110. Du bist überall

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V

„Hey, kannst du das lassen? Es nervt langsam ein bisschen.".
„Hm?". Irritiert schaute ich rüber zu Jonathan, der am Schreibtisch neben mir gerade einige Dokumente durchforstete. Er schien mein fragendes Gesicht gelesen zu haben, zog die Augenbrauen hoch und nickte in Richtung meiner Hand, die auf der dunklen Holzplatte des Tisches vor mir lag. Meine Fingernägel trommelten rhythmisch auf der Oberfläche, nur hatte ich es überhaupt nicht mitbekommen. Sofort hielt ich inne.
„Sorry"
„Danke. Du machst mich schon ganz nervös. Ist irgendwas?" er schaute fragend von den Zetteln in seiner Hand auf.
„Ne... quatsch, was sollte los sein?" ich setzte ein friedliches Lächeln auf, schaute dann jedoch direkt wieder auf meinen Bildschirm. Die Mail hatte ich vor bestimmt einer halben Stunde angefangen und bisher ganze fünf Worte geschafft. Sehr geehrte Damen und Herren. Wow.

„Ich weiß nicht. Du bist abwesend irgendwie und starrst Löcher in die Luft. Jeden Tag ein bisschen mehr. Willst du über was reden? Hast du vor zu kündigen, oder so?"
„Nee... ne, ne, alles gut". Ein Ne mehr und er glaubt vielleicht, dass alles gut ist.
„Na gut, dann verlier dich mal weiter in deinen Gedanken, ich gucke in ner halben Stunde nochmal nach dir, ok?". Zwinkernd verließ er nun mein Büro, lehnte die Tür jedoch nur an, damit ich noch hörte, was draußen auf dem Flur passierte.
War ich wirklich so weg, dass ich die letzte halbe Stunde nichts mitbekam? Ich ließ die letzten Tage Revue passieren. Eigentlich hatte ich ständig solche Momente wie eben, nur, dass sie sich von Tag zu Tag steigerten. Erst waren es immer nur ein paar Sekunden. Dann doch ein paar Minuten. Und ich musste nicht lange überlegen, woran ich dachte. Oder viel mehr an wen.
Ich sollte mich auf die Arbeit konzentrieren, doch meine Gedanken gingen wie von selbst immer wieder zu Volkan. Bis auf die kurze Nachricht Dienstagmorgen und das Foto vom Set, bei dem ein neues Video für einen noch unbekannten Song gedreht werden sollte, hörte ich wenig von Volkan. Im Gegensatz zu dir arbeitet er.
Er fehlte mir. Immer wieder schlich sich sein unverkennbares Lächeln in meinen Kopf, oder die Erinnerung daran, wie wir den Sonntag verbracht hatten, bis Hakan ihn abholte und sie nach Hamburg fuhren. Es war mittlerweile Donnerstag und ich wusste, dass er bald wieder zurückkommen wollte. Ich hatte mich nur nicht getraut, nach genaueren Informationen zu fragen, wann er wieder hier sein würde und ob wir uns bald sehen würden. Ich wollte mich nicht aufdrängen.
Ich startete einen erneuten Versuch, die Mail zu formulieren und merkte bereits, wie meine Gedanken abdrifteten. Entnervt atmete ich hörbar ein und aus, griff dann zu meinem Handy und öffnete seinen Chat.

V 16:24: Ich hab's echt versucht, aber ich kann nicht aufhören an dich zu denken.

Ich sendete meine Nachricht ab, sperrte den Bildschirm und ließ das Handy wieder in meine Tasche fallen. Gut, ich fühlte mich leichter. Es tat gut, es ihm einfach zu sagen. Kurz überlegte ich, die Nachricht zurückzurufen, doch wie bescheuert wäre das.

Ich versuchte, mich zusammenzureißen und konzentrierte mich wieder auf diese niemals enden wollende E-Mail vor mir, die letztlich doch innerhalb weniger Minuten geschrieben und sendebereit war. Ich durfte mich von ihm nicht mehr so ablenken lassen. Vor allem, wenn er nicht ein mal hier war, sondern nur in meinen Gedanken.
„Feierabend?". Wieder stand Jonathan in der Tür, während er seinen Arm durch den Ärmel seines Trenchcoats fädelte und anschließend die Umhängetasche umlegte. Mit einem schnellen Blick prüfte ich die Zeit in der unteren Ecke meines Bildschirms und stellte fest, wieder nicht ganz anwesend gewesen zu sein in den letzten Minuten. Die Zeit war einfach verflogen.
„Ja... ich glaub schon.".
„Vielleicht besser. Hast du Lust auf ein Bier bei Frank?". Ich war seit einigen Wochen nicht mehr mitgegangen in die Eckkneipe und merkte, wie gut mir diese Ablenkung tun würde.
Ich fuhr unmittelbar den PC herunter, schnappte meine Sachen und folgte Jonathan nach draußen.

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt