87. Von Herzen

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Volkan

Auch während ich die beiden hinter mir in der Tür hörte, konnte ich den Blick nicht von dem gefalteten Papier in meinen Händen abwenden. Ich sah die dunklen Linien durchscheinen und war sowohl unfassbar neugierig als auch ängstlich, ihn aufzufalten.
„Wusstest du von dem Brief, hat sie was gesagt?" hörte ich Johannes hinter mir gedämpft fragen.
„Nein, null." antwortete mein Bruder.
Ich entschied mich nun doch, diesem Drang in mir nachzugehen und öffnete das Papier. Ich überflog schnell die geschriebene Seite, ohne jedoch die Worte zu lesen, bis ich an der ersten Zeile kleben blieb.
Lieber Volkan.
Ok, so ging das nicht. Ihre Handschrift zu sehen, war schon schwierig genug.
„Würdet ihr mich kurz alleine lassen? Ich glaub, ich muss das alleine machen.". Kurze Stille.
„Klar, wir sind nebenan, wenn was ist.". Ich hörte das Schließen der Schlafzimmertür, hielt jedoch den Blick starr auf das Papier vor mir. Wieder atmete ich tief durch, um mich auf ihre Worte gefasst zu machen. Dann fing ich an zu lesen.

Lieber Volkan.
Ich nutze heute diesen Moment und bringe meine Gedanken noch einmal zu Papier. Ich hoffe sehr, dir damit nicht zu nahe zu treten. Ich weiß, etwas feige, dir das alles nicht ins Gesicht zu sagen, doch ich konnte es einfach nicht.
Ich war ziemlich überrascht, dass du nun so schnell meine Sachen loswerden wolltest, doch auch ich möchte es einfach akzeptieren, wie es ist.
Ich kann nicht leugnen, dass es mir weh tat, deine Kleidung und Sachen aus meiner Wohnung einzupacken und zu wissen, dass es das letzte war, was ich von dir hatte, was uns noch verbunden hat. Doch so konnte ich auch noch einmal Abschied von dir nehmen.
Ich weiß noch nicht so recht, warum ich dir heute diesen Brief schreibe und ich bitte dich auch, nicht darauf zu antworten. Es ist nun einige Zeit vergangen und meine Gedanken sind an vielen Tagen noch immer bei dir. Manchmal vergesse ich (oder will vergessen), warum wir an diesem Punkt gekommen sind, bis mich wieder die Erinnerungen einholen und der Schmerz tief in mein Herz sticht. Ich kann bis heute nicht verstehen, warum du dich in dieser Nacht für etwas entschieden hast, was uns und unsere Beziehung so geschadet hat. Ich habe viele Nächte in Frage gestellt, ob das wirklich Liebe war. Ob so etwas scheußliches existieren kann, wenn man doch liebt. Ich glaube, ich werde es nie in Worte fassen können, wie sehr du mich verletzt hast, wie sehr ich dich noch immer vermisse und wie sehr ich dich doch auch geliebt habe. Ich bin dankbar für die Zeit, die wir miteinander geteilt haben, so lange sie eben ging.
Ich bin nicht mehr wütend, denn ich weiß, dass das zwischen uns Wirklichkeit war. Dass es Liebe war, die eben nicht für immer bestimmt war. Und eines Tages werden wir uns über den Weg laufen und ich hoffe in deine schönen Augen zu sehen und dich von ganzem Herzen anlächeln zu können. Ich werde mich dann an unsere gemeinsame Zeit erinnern. Eine Zeit, in der du mich größer und stärker gemacht hast, in der ich deine Liebe erfahren durfte und vor Glück am liebsten in die Welt hinausgerufen hätte. Du hast mein Herz berührt und mir Ruhe gebracht, Frieden. Vielleicht war es das, was ich viele Jahre gesucht und in dir endlich gefunden hatte. Ich hoffe, dass ich auch diese Person für dich war und es dich habe spüren lassen.

Ich werde noch einige Zeit an dem Ende unserer Beziehung arbeiten müssen, doch blicke ich nicht nur mit bösen Gedanken auf dich zurück. Die Wunden werden irgendwann heilen und irgendwann werde ich dir hoffentlich vergeben können.
Von Herzen wünsche ich dir alles Gute, Volkan.

Eve

Ich las ihn immer und immer wieder, bis ich den Tropfen bemerkte, der ihre geschriebenen Worte verwischte. Schnell trocknete ich die nassgewordene Stelle und rieb mir über die Augen, damit es nicht noch einmal passierte.
Ich fühlte mich leichter. Ich hatte mit den schlimmsten Beschimpfungen gerechnet, mit Vorwürfen und Wut. Doch da war... so etwas wie Frieden. Ich spürte ihre Ruhe und es schien auf mich abzufärben. Ich atmete tief durch und las ihren Brief noch einmal. Ich versuchte mir jedes Wort einzuprägen. Ich legte mich einen Moment zurück auf mein Bett, mit dem Brief auf meiner Brust und verschränkte die Arme hinter meinem Kopf. Ich schloss die Augen und genoss dieses Gefühl in mir, was ich seit Wochen nicht mehr fühlte. Es war, als könnte auch ich endlich Frieden mit mir schließen. Nicht nur sie musste mir vergeben, auch ich hatte die gleiche Aufgabe vor mir. Doch es fühlte sich danach an, als dürfte es jetzt passieren. Als wäre meiner Brust der Druck genommen worden.
Meine Gedanken blieben wirklich kurz an der Vorstellung hängen, wie wir uns irgendwann einmal zufällig treffen würden. Wie ich ihr unverkennbares Lächeln sehen würde und wie es mir warm ums Herz werden würde.
Langsam setzte ich mich auf und legte den Brief sorgfältig in meine Nachttischschublade, geschützt vor fremden Blicken. Leise öffnete ich die Tür und ging in den Wohnbereich in Richtung Couch. Das Klicken der Tür schien mich bemerkbar gemacht zu haben, sodass Johannes und Hakan sich zeitgleich zu mir drehten und mich etwas mitleidig ansahen. Ich lächelte ein wenig und gleichzeitig merkte ich das Glasige in meinen Augen.
„Ganz schlimm?"
„Nein... sehr traurig, aber auch sehr schön.". Ich setzte mich zwischen die beiden und überlegte, was ich aus dem Brief teilen wollte und was nicht.
„Sie... wünscht mir alles Gute und denkt, mir irgendwann vergeben zu können. Dass sie mich nicht mehr hasst...". Ich dachte kurz daran, den Brief doch vorzulesen, doch es sollte mein bleiben. Diese Worte hatte sie nur für mich verfasst und es fühlte sich wie ein kleines, letztes Geheimnis zwischen uns an, das ich nicht verraten wollte.
Wir sprachen noch ein paar Minuten oberflächlich über ihren Brief und das Treffen mit Hakan, bis Johannes mir den Schlauch hinhielt, ich kräftig an der Wasserpfeife zog und den dichten Qualm ausatmete. Wie auf Zuruf klingelte es in diesem Moment an der Tür und die riesige Bestellung traf ein. Appetit hatte ich im Moment keinen mehr, doch mein Magen zeigte mir lautstark, doch etwas zu essen. Ich entspannte mich und genoss im Beisein meiner beiden Brüder zu sein und mich endlich wieder wohl zu fühlen. 

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt