100. Tamam, yeter!

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Volkan

Ich spürte das Vibrieren meines Handys in der Hosentasche meines Joggers und streckte mein Bein etwas aus, um in die Tasche greifen zu können. Ich lehnte mich wieder auf der Couch meines Bruders zurück und aktivierte den Bildschirm. Sofort schlich sich dieses bescheuerte Grinsen wieder auf mein Gesicht, weil ich ihren Namen las. Es waren zwei Tage vergangen, seit wir uns gesehen hatten und eigentlich wollte ich sie gleich nach dem nächsten Treffen fragen, aber mein Bruder legte mir nahe, etwas auf die Bremse zu treten.
Sagen wir, ich hielt mich nur halb daran.

V 12:32: Samstag passt gut! Das mit dem Club würde ich dann spontan entscheiden :)

Es war nicht unbedingt mein Wunsch, gleich wieder was in der Runde mit ihr zu machen, nur ließen mir meine Termine keine andere Wahl. Am Abend würden die Jungs vorbei kommen und ab Sonntag würde ich eine Woche nicht in Berlin sein und länger konnte ich definitiv nicht warten, um sie wiederzusehen. Zu lang hatte ich schon ohne sie verbracht. Ich lud sie ein, vorher mit mir zu essen, allein. Was danach passieren würde, würden wir sehen.

Volkan 12:33: Wie wärs so um 18 Uhr? Die Jungs kommen schon so gegen halb zehn, denke ich.
V 12:33: Sollte passen. Aber nur unter einer Voraussetzung.
Volkan 12:33: Die wäre?
V 12:34: Ich koche für uns. Du hast dir am Montag schon so viel Mühe gemacht...
Volkan 12:34: Geht klar!

Grinsend legte ich das Handy auf dem kleinen Holztisch vor mir ab und spürte die Vorfreude in mir.
„Gute Nachrichten?". Hakan kam gerade mit zwei Gläsern, Wasser und zwei Energydosen in das Wohnzimmer gelaufen. Mittlerweile war es um uns herum etwas chaotisch, denn Sophie brachte Stück für Stück ihr Zeug nach Berlin. Das Wohnzimmer war vollgestellt mit Kartons und Tüten.
„Ja, könnte man so sagen...Wann ist es eigentlich so weit?". Ich versuchte erst einmal das Gespräch abzulenken, damit ich mir keine Predigt anhören musste, was es hieß, langsam zu machen.
„Was meinst du?"
„Na, bis deine Mitbewohnerin fest einzieht?". Ich ließ meinen Blick erneut durch das Wohnzimmer gleiten.
„Sie ist nicht meine Mitbewohnerin, sie ist meine Freundin.". Ich rollte nur mit den Augen, weil er mich wieder einmal korrigierte und griff nach einer der Dosen.
„Tamam, wann zieht Sophie richtig ein?". Mit einem Zischen hob ich die Lasche der Dose nach oben und nahm einen Schluck.
„In drei Wochen war der Plan. Wenn wir aus Hamburg zurück sind, bringt sie nochmal eine Fuhre und wenn wir dann von den zwei Konzerten wieder da sind... ja, dann ist es soweit.".
„Nervös?". Seufzend fiel mein Bruder neben mir in die weichen Kissen und breitete seine Arme auf der Lehne aus.
„Wär gelogen, wenn ich sagen würde, es wäre mir egal. Sie ist halt eh schon so viel hier, dass ich hoffe, dass sich gar nicht viel verändert... beziehungsweise es einfach noch schöner wird. Ich hätte echt nicht gedacht, wie schnell sie mir ans Herz wächst. Trotz des ganzen Chaos und dass ich so viel unterwegs bin. Ist schon krass, mit jemandem zusammen zu wohnen und irgendwie ja den nächsten logischen Schritt auch zu gehen.". Mein Bruder schaute mich erst erschrocken, dann etwas mitleidig an. „Sorry, ich wollte nicht..."
„Alles gut. Ich kann das schon trennen, das mit Sophie und dir. Und... naja, wird ja langsam wieder."
„Ja? Meinst du, das mit dir und V könnte nochmal klappen?"
„Ich hoffe, ja? Sie... kommt Samstag her, bevor ihr dann zum Anstoßen kommt. Wir wollen zusammen essen...Sie kocht für uns."
„Ach, das hatte das Grinsen zu bedeuten" lächelnd nickte er in Richtung meines Handys. Ich nickte nur.
„Ist doch gut, Bro. Aber wie hast du dir das für später gedacht?".
„Naja, sie weiß Bescheid, dass ihr herkommt...mal sehen, ob sie dann bleibt, oder vorher abhaut. Das mit dem Release hab ich jetzt noch nicht erzählt. Ich hätte es sonst auch an nem anderen Tag gemacht, aber sie kann Freitag nicht und Sonntag sind wir dann ja auch schon weg...".
„Und ne Woche ohne sie zu sehen, hälst du nicht mehr aus?" stellte er etwas belustigt fest.
„Ich will es halt nicht mehr aushalten. Uns wurde so viel Zeit weggenommen, ich möchte keine Sekunde zu lange warten, wenn das alles Chancen seinen können, mit ihr zu sein und das irgendwie wieder hinzubekommen.".
„Ich versteh es schon, reg dich nicht auf. Kannst ihr ja sagen, dass Sophie auch kommt, vielleicht überzeugt sie das, dass sie nicht mit 15 grölenden Männern hier rumhängen muss."
„Sophie kommt?! Perfekt, Abi! Dann kommt sie safe auch mit in den Club.".
„Ich bin nicht der Moralapostel, aber du solltest Samstag dann bisschen ruhig machen. Ich mein, euer letzter Clubbesuch ist... wie soll ich es ausdrücken..."
„Beschissen? Im Albtraum?" half ich ihm aus, da mir ausreichend Worte einfielen, um diesen Abend zu beschreiben.
„Ja, das könnte man sagen... geendet."
„Keine Sorge, ich weiß... Sowas wird mir nie wieder passieren. Darauf setze ich alles, was ich habe."
„Tamam, ich hab einfach auch einen kleinen Blick auf dich, dann kann nichts schief gehen.". Lachend schlug er mir mit der offenen Hand auf die Schulter und widmete sich seinem Handy, tippte auf das Display ein, bis er für einen Moment zu mir aufsah.
„Äh, hast du nochmal Bock auf Festival dieses Jahr?" konzentriert klebte sein Blick weiterhin am Bildschirm.
„Es ist September."
„Anfang September...da ist n Act abgesprungen. Passt eigentlich ganz gut rein, wäre paar Tage nach Hamburg, du könntest also nochmal kurz durchatmen, bevor wir dann losfahren zu deinen Konzerten."
„Hm, ich weiß nicht. Wo denn?"
Der Kopf meines Bruders drehte langsam zu mir, während er mir ein selbstgefälliges Lachen zuwarf.
„Heimspiel, Lollapalooza fragt an.". Noch während er mir die wenigen Infos gab, hielt er sich das Handy ans Ohr.
„Hi, habs schon gelesen... ja, hab ihn schon gefragt, er ist gerade neben mir... kein Plan, bisher hat er nichts gesagt." fragend schaute er mich an. Ich wog kurz in Gedanken ab. Festivals machten Spaß, aber eben nicht so viel Spaß, wie die Konzerte. Auf der anderen Seite müsste ich nicht reisen, es wäre also nur ein halber Tag...
„Er zuckt mit den Schultern, ist also bestimmt ein Ja. Ich schreib da später ne Mail zurück und schick dir dann alles... Alles klar, Ciao." Beendete Hakan das Gespräch.
Er legte sein Handy auf dem Tisch neben meinem ab und öffnete auch seine Dose.
„Gut, also, dann würde ich sagen, machen wir morgen einen Bürotag, um die Tage in Hamburg zu besprechen und schon mal für nächsten Monat Mannheim und... dann auch alles fürs Festival vorzubereiten. Johannes kommt auch, damit wir direkt alle Infos weiterschicken können an den Rest vom Team fürn Aufbau."
„Tamam, machen wir so."
„Die Kostüme für den Dreh in Hamburg haben wir schon ins Büro geschickt bekommen, meinte Johannes. Die müsstest du dann morgen anprobieren noch."
„Tamam... machen wir so." antwortete ich erneut wenig euphorisch. In meinem Magen entwickelte sich dieses flaue Gefühl, das ich immer bekam, wenn mich etwas nervte. Doch ich versuchte es zu schlucken.
„Was los?"
„Nichts, alles gut, passt so.". Ich griff wieder nach meinem Handy, scrollte blind durch meine Mails.
„Volkan, ich merk doch, dass dir was nicht passt. Kein Bock auf Festival?".
„Doch, klar. Ist gut hier in Berlin. Vor allem, wenn das Angebot gepasst hat."
„Was ist es dann?".
Ich blieb stumm. Ein lautes Seufzen war zu hören und im Augenwinkel sah ich, wie mein Bruder sich aufsetzte. Er wurde wütend.
„Du weißt, dass genau das das Problem ist, wenn man sich verliebt. Du verlierst den Kopf und ich spüre, wie du keinen Bock hast. Aber du kannst jetzt nicht einfach aufhören zu arbeiten und die Termine kicken, nur weil du in Berlin bei V bleiben willst. So geht es nicht, tamam mı? Du hast dich für das Business entschieden, du wusstest, was das bedeutet. Jetzt reiß dich zusammen, bitte. Echt, ich hab keinen Kopf dafür."
„Ich hab doch gar nichts gesagt, ist doch gut jetzt."
„Nein, ist es nicht. Du hast wieder diese ganz komische Attitude, als würden wir dich zu diesen ganzen Sachen zwingen. Wir haben dir immer wieder gesagt, dass du dich an keine Stadt binden sollst, dich nicht verlieben sollst, dass es so einfach nicht funktioniert. Und jetzt ist es doch wieder passiert und wir sollen die Launen aushalten. Das nervt! Ich weiß doch jetzt schon, mit welcher Fresse du in den nächsten Wochen rumläufst, wenn wir unterwegs sind. Du hast Verpflichtungen, genau so wie wir und wir werden jetzt nicht nach all den Jahren anfangen unprofessionell zu werden, weil du dein Herz verschenkst.". Seine Stimme knallte mit voller Wucht in mein Herz. Mittlerweile war aus deinem Sprechen ein Schreien geworden. Er schrie immer weiter auf mich ein und ich blickte nur noch hinunter auf meine Finger, spielte mit meinem Ring am Zeigefinger. Er war einer der wenigen Menschen, von denen ich mich anschreien ließ... leider.
„Hörst du mir zu oder ist da oben schon wieder auf Durchzug gestellt?" wild fuchtelte er mit seiner Hand vor meinen Augen. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals und konnte nicht antworten.
„Ich weiß echt nicht mehr, was ich mit dir machen soll, Volkan. Ich dachte nach der Sache mit Kara hättest du begriffen, dass beides gleichzeitig einfach nicht geht. Du musst dich konzentrieren und kannst nicht nur dann mitmachen, wenn V gerade nicht da ist, oder du mal Bock hast. Du musst endlich Verantwortung übernehmen für dein Leben!"
„Ja, tamam, yeter! Es reicht doch mal..." schrie ich ihm nun entgegen. Ich hatte genug. Doch er scheinbar auch.
„Du hörst mir nicht zu, hab ich das Gefühl. Es reicht schon lange. Johannes und ich sind doch nicht deine Animateure, die dich jedes Mal bei Laune halten müssen, damit du auf die scheiß Bühne gehst. Wir kriegen es doch auch hin, normal weiter zu arbeiten, ohne jedes Mal mit Liebeskummer in der Ecke zu sitzen und uns selbst zu bemitleiden. Es wird Zeit erwachsen zu werden.".
Er hatte eine Grenze überschritten. Als Reaktion auf die Kränkungen blieb mir nur, ihn auch weiter anzuschreien oder körperlich zu werden. Ich merkte die Aggression in mir stärker werden und stand auf.
„Wo willst du jetzt hin?! Wir sind hier noch nicht fertig!". Mit einer öffnenden Armbewegung zeigte er vorwurfsvoll auf den Papierberg vor uns, den wir heute eigentlich durchgehen wollten.
„Doch sind wir. Ich hab kein Bock mehr, mich von dir anschreien zu lassen." gab ich betont ruhig in seine Richtung, ohne ihn anzusehen. Während ich sprach, ging ich bereits in den Flur, zog mir meine Schuhe und Jacke an und griff nach meinem Autoschlüssel auf der kleinen Ablage. Meine Hand ging wie automatisch prüfend zur Hosentasche. Doch sie war leer. Fuck
Mein Abgang verlor in der Sekunde an Wirksamkeit, als ich wie ein Trottel durch die Wohnzimmertür zurückkam. Schnell zog ich mir noch meine Brille auf, bevor ich vor dem Couchtisch ankam, an dem mein Bruder noch immer saß und abweisend auf sein Handy schaute. Er würdigte mich keines Blickes, als ich nach meinem Handy auf dem Tisch griff, mich sofort wieder umdrehte und die Haustür lautstark hinter mit zuzog.
Verzweifelt musste ich erst einmal tief ausatmen. Es fiel mir jedes Mal wahnsinnig schwer, mich gegen meinen Bruder zu behaupten und mir diese gemeinen Dinge nicht sagen zu lassen. Alle paar Monate hatte er einen Ausbruch wie diesen und hielt mir Dinge vor, die bis zum gestrigen Abend nie ein wirkliches Problem waren. Und dann packte er aus und haute sie mir ungefiltert verbal in die Fresse. Wenigstens wusste ich jetzt, wie er wirklich dachte. Die Wut packte mich wieder und bevor ich es mir anders überlegen konnte und wieder hineingegangen wäre, um meinem Ärger Luft zu machen, zündete ich mir eine Kippe an und stieg in meinen Wagen.

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt