63. Nicht hier

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Volkan

Das immer wieder kurze Surren meines Handys weckte mich. Ich schlug die Augen auf und versuchte mich zu orientieren. Ich war im Hotel, so viel erkannte ich anhand der Decke. Langsam drehte ich mich auf die Seite und tastete auf der Matratze nach meinem Handy. Vergebens. Wieder ein Surren. Es steckte noch in meiner Hosentasche. Jede Bewegung schmerzte in meinem Körper und ich konnte nur mit Mühe ein Auge öffnen, um auf das Handy zu sehen, das andere kniff ich angestrengt zu. Acht Nachrichten, sechs davon von Hakan. Ich scannte den Rest meines Bildschirms und blieb an der Uhrzeit hängen. 13:22 Fuck.
Ich schreckte hoch. Das Essen bei meiner Mutter war für 13 Uhr vereinbart. Ich war bereits zu spät. Während ich noch nachdachte, traf mich der heftige Kopfschmerz und der Schwindel. Das war die Rechnung für letzte Nacht. Ich wusste schon, warum ich nie etwas für den nächsten Tag planen wollte, wenn wir den Abend vorher feierten. Ich hatte es auch V zuliebe getan, damit sie etwas mehr erlebte, als zu den Shows zu gehen und verkatert den Tag im Bett zu verbringen, bis die nächste Veranstaltung anstand.
Wo war eigentlich V, normalerweise wäre sie schon bei dem kleinsten Geräusch wach geworden. Bisher hörte ich nichts neben mir. Ich drehte vorsichtig meinen Kopf, immer auf der Hut, nicht den nächsten Kopfschmerz zu verursachen. Das Bett war leer. Vollständig leer. Keinerlei Kleidung, kein Kissen, keine Bettdecke. Ich schob mich von der Matratze und konnte nur über mich selbst den Kopf schütteln, als ich meine Kleidung von gestern an mir sah. Wie hacke war ich bitte.
Mein Körper lieferte mir die direkte Antwort darauf und mir wurde schlagartig übel. Ich rannte zur Toilette und übergab mich wiederholt, bis nichts mehr zu Erbrechen übrigblieb. Auf dem Weg zurück ins Schlafzimmer fand ich die Bettwäsche auf dem Sofa. V hatte heute Nacht also woanders geschlafen und war schon weg. In meinem Kopf ratterte es, doch die erhoffte Erkenntnis blieb noch aus. Ich schnappte mir nochmal das Handy und überflog die Mitteilungen auf Whatsapp.
Johannes 01:13: Was hast du zu V gesagt? Die is voll fertig gerade weg, soll ausrichten, dass sie ins Hotel is.
Hakan 02:42: Wo bist du? Die anderen meinten, du bist mit nem Mädel weg??? Geh mal ans Telefon
Musti 06:21: Bro, hast du meine Zimmerkarte zufällig?
Hakan 11:46: Bist du wach? Wir wollen in ner halben Stunde los zu Mama
Hakan 12:18: Wo bleibt ihr?
Hakan 12:22: V ist alleine losgefahren? Was ist bei euch los? Hab eben mit ihr telefoniert, sie meinte nur, du pennst noch
Hakan 13:05: Wir gehen jetzt schon mal rauf... Bitte sag mir, du hast keine Scheiße gebaut
Hakan 13:22: Mama fragt, ob du noch kommst. Was soll ich ihr sagen?

Ich tippte schnell eine Antwort an ihn, zog die ekligen Klamotten aus, stellte mich unter die Dusche und versuchte klarzukommen. Immer wieder dachte ich an den Abend und versuchte zurückzuverfolgen, was passiert war. Und dann kam die Erinnerung, wie ein Blitz. Ich musste nicht lange auf die Scham warten und schloss vor Unglauben die Augen.
FUCK
Meine Hand schlug wie automatisch gegen die Fliesen der Duschkabine.
gerizekalı. Immer wieder wiederholte ich die Beleidigungen gegen mich selbst. Ich war tatsächlich ein Vollidiot. In Windeseile trocknete ich mich ab, putzte die Zähne und kramte aus meiner Reisetasche ein frisches Shirt und eine Hose...und eine Ibu800. Eine zweite steckte ich mir in meine Jogginghose und machte mich auf den Weg in die Lobby. Die Haare band ich mir noch im Fahrstuhl in einen lockeren Zopf und lief zum Ausgang, an dem bereits das bestellte Auto wartete. Hektisch versuchte ich V zu erreichen, doch sie nahm nicht ab. Sie war noch in Mannheim, das war gut. Aber so bei meiner Mutter zu sitzen, konnte nicht gut sein. Ich gab es auf. Ich tippte ungeduldig mit meinen Fingern auf meinem Knie, in der Hoffnung endlich anzukommen. In einer anderen Situation hätte ich bei diesem Kater das Auto lieber nicht selbst fahren sollen, doch brauchten wir (oder vielleicht auch nur ich) eine Fluchtmöglichkeit. Ich bog in das kleine Viertel ein, in dem meine Mutter wohnte. Die Idylle um mich herum passte nicht zu meiner Angespanntheit. Nachdem ich die Tür zuschlug und zwei Mal auf den Knopf neben dem Namensschild drückte, hörte ich das erleichternde Summen. Oben angekommen begrüßte mich meine Mutter in der Tür freudestrahlend. Sie hatten sich also noch nicht alle gegen mich verbündet.
„Oğlum, wo warst du denn, wir haben jetzt schon angefangen zu essen..."
„Alles gut, Anne. Ich kam nicht aus dem Bett, tut mir leid.". Sie schaute prüfend in meine Augen. Diesen Blick kannte ich von ihr von damals, als ich mich nachts heimlich rausgeschlichen hatte, um mit Johannes, Musti und Co heimlich zu rauchen und zu trinken. Nachdem sie mich nicht zu durchschauen schien, gingen wir in den kleinen Flur und ich trat mir die Stiefel von den Füßen. Ich hörte die anderen sich unterhalten und meine Aufregung stieg. Mein Herz pochte so stark durch meine Brust, dass ich kurz glaubte, ohnmächtig zu werden. Ich setzte einen Fuß vor den anderen durch die Tür ins Wohnzimmer meiner Mutter. Am Esstisch saßen sie alle. Hakan, Sophie, meine Schwester und ihr Freund, der Freund meiner Mutter und V.
„Hey Leute, tut mir leid, dass ich zu spät bin, guten Appetit.". Der Platz neben V war leer geblieben. Wieder kamen die Beleidigungen gegen mich selbst in meinen Kopf. Ich ließ meine gesamte Familie warten, hatte V verletzt und nun musste sie allein zum Familienessen gehen. Ich ließ mich langsam neben ihr nieder und schaute vorsichtig in ihr Gesicht. Sie würdigte mich keines Blickes. Zu Recht. Ich lehnte mich langsam zu ihr.
„Hey"
„Hallo" ihr Blick traf mich nur kurz. Sie ließ zu, dass ich sie auf die Wange küsste. Immerhin, sie haute mir nicht gleich eine runter. Meine Mutter verteilte ihr gekochtes Essen auf meinem Teller und reichte ihn mir. Allein der Geruch von Essen ließ alles in meinem Magen Karussell fahren. Mir war so übel, doch konnte ich das jetzt nicht bringen. Zu spät kommen und dann das Essen verweigern?! Keinesfalls.
Ich zwang mir einen Bissen nach dem nächsten runter und führte einen Zweikampf mit meinem Magen. Als meine Mutter mir den Nachschlag anbot, konnte ich nur höflich ablehnen und mir einen Tee einschenken. Wir unterhielten uns über das bevorstehende Abitur meiner Schwester, als V sich ihr Drehzeug schnappte und auf dem Balkon verschwand. In meinen Gedanken wiederholte sich das Bild, wie sie allein Smalltalk führen musste und sie mit Fragen gelöchert wurde, wo ich denn war. Ich nutzte die Gelegenheit und stand ebenfalls auf, um auf den Balkon zu gehen. Zaghaft zog ich die Tür hinter uns zu und blieb regungslos stehen. Ich hatte nicht weitergedacht. Was sagte ich denn nun?
„Ich..."
„Nicht hier, Volkan". Mein Kopf versuchte noch immer meinen Satz weiterzuführen, ihre Worte hatten mich noch gar nicht erreicht.
„Das wäre deiner Mutter gegenüber nicht fair. Lass uns später reden.". Verdutzt schaute ich zu ihr hinunter. Sie lehnte gegen das Balkongeländer und schaute in die Ferne.
Deswegen ließ sie den Kuss zu. Sie wollte meiner Mutter gegenüber nichts anmerken lassen. Es tat mir weh zu sehen, dass sie das in Kauf nehmen würde, obwohl es innerlich bei ihr vermutlich anders aussah. Ihre Stimme war zwar entschieden, doch hörte ich das leise Zittern, dass sich immer einstellte, wenn sie weinen musste. Sie war oft so tapfer. Das Schlimme war nur, dass sie es dieses Mal hatte meinetwegen sein müssen.
„Ok.". Mehr kam nicht aus mir heraus. Ok???? Ich Vollidiot. Das Erste, was ich zu ihr sagte, war nur ein ok. Sie zog noch einmal an ihrer Zigarette, bevor sie sie in dem kleinen Aschenbecher auf dem Balkontisch ausdrückte und an mir vorbei in das Wohnzimmer ging. Ich hörte erneut die Balkontür klicken und mein Kopf schnellte hinüber, in der Hoffnung, V würde doch noch einmal rauskommen. Doch mein Bruder steckte den Kopf zu mir heraus.
„Kann ich eine rauchen, oder brauchst du bisschen „Me-Time"." Seine Finge bewegten sich entsprechend zu dem eher für ihn untypischen Worten.
„Ne, alles gut.". Er trat auf mich zu und schloss die Balkontür.
„Wieso seid ihr getrennt hier?"
„Sie hat anscheinend auf der Couch gepennt. Ich hab den krassesten Kater meines Lebens und der halbe Abend von gestern ist weg. Hab ich Scheiße gebaut, Abi?"
„Naja offensichtlich, oder?"
„Man, du weißt, was ich meine."
„Keine Ahnung, ich hab dich irgendwann verloren und Tuna meinte, du bist mit nem Mädel abgehauen. Du warst safe ne halbe Stunden weg.". Ich nickte gedankenverloren.
„Als ich dich wiedergefunden habe, warst du schon ziemlich blau."
„Ich bin so dumm, Abi. Ich hab Koks gezogen...und dann übelst viel gesoffen"
„Ja, is jetzt keine Überraschung, wenn ich ehrlich bin. Das hat man dir gestern schon angemerkt."
„Glaubst du, sie wird sich trennen?". Ich klang neutraler, als ich mich eigentlich fühlte. Am liebsten hätte ich angefangen zu weinen und wäre wie ein kleiner Junge in V's Arme gerannt.
„Glaube, dann wär sie einfach nach Berlin zurück und nicht zum Essen mit Mama gekommen. Aber Bro, du musst das klären und diese Scheiße lassen.".
„Ich weiß... fuck man, ich bin so ein Volltrottel."
„Dich jetzt selbst fertig zu machen bringt nichts... Lass sie das später machen.". Er schlug mir angetäuscht mit der flachen Hand auf den Bauch, lächelte und bedeutete mir wieder rein zu gehen. Wir setzten uns wieder zu den anderen und ich lauschte den lockeren Gesprächen am Tisch. Meine Schwester kam auf die brillante Idee, ein Tattoo haben zu wollen, und brauchte nun die Unterschrift meiner Mutter, da sie ja noch nicht volljährig war. Ich liebte Diskussionen zu beobachten, wenn ich nicht selbst beteiligt war. Mein Blick ging kurz zu V, die auch angeregt den Austausch verfolgte. Ihre Mimik war einzigartig und für mich fast blind lesbar. Sie liebte Reality TV und das musste sich wie eine neue Folge anfühlen. Ihr Kopf drehte langsam zu mir und unsere Blicke trafen sich. Sie hatte sich von mir beobachtet gefühlt. Doch mehr als ein schwaches Lächeln konnte ich, aus Angst zu weit zu gehen, nicht aufsetzen. Meine Mutter beendete die Überredungsversuche, indem sie aus der Küche die Desserts auf einem Tablett holte. V und Sophie gingen ihr zur Hand und kochten Kaffee. Hoffentlich war in meinem kein Salz oder Thymian.
Mein Körper sammelte durch das Koffein wieder neue Kraft und mein Kater wurde etwas besser. Vielleicht lag es auch an den Ibuprofen, ich wollte mich nicht beschweren.
Ich berührte V vorsichtig am Ellenbogen, bis sie mich fragend anschaute. Ich nickte fragend in Richtung Tür und erhielt ein kaum merkliches Nicken von ihr.
„Gut, wir gehen dann langsam mal los, wir wollten noch ins Kino. Es hat richtig krass geschmeckt, Mama, Danke."
„Abi, du darfst noch nicht gehen, ich dachte wir chillen noch und zocken." flehte meine Schwester, während ich mich aufsetzte. Meine Schwester versuchte immer, uns noch länger hier zu halten.
„Machen wir nächstes Mal, tamam mı? Oder du kommst mich bald in Berlin besuchen."
Sie nickte enttäuscht und blickte zu Boden. Und wieder eine Frau unglücklich gemacht, prima.
Ihr Freund nahm ihre Hand und küsste den Handrücken.
„Wir können doch zocken, Baby.". Meine Ohren stolperten über das Baby und in mir schüttelte sich alles. Es war ihr erster Freund und sie waren erst einige Wochen zusammen. Ich freute mich für sie, doch war es etwas komisch und ich konnte auch nicht allzu lang darüber nachdenken, dass meine kleine Schwester nun Erwachsenendinge tun würde.
V stand neben mir auf und holte mich aus meinen Gedanken. Wir umarmten alle nacheinander und zogen uns wie in Zeitlupe die Schuhe an. Wir hatten scheinbar beide keine besonders große Lust auf das bevorstehende Gespräch, auch wenn es mehr als nötig war. Meine Mutter winkte uns noch von der Tür aus nach, bis wir sie nicht mehr sehen konnten. Als wir vor ihrem Haus ankamen, öffnete ich den Wagen und hielt V ihre Tür auf.
„Wollen wir spazieren gehen? Da haben wir dann auch Ruhe... und Zeit." schlug ich vor.
„Ja, das wär gut." Sie schaute abwesend aus dem Fenster und betrachtete die kleinen Häuser der Nachbarschaft. Ich machte für eine Sekunde Musik an, bis ich merkte, wie falsch es sich anfühlte und gleich wieder ausdrückte. Gleichzeitig war die Stille zwischen uns bereits eine riesige Strafe. Ich fuhr immer weiter raus aus der Stadt, durch kleine Vororte und immer weniger bewohnte Gegenden, bis wir an den endlosen Feldern ankamen. Ich war früher schon häufiger hier, daher kannte ich die kleine Einbuchtung, in die ich rechts einfuhr und den Motor abstellte.
„Hier sind ganz hübsche Wege zum Spazieren.".
„Okay". Je weniger sie mit mir sprach, desto mehr tat es mir weh. Sie schnallte sich ab, stieg aus und warf die Tür recht kräftig zu. Ok, Volkan. Jetzt kam es darauf an, ob wir uns versöhnen konnten, oder dieser Ort für immer mit einer furchtbaren Erinnerung verbunden sein würde. Ich löste meinen Gurt, atmete tief ein, stieg aus und schlug meine Tür zu. 

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt