82. Frechheit

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V

Fassungslosigkeit war wohl das Wort, was am ehesten beschrieb, was ich spürte. Ich blickte einfach nur fassungslos auf mein Handy und las wieder und wieder seine Nachricht. Es kostete mich eine Ewigkeit, überhaupt die Nachricht zu öffnen. Ich starrte bestimmt zehn Minuten lang nur auf seinen Namen auf meinem Sperrbildschirm, bis ich tatsächlich mutig genug war, auf das Whatsappsymbol zu drücken. Der Name, der so lang von meinen Bildschirm verschwunden war. Der Name, der mir ein Stich im Herzen versetzte.
War das hier ein Wink des Schicksals? Gab es eine höhere Kraft, die ihn spüren ließ, dass ich gestern zum ersten Mal einen anderen Mann als ihn geküsst hatte? Unmöglich...
Es war die erste Nachricht, die ich seit unserer Trennung von ihm bekam und ich hatte für einen Moment die Hoffnung, dass er nach einem Treffen fragte. Ich hätte vermutlich nicht zugesagt, aber nun eine Nachricht von ihm bekommen zu haben, in der er sich eigentlich von mir verabschiedete, fühlte sich furchtbar an. War er über mich hinweg und konnte jetzt endlich meine Sachen rausschmeißen? Halt... war er schon über mich hinweg? Kostete es ihn wirklich nur einen Monat? Wieso hatte er nicht zu kämpfen versucht, wieso gab er mich so leicht auf...
Stopp. Ich hatte ihn darum gebeten. Er verhielt sich eigentlich genau so, wie ich es von ihm verlangt hatte....

Mach's gut, Eve. Fuck. Da war wieder diese Wut. Mach's gut... Ja, verdammt, ich wollte es gut machen. Mit ihm. Aber es war scheinbar nicht möglich. Und dann auch noch meinen vollen Namen zu schreiben. Frechheit.
Auf der anderen Seite schmerzte der vorherige Teil. Ich würde für immer einen Platz in seinem Herzen haben. Das berührte einen ganz tiefen Punkt in mir, denn es würde mir genau so gehen. Es war keine kurze Liaison, keine Affäre, die jetzt eben vorbei war. Ich liebte, von ganzem Herzen, mit allem, was ich hatte.
Doch was tat ich nun? Antwortete man auf so eine Nachricht? Was sollte ich sagen... Ok? Wieso schickst du deinen Bruder vor? Vermisst du mich?
Ich entschied mich, das Handy erst einmal zur Seite zu legen. Ich musste mir in Ruhe Gedanken darüber machen. Es gab keinen Grund, mich jetzt unnötig selbst unter Druck zu setzen.
Nachdem ich mir eine Aspirin eingeworfen und ausgiebig geduscht hatte, machte ich mich zum Kaffeetrinken mit Luisa fertig. Ich ignorierte das flaue Gefühl in meinem Magen, das mich immer wieder an die gestrige Nacht erinnerte, griff nach meiner Tasche und dem Schlüssel und lief los zu unserem Stammcafé.

14:52 Luisa: Hey Süße, ich bin schon da, Julian hat mich mitgenommen. Sitze draußen und hab schon deinen Iced-Latte bestellt :*

Wenige Minuten später nahm ich Luisa fest in meine Arme und trank einen großen Schluck von meinem Kaffee. Ich wünschte kurz, er wäre mit Schuss, um den Schock von vorhin zu verdauen.
„Na, wie ging es gestern noch bei dir und Jakob weiter? Julian meinte, er hat gesehen, dass ihr gemeinsam ins Taxi seid.". Sie wippte wieder mit den Augenbrauen, um das Offensichtliche scheinbar noch offensichtlicher zu machen.
„Oh... ja, wir sind zu ihm gefahren." verlegen schaute ich auf den kleinen Mosaiktisch und fuhr mit meinem Blick die Umrisse der bunten Keramiksteine nach.
„Und dann?! Dir muss man ja echt alles aus der Nase ziehen.". Luisa stieß mich leicht an, sodass ich meinen Blick endlich löste und ihr in die Augen schaute.
„Wir haben rumgemacht."
„Waaas!!". Sie schrie mir fast entgegen und auch die anderen Gäste des Cafés drehten sich zu uns und schauten uns etwas entsetzt an. Mit aufgerissenen Augen versuchte ich sie etwas zur Ruhe zu bringen, musste jedoch auch gleichzeitig so stark über ihren Ausbruch lachen.
„Wie, ihr habt rumgemacht?! Erzähl!"
„Luisa! Pscht!!! Es ist nichts weiter passiert. Ich habs nicht gepackt. Erst wars ganz okay, dann haben wir uns auch ausgezogen... und dann... ja, ich kann gar nicht genau sagen, was da passiert ist.". Ich pausierte eine Sekunde und nahm einen weiteren Schluck. Luisas Blick klebte an mir, aus ihrem Grinsen wurde allmählich Verwunderung. Ich fuhr um einiges leiser fort.
„Er hat meine Stirn geküsst und da war vorbei."
„Wie? Magst du das nicht? Ich find das eigentlich immer voll schön.". Damit hatte Luisa scheinbar nicht gerechnet. Ich atmete tief durch.
„Volkan... Volkan hat mich immer auf die Stirn geküsst und als Jakob das gestern gemacht hat, hab ich sofort Volkan vor mir gesehen. Ich hab mich so eklig gefühlt und hab seine Berührungen einfach nicht mehr ausgehalten. Ich hab meine Sachen gepackt und bin wie ne Irre aus seiner Wohnung gerannt.".
„Ach du Scheiße, V..."
„Ja, du sagst es. Der muss gedacht haben, ich hab sie nicht mehr alle. Erst lade ich ihn nachts in den Club ein, dann werfe ich mich ihm an den Hals und dann renn ich ohne Erklärung raus... Aber... aber weißt du, was noch viel krasser ist?! Ich hab vorhin ne Nachricht von IHM bekommen."
„Von Jakob? So krass find ich das jetzt nicht, der wusste wahrscheinlich gar nicht wo hinten und vorne ist."
„Nein, also ja, Jakob hat mir auch geschrieben, aber das meine ich nicht! Von Volkan. Als hätte er das gespürt. Über einen Monat höre ich gar nichts und dann schreibt er genau nach dieser Nacht?!"
„Ok, das ist wirklich krass. Und was?"
„Dass sein Bruder mir meine Sachen bringen würde. Und... dass ich immer in seinem Herzen bin."
„Oh..." Luisa klang traurig und ich konnte nur nickend zustimmen.
„Er hat am Ende geschrieben: Mach's gut, Eve."
„Mach's gut? Was denn?!"
„DANKE! Das hab ich mich auch gefragt.". Wieder drehten sich Personen zu uns um, ich schien meine Lautstärke auch nicht mehr kontrolliert zu haben. Scheiß drauf.
„Was für ne dämliche Floskel, ernsthaft. Der hat doch so viele Liebeslieder geschrieben und dann kommt nur sowas dabei raus? Hätte er ja ruhig ein bisschen kreativer werden können." Luisa wurde etwas wütend, während sie sprach und ich musste schmunzeln. Wenn man darüber nachdachte, hatte sie tatsächlich etwas Recht.
„Ich glaub...das wars jetzt."
„Wie meinst du?"
„Naja, ich finde das ist schon sehr abschließend, also die Nachricht. Er hat sich seit unserem Gespräch nicht gemeldet und das erste, was kommt, ist, dass Hakan meine Sachen bringt und 'dass ich's gut machen soll'." Meine Finger formten die Anführungszeichen in der Luft nach. Ich konnte die Genervtheit über seine Worte nicht aus meinem Gesicht und meiner Stimme verbergen.
„Ich finde das klingt eher nach 'keine Ahnung, was ich schreiben soll, aber irgendwas will ich schreiben'."
„Hm, ich weiß nicht... aber so oder so. Was antworte ich denn darauf? Muss ich was dazu schreiben?" ich wurde wieder etwas unsicher beim Sprechen. So kannten mich tatsächlich nur wenige Personen aus meinem Freundeskreis. Ich geriet dann immer ins Stottern, wurde zaghaft und alles in mir schrie, dass bitte die Kontrolle übernommen werden soll.
„Vielleicht ist wichtiger, ob du überhaupt was schreiben möchtest und nicht was. Du musst gar nichts."
„Oh man, das hilft mir ja sehr.". Luisa schaute mich entschuldigend an und strich mir über die Schulter.
„Wie geht's dir denn mit der Nachricht. Du wirkst so neutral, irgendwie distanziert."
Ich dachte einen Moment darüber nach und musste mir eingestehen, dass sie nicht ganz Unrecht hatte. Ich versuchte seine Nachricht nicht an mich herankommen zu lassen. Wie es mit tatsächlich damit ging, hatte ich gerade erst letzte Nacht zu Genüge gesehen. Und gespürt.
„Ich versuche einfach mich da nicht so reinzusteigern. Es ist vorbei und das muss ich akzeptieren. Jetzt kommt eben der unangenehme Part, in dem irgendwie die Sachen gegenseitig zurückgegeben werden. Ich kann mich dagegen nicht wehren.". Wieder betrachtete ich meine Hände, ich konnte ihr nicht in die Augen sehen. Sie hätte sonst sofort gemerkt, dass die Hälfte meiner Souveränität nur aufgesetzt war.
„Meinst du... er hat ne Neue?". Ein Gedanke, den ich natürlich auch schon hatte. Doch so kannte ich ihn nicht. Aber ich hatte wiederum auch nie damit gerechnet, dass er mich betrügen würde, von daher...
„Ich weiß nicht. Ich hab das Gefühl ihn gar nicht mehr zu kennen. Es wäre echt krass, wenn es so wäre. Und tut mir auch weh...". Meine Stimme begann zu zittern, während ich sprach.
Na, doch nicht so souverän, hm?

Luisa nahm mich in den Arm und ich brachte mich schnell wieder unter Kontrolle. Ich hatte in den letzten Wochen schon genug in der Öffentlichkeit geweint, es reichte so langsam.
„Sonst schreib doch einfach direkt Hakan. Du musst ihm ja nicht antworten, vor allem, wenn es nur um die Klamotten geht. Mach dir da nicht so viel Stress."
„Fuck, ich bin noch gar nicht bereit, irgendwen aus dieser Truppe wiederzusehen. Was ist denn, wenn ich wieder anfange zu heulen?! Dann bringt Hakan ihm die Sachen und erzählt erstmal, wie seine Ex ihm immer noch nachtrauert, während er schon mit der nächsten im Arm liegt. Wundervoll.". Ich hatte mich richtig in Rage geredet und merkte, wie mein Gesicht etwas rot anlief vor Aufregung.
„Woah! Langsam, V. Es ist immer noch Hakan. Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass niemand in dieser Familie dir irgendetwas Böses will oder so mies über dich sprechen würde. Der geht doch respektvoll damit um. Egal, wie du dich verhältst. Scheiß drauf, dann heulst du halt. Ist ja auch zum Heulen, Alter."
Luisa brachte mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück und ein kleines Lächeln schummelte sich auf meine Lippen. Aus meinem Mund kamen einfach nur alle gebündelten Ängste heraus.
„Hast du gerade echt 'Alter' gesagt?!" Aus meiner angespannten Stimmung wurde nun ein herzhaftes Lachen.
„Julian hat vielleicht nicht immer so einen guten Einfluss auf mich..." sprach sie, bevor sie mit in mein Lachen einstieg und wir das Thema erst einmal beiseiteschoben und ich mir einen Trostkuchen bestellte.

Am Abend entschied ich mich, Volkan nicht zu antworten. Nicht, weil ich nicht wollte, ich wusste nur schlichtweg nicht was. Ich tippte immer wieder verschiedene Sätze, doch fühlte sich alles bescheuert und falsch an. Ich dachte wieder über Luisas Idee nach, direkt Hakan zu schreiben und tippte eine Nachricht, die sich am Ende sogar ganz gut anfühlte. Ich entschloss, nicht im Affekt zu handeln und eine Nacht darüber zu schlafen. Die Nachricht an Hakan ruhte in meinen Entwürfen, quasi bereit, abgesendet zu werden. 

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt