68. Im Hinterzimmer

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Volkan

V und ich telefonierten noch während der gesamten Fahrt zurück ins Hotel. Wir wurden beide wieder etwas ruhiger und ich spürte ihren sanften Blick auf mir während der Fahrt.
Ich konnte mir selbst nicht erklären, warum ich auch so emotional wurde, als wir uns verabschiedeten und ich konnte mich nicht stoppen, sie noch einmal zu sehen. 
Als ich den Wagen parkte und den Schlüssel an der Rezeption zur Abholung abgab, sah ich Johannes auf mich zulaufen, der gerade aus Richtung der Fahrstühle kam.
„Hey, was geht?" Wir schlugen ein und nahmen uns halb in den Arm.
„Wollte gerade eine rauchen gehen, kommst du mit?"
„Wieso hier unten?"
„Kein Bock, dass meine Klamotten jetzt schon so krass stinken, gerade erst frisch gewaschen... Ist V gut weggekommen?" Wir liefen gemeinsam in Richtung des Ausgangs.
„Ja, hat den Zug bekommen, aber der Abschied war bitter.". Johannes hielt mir seine Schachtel entgegen und ich griff nach einer seiner Marlboros.
„Was war denn Freitagabend eigentlich los?"
„Ich war high und besoffen und hab mich krass dumm verhalten. Wir haben gestern Abend ziemlich heftig gestritten. Aber es ist erstmal wieder gut"
„Heißt aber, sie hat dir das mit Charlie verziehen?"
„Mit Charlie?"
„Naja das am Freitag. Im Hinterzimmer."
„Keine Ahnung, was du da redest. Was war denn im Hinterzimmer?"
„Volkan, hör auf. Bitte sag mir, du erinnerst dich.". Ich schwieg und strengte wirklich meinen Kopf an, mir die Erinnerungen zurückzugeben. Doch vergebens. Johannes musterte meinen Ausdruck und merkte meine Verzweiflung, da ich noch immer keine Ahnung hatte, was er mir sagen wollte.

„Ich hab dich gesucht, weil du auf ein Mal weg warst und die Anderen meinten, du bist mit nem Mädel weg. Dann war ich auf den Toiletten und am Hinterausgang, hab dich aber nicht gefunden. Hab dann noch in diesem Privatraum geguckt und dich da mit ihr gesehen..." Johannes unterbrach, um an seiner Kippe zu ziehen. Langsam blies er den Rauch aus. Ich hing an seinen Lippen, um endlich alles von dem Abend zu hören und nachdem er meinen Blick sah, fuhr er gleich fort.
„Sie saß auf dir und hatte nur noch Unterwäsche an und du nur noch die Hose... die war aber offen. Keine Ahnung, ob ich vorher oder nachher reingekommen bin. Ihr habt euch jedenfalls geküsst, als ich rein bin.". Johannes Stimme wurde leiser und war voller Bedauern. Ich schloss die Augen. Ich konnte einfach nicht glauben, was er mir da sagte. Niemals hätte ich eine andere Frau angefasst und schon gar nicht Charlie. Nach den letzten Wochen und meiner eigentlich so deutlichen Ansage ihr gegenüber, hätte ich gedacht, das zwischen uns wäre gegessen und jetzt erzählt er mir, dass wir rumgemacht haben sollen?!
„Fuck. Ich kann mich an nichts erinnern.". Also hatte V doch Recht. Ich hatte Augen für andere Frauen und konnte mich scheinbar nicht zurückhalten. Wie sollte ich ihr das erklären? Es würde ihr das Herz brechen und ich würde sie verlieren. Ich war vollkommen weg an dem Abend...
Jetzt machte es alles Sinn. Warum Charlie gestern so touchy in der Shishabar war und meinte, dass es Freitag noch anders war. Es macht Sinn. Und ich wünschte es wäre nicht so.
Ich war so traurig und wütend. Wütend über mich selbst. Wie konnte ich so ein Arschloch sein und fremdgehen. Nach meiner eigenen Vergangenheit und meiner letzten Beziehung wusste ich doch, wie scheiße es für die andere Person war. Mit welchem Gefühl ich damals da saß, als ich es rausgefunden hatte und mir immer wieder vorstellte, wie sie mit einem anderen fickt. Ich wusste es doch und trotzdem tat ich scheinbar das gleiche. Mir wurde schlagartig übel. Ich ekelte mich vor mir selbst. Langsam kamen wieder Johannes Worte bei mir an, ich schien einige Momente komplett in meinen Gedanken gewesen zu sein.
„Bro, alles ok? Du bist krass blass."
„Was mach ich denn jetzt?"
„Lass uns erstmal hoch gehen und dann überlegen wir, was du machen kannst."
Ich folgte Johannes wie ein geschlagener Hund nach oben in sein Zimmer. Ich setzte mich auf die Couch im Vorzimmer und vergrub mein Gesicht in meinen Händen.
„Aber ey, was war denn der Grund für euren Streit dann gestern?"
„Ich hab paar ziemlich eklige Dinge zu ihr gesagt. Dass, wenn sie nicht mit mir auf Toilette geht, es bestimmt ne andere macht. Und ob sie nen anderen Typen geklärt hat. Und jetzt guck mich an, Alter. Sie hatte scheinbar da schon gecheckt, was ich für ein Opfer bin."
„Willst du es ihr sagen?"
„Keine Ahnung.". Wie saßen schweigend auf der Couch und meine Gedanken drehten Kreise.
„Ey, aber mal kurz die andere Seite. Man hat sofort gecheckt, wie durch du bist. Charlie hat richtig drauf geschissen. Kann mir schon vorstellen, dass sie es auch krass provoziert hat. Ich hab sie auch direkt aus dem Raum geschmissen. Wir können sie auch kündigen, wenn du es möchtest. Ne neue Person für die Maske finden wir easy."
„Ich muss mit Charlie reden. Nur sie weiß, was tatsächlich passiert ist."
„Ja... mach das. Warte dann vielleicht damit, was du V sagst. Also du weißt ja noch nicht mal, was abging."
Ich lief geknickt wieder in mein Zimmer. Also eigentlich V's Zimmer... alles hier erinnert mich an sie und machte das schlechte Gewissen und den Stein in meinem Magen nicht besser. Johannes gab mir die Nummer von Charlie und ich tippte schnell eine Nachricht, um diesen unangenehmen Teil endlich hinter mich zu bringen.

Volkan 17:16: Volkan hier. Bist du im Hotel, können wir mal reden?"

Ich starrte auf den leeren Chat und wartete. Ich konnte nicht fassen, was ich Freitag alles verbockt hatte. Ich schämte mich so sehr, dass ich nicht einmal mit meinem Bruder darüber sprechen wollte. Er würde mir den Kopf abreißen, so viel war klar. Das Vibrieren meines Handys auf dem Tisch riss mich wieder aus meinen Gedanken.

Charlie 17:24: Hey! Schön von dir zu hören, woher hast du denn meine Nummer? Ich geh mit ner Freundin was trinken, bin schon los. Komm doch nach, würde mich freuen.
Volkan 17:24: Von Johannes. Ne... muss mit dir alleine reden.
Charlie 17:25: Na dann lass uns doch morgen im Bus reden. Dann haben wir eh genug Zeit, bis wir in Köln ankommen ;)

Ich antwortete ihr nicht mehr auf ihre Nachricht. Wie sollte ich das bis morgen aushalten. Ich musste mich bis morgen früh ablenken, bis ich mehr Klarheit und Gewissheit hatte. Dann konnte ich über die Konsequenzen nachdenken.
Ich kramte nach meiner kurzen Nikeshorts und schlüpfte in ein paar Sneaker. Als ich aus dem Hotel trat, übertönte die Musik in meinen Ohren schnell meine lauten Gedanken. Ich lief los. Mir war vollkommen egal wohin, ich wollte nur raus aus der Innenstadt. Weg von den Menschen um mich herum und irgendwie auch weg von der Realität und vor mir selbst. Meine Kondition hatte nach dem ganzen Rauchen und Saufen ziemlich gelitten, doch ich schaffte die fünf Kilometer. Ich war in einer ruhigen Gegend angekommen, nahe einem kleinen Waldgebiet und machte auf einer Bank am Straßenrand eine kurze Pause. Um die Uhrzeit konnte ich nicht mehr in den Wald laufen. Ich würde nie wieder rausfinden und ich hatte doch etwas zu viel Schiss, alleine in einem dunklen Wald. Ich trat die Kippe am Boden aus und machte mich wieder auf den Weg. Immer wieder erhöhte ich die Lautstärke der Musik, sobald die Gedanken wieder hörbar wurden. Ich lief und lief, bis meine Beine streikten und ich am Straßenrand zu Stehen kam und auf der Straße zu Boden fiel. Ich war fertig. Meine Beine brannten wie Feuer. 
Mein Plan, den Weg auch wieder zurück zu joggen kam mir utopisch vor, als ich auf Maps meinen Standort sah. Es war mittlerweile fast 21 Uhr, es würde mich Stunden kosten, im Hotel anzukommen. Ich rief mir einen Wagen und rappelte mich soweit auf, um nicht mehr zu knien, sondern auf dem Bordstein zu sitzen und eine weitere Kippe zu rauchen.
V hatte sich inzwischen gemeldet und war gut in Berlin angekommen. Sie sendete mir ein Foto von sich auf der Couch. Der nächste Schub der Wut durchfuhr mich und ich musste über mich selbst den Kopf schütteln. 
Zwei Scheinwerfer blendeten mich derartig, dass ich aufstehen und meine rechte Hand als Sichtschutz vor meine Augen hielt.
Mit gesenktem Kopf ließ ich mich auf der Rückbank nieder und versuchte Blickkontakt zu dem jungen Fahrer zu vermeiden. 
„Hi, bist du Volkan?"
„Jap."
„Warte mal, bist du nicht Apache? Ich bin ein riesen Fan von dir! War Freitag auch auf deinem Konzert. Du hast so zerrissen, Alter."
„Danke dir. Freut mich, dass es dir gefallen hat."
„Was für ne Ehre, aber was machst du hier draußen? Wollte die Fahrt schon ablehnen, krass weit draußen."
„War joggen. Können wir los? Ich bin echt kaputt."
„Klar. Können wir vielleicht später noch n Bild machen? Würde mich krass freuen."
Ich nickte und mein Blick schwenkte zum Fenster, um ihm zu zeigen, dass ich nicht weiterreden wollte. 

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt