88. Kleidung, Kleidung, Kleidung

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V

Wie ein Schandmal spähte ich immer wieder in meinen Flur, in dem ich die beiden Reisetaschen abgelegt hatte. Nein, eigentlich hatte ich sie nicht abgelegt, sondern hingeworfen. Ich hatte mich in den letzten zwei Stunden dermaßen zusammengerissen, dass mir der Mut und die Kraft fehlten, die Taschen in meine Wohnung zu holen, geschweige denn sie auszupacken. Nachdem ich mich also in meine bequeme Kleidung geworfen hatte und mich erst einmal auf die Couch legte, um etwas zu entspannen, fühlte sich mein Blick nun von den Taschen angezogen, wie eine Motte vom Licht. Irgendwann reichte meine Selbstberuhigung nicht und ich knöpfte mir die erste Tasche vor. Kleidung, Kleidung, Kleidung. Mein Gott. Irgendein Teil in mir war enttäuscht. Etwas schambehaftet kam mir nun mein Brief in den Sinn. Ich hatte mich ihm vollkommen ausgeschüttet und ihm noch einmal Einblick in mein Innerstes gegeben. Und er?! Er hatte wirklich nur meine verfickte Kleidung in diese scheiß Taschen gelegt, um sie und mich loszuwerden. Wütend zog ich ohne Rücksicht darauf, dass sie sorgfältig zusammengelegt wurden, nacheinander alle Shirts und Hosen aus der Tasche, bis sie leer war. Die Wut stieg mir zu Kopf. Weniger darüber, dass er sich scheinbar nicht darum scherte, sondern über diese dumme Idee, ihm einen Brief in die Tasche zu legen. Du bist so albern. Süß, dein kleiner, herzzerreißender Brief.
Ich riss nun auch den Reißverschluss der zweiten Tasche auf und zog die Stoffe und Kosmetikartikel heraus, bis mir ein T-Shirt auffiel. Ich hielt sofort inne und stoppte auch zu atmen. Viel zu groß war die Angst, diesen Moment und die Hoffnung mit meinem Atem zu verjagen.
War das...? Unmöglich. Etwas sanfter griff ich nach dem mir so bekannten Stoff und faltete ihn auseinander. Es war tatsächlich sein Shirt. Das, was er mir dagelassen hatte, als er auf Tour fuhr. Das Shirt, das ich trug, als wir uns die erste Nacht wiedersahen in Mannheim. Ich presste es an mein Gesicht und atmete seinen Duft tief ein. Als ich ausatmete, liefen auch die Tränen unkontrolliert aus mir heraus. Ich schluchzte, weinte laut vor Bedauern in das Hemd und beruhigte mich gleichzeitig mit der Gewissheit, dass auch er mir etwas geschickt hatte. Dass auch er nicht einfach emotionslos die Taschen packte und Hakan für unsere Übergabe gab. Ich fiel mit dem Shirt auf meinem Gesicht auf die Seite und befand den Flur als perfekten Ort zum Hinlegen. Meine Gedanken waren so erschöpft, dass ich nur so dalag und beobachtete, wie die Flecken von meinen Tränen auf seinem Hemd wieder trockneten und es die ursprüngliche Farbe zurückbekam. Ich nahm noch einen Zug von seinem Geruch und stützte mich wieder von dem harten Holzboden auf.
Ich spürte an meinem Bein einen kleinen Widerstand am Boden. Hatte ich es vorhin nicht Klappern hören, als ich das T-Shirt an mich riss? Ich tastete blind nach dem Gegenstand unter meinem angewinkelten Bein und zog eine kleine, mit Samt bezogene Schachtel hervor. Was zum Teufel. Langsam drückte ich den Deckel hoch, bis der Punkt erreicht war, an der die Schachtel von allein mit einem leichten Klacken aufsprang. Zum Vorschein kam ein wunderschöner, fein und schmal gearbeiteter Ring, besetzt mit unzähligen kleinen Steinen, die in jede Richtung funkelten. Im Deckel der Schachtel fand ich einen zusammengefalteten Zettel.

Ich hatte ihn als Versprechen meiner Liebe für dich gekauft. Er war für dich bestimmt. Es tut mir leid.

Ich schloss die Augen und nahm wie paralysiert meine Umgebung nicht mehr wahr. Ich konnte nicht glauben, was hier gerade geschah. Auf der einen Seite wollte ich dieses überaus kostspielige Geschenk nicht annehmen. Doch was sollte ich tun? Ihn wegschmeißen?
Ich war mir ziemlich sicher, dass es sich dabei nicht um einen Verlobungsring handelte, auch wenn dieser Gedanke mir kurz in den Sinn schoss. Doch so verrückt war selbst Volkan nicht. Und auch nicht so pietätlos, ihn mir in Kleidung eingehüllt zu überreichen.
Zaghaft zog ich den Ring aus der kleinen Box und setzte ihn an. Als würde jemand mein Tun beobachten und bewerten können, warf ich einen verstohlenen Blick durch den Flur in mein Wohnzimmer. War es komisch, den Ring trotzdem anzulegen? Andererseits... in der Schublade hatte auch niemand was davon. Und schon schob ich ihn den Ringfinger herunter. Er saß viel zu locker, was ein kurzes Schütteln meiner Hand bestätigte. Er rutsche in einer Bahn von meinem Finger, doch konnte ich ihn greifen, bevor er auf den Boden fallen konnte. Ich probierte es an meinem Zeigefinger und er saß wie angegossen. Natürlich tat er das. Wahrscheinlich hatte Volkan es sich genau so ausgemalt, damit er wirklich nicht als Verlobungsring verwechselt werden konnte.
Begeistert betrachtete ich meine Hand und drehte sie im Licht etwas hin und her, um die Steine zum Funkeln zu bringen. Ich erschrak vor mir selbst und zog meine Hand in meinen Schoß, um sie zu verstecken. In mir wuchs das Gefühl, mich nicht so sehr über dieses Geschenk freuen zu dürfen. Es war ein Abschiedsgeschenk. Ich sollte traurig sein und den Ring mit einem tristen Blick in der hintersten Ecke meines Kleiderschrankes verschwinden lassen, bis ich ihn eines Tages zufällig wiederfinden und dann vermutlich verkaufen würde. Doch wer sagte das? Wer machte diese Regeln, außer mir selbst. In mir rebellierten Verstand und Herz, bis ich mich entschied, dem Verstand für heute das Maul zu stopfen und den Ring zu tragen. Diese letzte Geste, die ich von ihm erhalten hatte, spiegelte ziemlich gut mein Gefühl wider, das ich hatte, während ich den Brief an ihn schrieb. Ich war nicht mehr wütend, wie ich es vielleicht noch vor einem Monat war. Ich wusste nicht, wo die Wut geblieben war und ob es so gesund war, mit der Sache Frieden finden zu wollen, doch es war eben so. Ich kämpfte die ersten Wochen auf brachiale Art gegen meine Gefühle für ihn an, doch brachte es mich keinen Deut weiter. Ich kapitulierte letztlich und versuchte zu akzeptieren, wie es nun einmal war. Gut, dass ich immer wieder in Tränen aufgelöst war, Schlafstörungen hatte und mich in die Arbeit stürzte, war ein anderes Thema.
Wieder zog das Glitzern des Ringes meinen Blick auf sich und mir wurde schlagartig klar, dass der Ring mich immer an die letzten Wochen erinnern sollte. Ich beschloss in diesem Moment, ihn als Zeichen meiner eigenen Liebe zu mir selbst zu sehen. Als Erinnerung daran, was ich alles geschafft und auch durch Volkan erlebt und gefühlt hatte.

Ich sammelte die im Flur zerstreute Kleidung auf und schmiss sie in die Waschmaschine... bis auf dieses eine Shirt. Das Shirt war wie der Ring. Es fühlte sich verboten an, es zu besitzen und doch machte es mich unsagbar glücklich. Das Shirt legte ich sorgsam zusammen, führte es noch einmal zu meiner Nase, bis ich einen tiefen Atemzug des mir so vertrauten Geruchs genommen hatte und verstaute es dann in der Schublade meiner Kommode.
Es reichte zu wissen, dass es da war. Die kurze Vorstellung daran, es in mein Bett zu nehmen oder es sogar zu tragen und darin zu schlafen war zwar schön, doch würde es die ganze harte Arbeit an mir selbst der letzten Wochen zunichtemachen. Ich würde rückfällig werden. Rückfällig nach ihm. 

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt