden, mich nach Berlin zu begleiten, um mich zu unterstützen. Ein Glück.
„Warst ja ganz schön lange weg. Wie hat sie reagiert?" er legte das Handy neben sich auf die Couch und guckte mich mitfühlend an.
Ich konnte nur mit dem Kopf schütteln, denn sofort stieg mir wieder das Wasser in die Augen. Diese ständige Heulerei machte mich langsam fertig.
„Volkan, was hat sie gesagt?"
Ich ignorierte ihn und lief in mein Schlafzimmer, um meine Jeans gegen einen Jogger zu wechseln. Ich hatte mich extra für V umgezogen, da ich wusste, wie gern sie Jeans an mir hatte. Mein Bruder lehnte mit einer Hand am oberen Türrahmen und fixierte mich mit seinem Blick.
„Volkan..."
„Sie hat gesagt, ich soll sie vergessen..." und sofort brach meine Stimme bei der Erinnerung daran, was sie sagte. Vor meinem Bruder konnte ich mich nie verstellen oder Gefühle zurückhalten. Er kannte jede Mikroexpression an mir zu gut und las quasi meine Gedanken.
„Wie... vergessen?". Ich wischte grob mit meinem Unterarm über mein Gesicht und versuchte mich wieder zu fangen.
„Sie kann es mir nicht vergeben. Ich verstehe es und gleichzeitig wünschte ich es mir anders. Sie hat so geweint und war so wütend, bis sie mich rausgeschmissen hat." ich konnte ihm nichts ins Gesicht schauen, während ich sprach und nestelte irgendetwas an der Kommode.
Hakan sagte nichts mehr und atmete nur hörbar aus. Ich lief an ihm vorbei in die Küche und füllte mir ein Glas Vodka ein. Ich brauchte dringend etwas gegen dieses Gefühl in mir. Ich nahm die Flasche gleich mit und stellte sie auf dem Glastisch ab.
„Und jetzt?"
„Keine Ahnung. Ich dachte, es würde mir besser gehen, sobald ich es ihr gesagt habe. Aber ich fühle mich noch beschissener. Du hättest ihre Augen sehen müssen... Abi, ich kann sie nicht loslassen, sie nicht verlieren. Ich kann einfach nicht glauben, dass das passiert ist."
Mein Bruder rutschte zu mir ans andere Ende der Couch und klopfte aufmunternd auf meine Schulter. Ich rutschte den Sitz der Couch etwas herunter, bis mein Kopf die Rückenlehne berührte und schloss die Augen. Bitte, lass es ein Albtraum gewesen sein.
Ihre Worte klangen wieder in meine Ohren nach und ich riss meine Augen sofort wieder auf.
Vergiss mich Volkan und geh endlich. Bitte
Ich starrte das Glas an, das ich zwischen meinen Fingern hielt und auf meiner Brust abgelegt hatte. Genau dieser Scheiß hatte dazu geführt, was am Freitag passiert war. Ich spielte mit dem Gedanken auch dieses Glas gegen die Wand zu werfen... andererseits würde mir der Inhalt kurz den Druck vom Kopf nehmen und mich vielleicht für diese Nacht vergessen lassen, was passiert war. Ich setzte den Glasrand an meine Lippen und schluckte gierig die klare Flüssigkeit und genoss das Brennen in meiner Kehle.

„Dich zu betrinken, wird dir hierbei auch nicht helfen, man" sagte mein Bruder in einem schroffen Ton zu mir. Ich nickte nur zustimmend. Recht hatte er.
„Versuch es doch morgen nochmal, dann konnte sie auch eine Nacht drüber schlafen."
„So ist sie nicht. Wenn sie eine Entscheidung getroffen hat, bleibt sie dabei. Komme was wolle."
„Ach komm schon. Noch schwarz-weißer kanns auch nicht werden, oder? Vielleicht ist es diesmal anders. Wenn's sein muss, kriech auf deinen Knien zu ihr und küss ihr die Füße.". Ich schielte zu meinem Bruder und schaute ihn skeptisch an.
„Du weißt, dass ich nicht um etwas bettle."
„Es geht hier nicht um Betteln, sondern, dass die Frau, die du liebst, checkt, dass du sie liebst. Sei nicht so stolz, in der Position bist du absolut nicht, Bro.".
Ich starrte nur auf meine Finger. Vielleicht hatte er Recht, aber es fiel mir so schwer einer Person nachzulaufen, wenn sie mich nicht wollte. Ich hatte mich schon häufig in meiner Vergangenheit zum Hund gemacht. Nachdem meine letzte Freundin untreu war, war ich sogar derjenige, der gekämpft hatte, wieder mit ihr zu sein. Großer Fehler. Immer wieder schossen die Bilder von damals durch meinen Kopf.
„Wollen wir bisschen zocken, zum Ablenken?" seine Worte unterbrachen das Kopfkino.
„Hm..."
„Hm ja oder hm nein?"
„Keine Ahnung..."
Hakan stand einfach auf und holte die Controller von der Ladestation. Das Spiel half, mich etwas von meinen Gedanken zu befreien und ich schaltete endlich etwas ab, bis wir entschieden, ins Bett zu gehen. Schnell holten mich meine Gedanken wieder ein und in meinen Träumen sah ich immer wieder den Moment, in dem ich V das Herz mit meinen Worten brach. Immer wieder wachte ich auf, sah neben mich bis ich erkannte, dass es doch Hakan war, der neben mir lag, nicht sie und schloss erschöpft wieder meine Augen. Um sieben Uhr fand ich nicht mehr zurück in den Schlaf und versuchte mich mit Kaffeekochen und Duschen zu beschäftigen, bis ich mich auf den Weg zu V's Wohnung machen konnte. Ich war aufgeregt, oder doch eher nervös und ängstlich zugleich.

Ich stand eine Weile vor ihrer Tür, hatte absichtlich den Moment abpassen wollen, wenn sie losging zur Arbeit. Immer wieder strich ich nervös über meine Kleidung und starrte auf die Haustür. Doch sie kam nicht.
Ich klingelte. Ein Mal. Zwei Mal. Nichts. Mein Blick klebte am Klingelschild, hoffend, endlich die ihre Stimme in der Gegensprechanlage zu hören.
Ich drehte mich zu Hakan, der geduldig am Steuer meines Wagens saß und fragend gestikulierte. Ich schüttelte den Kopf und auch nach weiteren zwei Minuten passierte nichts, sodass ich mich geschlagen geben musste und zurück zur Beifahrertür schlurfte. Es fühlte sich so falsch an, jetzt Berlin zu verlassen und einen Teil meines Herzens hier zu lassen. Doch musste ich auch professionell bleiben und meine Tour schaffen. Ein neuer Plan musste her. Mit mehr Zeit.

Hakan fuhr uns nach Hamburg und ich holte ein wenig Schlaf nach, um am Abend nicht zu sehr im Arsch zu sein. Meine wirren Gedanken die einfach kein Ende fanden, halfen letztlich einzuschlafen. Das kräftige Stupsen an meiner Schulter ließ mich aufschrecken und ich sah mich verwirrt um.
„Wir sind da. Lass rein und direkt Soundcheck machen, dann können wir nochmal pennen.".

Die Show in Hamburg verlief reibungslos. Ich hatte also doch noch genug Professionalität in mir, dass ich mir nicht sofort von Fremden alles ansehen ließ. Wie auf Autopilot machte ich nach der Show die Fotos und lächelte in die Kamera. Hätte ich zu diesem Zeitpunkt nur gewusst, dass mein Lächeln für eine sehr lange Zeit verschwunden sein würde...

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt