99. Ausreden und Mitleidsnummern

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Volkan

„Volkan?" vorsichtig sprach sie meinen Namen aus, da ich in meinen Gedanken zu hängen schien. Gleichzeitig spürte ich ihre Finger sanft über meine Haut streichen.
„Hm?"
„Was... ist los? Woran musstest du gerade denken?" fragte sie besorgt. Ich merkte, wie mein Atem schneller wurde, mein Brustkorb hektisch hoch und wieder runter ging. Ihre Hand auf meiner war mir auf einmal zu nah, sodass ich sie wegzog, nervös über meinen Nacken strich, bevor ich mich dazu entschied, doch weiterzusprechen. Nur mit zittriger Stimme kamen die Worte über meine Lippen.
„Ich... ich war schon auf der anderen Seite. Also... ich kann verstehen, warum du so reagiert hast.". Diese Worte kosteten mich wahnsinnige Überwindung.
Sie sagte nichts und durch die Dunkelheit konnte ich auch keine Reaktion aus ihrem Gesicht ablesen. Warum sagte sie nichts... Vielleicht musste ich diesen Moment nutzen und weitererzählen, ihr endlich alles sagen. Ich nahm meinen Mut erneut zusammen und spürte den Kloß in meinem Hals und das schmerzhafte Stechen in meinem Herzen, sobald sich die Worte in meinem Kopf formten. Einfach aussprechen, Volkan. Sprich es einfach aus.
„Meine Ex-Freundin hat mich damals betrogen. Wir waren krass lange zusammen... damals Jugendliebe und so... und ich dachte eigentlich das mit ihr wäre für immer. Naja, dann wurde sie mit einem anderen Mann in einer Bar gesehen, wie sie Händchen gehalten haben und immer wieder rumgemacht haben. Das tat halt besonders krass weh, weil sie es öffentlich gemacht hat. Erst dachte ich, hey, vielleicht wurde sie nur verwechselt, sie würde so etwas nicht tun, aber ich hab mich getäuscht. Es war halt die Zeit, in der die Musik gerade richtig gut lief, wo alles so richtig anfing und natürlich hatte ich weniger Zeit, musste mich auch erstmal daran gewöhnen... Wir hatten immer wieder Streit und hatten so eine Distanz zwischen uns. Wir waren uns auf einmal so fremd irgendwie. Ich habe damals den Fehler gemacht und habe ihr Handy durchsucht. Es ist einfach mit mir durchgegangen...darauf bin ich nicht stolz. Ich habe ihr nicht mehr vertraut und wusste mir nicht anders zu helfen...weil wir auch nicht mehr wirklich miteinander gesprochen haben. Und das, was ich gefunden habe, hätte ich am liebsten nicht gesehen... Seit Monaten ging es.". Allmählich blieb mir die Stimme weg. Die Bilder kamen mir wieder in den Kopf. Selfies, wie sie nackt, nur mit einer Decke, in seinen Armen lag und beide fröhlich in die Kamera lächelten. Fotos von ihr in Dessous, die sie auch mir damals geschickt, jedoch nicht für mich aufgenommen hatte. Ich schluckte die aufkommenden Tränen herunter, versuchte endlich die Geschichte zu Ende zu bringen und diesen schmerzlichen Teil meines Lebens endlich erzählt zu haben. Ich fühlte mich so klein gerade.

„Ich... ich hab damals versucht, ihr zu verzeihen, hab mich darauf eingelassen, mir ihre Ausreden und Mitleidsnummern angehört... wie alleine sie sich gefühlt hat, weil ich so oft weg war. Den Schuh hab ich mir angezogen, hab mich immer schuldig gefühlt, sobald ich weg war, um mit meiner Musik voran zu kommen. Damals hab ich noch in Mannheim gewohnt... Ich war dann ein paar Tage in Berlin und hab dann irgendwann von nem Kumpel die nächsten Bilder geschickt bekommen, wie sie mit einem anderen Kerl rumgeleckt hat im Club. Völlig unbeschwert, mitten auf der Tanzfläche. Sie hat einfach einen kompletten Fick gegeben. Auf alles und vor allem auf mich."
„Oh Volkan...". Ihre Stimme holte mich wieder aus den Erinnerungen. Sie strich sanft mit ihrer Hand über meine Haut unterhalb des T-Shirtärmels, doch konnte ich diese Nähe kaum aushalten.
„Das ist auch der Grund, warum ich bei diesen Themen, was Zeit und Aufmerksamkeit angeht, wenn ich arbeiten muss, ein bisschen gereizt reagiere. Warum wir deswegen ja auch schon Streit hatten. Ich hab direkt das Gefühl, wieder nicht genug zu geben und werde misstrauisch.
Aber deswegen kann ich eben auch verstehen, warum du so gehandelt hast und direkt einen Schlussstrich gezogen hast, nachdem das mit Charlie war. Ich hab mich ja selbst so räudig gefühlt, konnte nicht glauben, was ich da gemacht habe. Die ganzen letzten Monate habe ich mich sooo fucking schuldig gefühlt, mich für mich selbst geschämt und immer wieder nach Erklärungen gesucht, warum ich das gemacht habe. Wie ICH an diesen Punkt kommen konnte und dir so wehtun konnte. Und natürlich hatte ich keine Antwort darauf. Es gab einfach keinen Grund, warum ich dich hätte betrügen wollen... vor allem... weil du da warst. Du bist nach Mannheim gekommen, um mich zu sehen. Das war so eine krasse Geste für mich.". Mein Flüstern musste sie dennoch erreicht haben, denn ich sah, wie sie ein wenig lächelte.
„Ich meinte das alles so, wie ich es gesagt habe. Ich habe noch nie so geliebt wie dich und habe mich auch noch nie so geliebt gefühlt. Das hat es so unerträglich gemacht, zu wissen, dass ich dich verletzt habe. Ich... hatte echt manchmal das Gefühl... puh... voll schwer, das gerade auszusprechen. So hab ich das noch nie jemandem erzählt. Ich... hatte zwischendurch so krass gruselige Gedanken, nicht mehr da sein zu wollen. Ich wollte einfach einen Moment das alles nicht mehr fühlen, vor allem diesen Hass gegen mich selbst. Ich wollte Ruhe. Ich dachte, ich könnte mit dem Gewissen nicht mehr leben, hab echt alle meine Eigenschaften und Moralvorstellungen angezweifelt. Das war heftig. Erst, als Hakan sich mit dir getroffen hat und dann dieser Brief kam, da wurde dieser Gedanke leiser. Ich dachte, wenn du mir verzeihen kannst, kann ich es vielleicht auch...".
Geschockt schaute sie mich an, wechselte mit ihrem Blick zwischen meinen Augen und... war kurz davor zu weinen. Fuck. Tränen sammelten sich in ihren Augen, dass nur noch ein Blinzeln fehlte, bis sie heraustropften. 
„Scheiße, tut mir leid, nicht weinen, bitte."
„Alles gut, es... berührt mich nur krass gerade. Die Vorstellung, wie es dir damit ging oder dass du nicht mehr hier wärst. Das... ist einfach krass."
„Ich weiß... mein Bruder meinte auch schon, ich sollte einen Therapieplatz suchen. Stehe da jetzt auch auf paar Listen, einfach um dieses Schuldding mal anzugehen. Auch wenn...es mir halt jetzt gerade richtig gut geht.". Das tat es. Mit ihr ging es mir wirklich gut. Ich griff wieder zu ihrer Hand und schaute in ihre Augen. Sie hielt den Kopf gesenkt, wahrscheinlich, damit ich die Tränen nicht sehen konnte. Ich umfasste ihre weiche Hand und führte sie an meine Lippen, küsste sanft zwei ihrer Finger.
„Es ist alles gut, versprochen. Ich bin hier und bleibe auch. Das waren nur Gedanken.". Sie nickte langsam.
„Aber was, wenn die Gedanken mal realer werden?" während sie mich ansah, lief gerade eine Träne aus ihren Augen die Wange hinab, tropfte lautlos auf ihr Oberteil.
„Dann hole ich mir Hilfe. Bitte mach dir keine Sorgen, das ist jetzt auch schon einige Wochen her und es geht mir gut."
„Ich will nicht, dass du es klein redest, um andere zu schützen. Das klingt ziemlich heftig...Versprich mir, dass du die Therapie trotzdem machst, auch wenn's dir gut geht, ja?"
„Versprochen. Ich will das ja auch für mich. Ich hab auch kein Bock... zu gehen. Wie gesagt, ich war ganz weit weg davon, irgendwas in die Richtung zu machen. Es hat sich nur einfach alles so hoffnungslos angefühlt, als wäre es auch okay, nicht mehr... egal. Du weißt schon.". Wir schwiegen eine Weile lang. Ich wusste nicht, was ich noch sagen sollte und hielt nun schon einige Minuten mein leeres Glas in der Hand, führte es immer wieder zum Mund und nahm die letzten Tropfen zu mir.
„Wollen wir noch ein Glas trinken? Oder willst du nach Hause? War jetzt ganz schön viel...". Ich merkte wie unsicher ich mit mir und dieser Situation war. Es war neu, dass ich mich einer Frau so sehr öffnete und mich so verletzlich zeigte. Doch spürte ich bei ihr dieses Vertrauen, dass ich deswegen nicht schwächer für sie war oder sie diese Dinge gegen mich verwenden würde. V schien nachzudenken und lächelte mich aus dem Nichts an.
„Danke, dass du das erzählt hast. Ich musste gerade daran denken, wie schön das ist... das wir gerade so offen reden können. Ich bin froh, dass wir das heute gemacht haben."
„Finde ich auch..."
„Ich würde gerne noch ein Glas trinken." sagte sie mit einem Schmunzeln und hielt mir bereits ihr ebenfalls leeres Glas entgegen. Ich stellte die Gläser vor uns auf die Decke, griff nach dem Weißwein und löste behutsam den Korken, um uns nachzuschenken. Durch den Schwung vom Wein kam ihr Glas etwas ins Schwanken, sodass V nach dem Stiel griff und es stabilisierte. Sie schüttelte den Kopf und lachte, als hätte sie sich das bereits denken können. Ich meinte es mit dem Nachschenken sehr wohlwollend, merkte selbst erst beim Anheben, wie voll ich die Gläser gemacht hatte. Vorsichtig hielt ich ihr mein Glas entgegen, um erneut anzustoßen.
„Willst du uns abfüllen?" lachte sie neben mir und führte ihr Glas zu meinem.
„Ich will nur nicht, dass der Abend endet, glaub ich."
Sie legte amüsiert den Kopf schief, bevor sie einen Schluck nahm.
„Du weißt, dass ich nicht zu dir ins Auto steige, wenn du betrunken bist."
„Dann müssen wir wohl ein bisschen hier bleiben, bis ich nüchtern bin, wie es aussieht.". Ich schielte zu ihr herüber und sah, wie sie lächelte und die Augen etwas verdrehte.
„Das war nur Spaß. Ich... Mich hauen zwei Gläser nicht so schnell weg und ich würde dich nie gefährden beim Fahren. Das weißt du."
„Ja... das weiß ich.".
Wieder schwiegen wir einen Moment. Sie zog sich die Decke enger um die Schultern. Leise hörte man die Blätter der Bäume im Wind rascheln.
„Wir haben ziemlich krasse Themen hinter uns, hm?"
„Hätte nie gedacht, dass wir darüber heute reden. Also, dass es gleich so deep wird. Ich dachte irgendwie, dass wir... oder viel mehr ich... viel vorsichtiger mit dir sein würde. So wie in Watte gepackt und dass ich alles versucht hätte gut zu reden, um nicht aus deinem Mund zu hören, wie beschissen die letzten Monate waren. Weißt du?"
„Ja. Ich dachte auch, das wird hier sone entspannte Kiste, bisschen Smalltalk, aber nichts... naja, zu gefährliches." erklärte sie.
„Findest du die Themen gefährlich?". Ihr Satz irritierte mich etwas. Ich zog die Augenbrauen zusammen, nahm noch einen kleinen Schluck vom Wein, während ich ihr zuhörte.
„Ja, glaub schon. Ich denke, dass es super schnell emotional werden kann. Oder kränkend, verletzend. Das ist schon krass zu hören, wie die Zeit war und was bei dir abging, glaube dir geht's da nicht so viel anders mit. Aber ich hab schon direkt gemerkt, dass ich das gut hören kann. Dass ich das alles gerne hören möchte. Und dass es mir nicht zu viel ist. Und... du hast ja gleich gesagt, dass wir dann stoppen können. Ich bin froh, dass es so gekommen ist. Ich glaub... sonst wäre ich immer noch ziemlich nervös. Als würde das so krass zwischen uns stehen..."
„Ja, das find ich auch."
Eine Weile saßen wir noch auf der Decke, unsere Finger waren irgendwann in einander verschränkt. Immer wieder stellte ich mir vor wie es wäre, wenn ich sie etwas zu mir ziehen würde, wie sie ihren Kopf vielleicht auf meine Brust legen würde und ich den Duft ihres Shampoos riechen könnte. Ich wollte mit einzelnen Haarsträhnen spielen und einfach in der Dunkelheit mit ihr liegen, in den Himmel gucken, gemeinsam nach Sternbildern suchen. Ihr nah sein und... küssen.
Die Kerze neben uns verlor zunehmend an Helligkeit, hielt sich nur noch an dem kleinen Rest des Dochtes am Leben, bis sie mit einem winzigen Windzug ausging. Auch die anderen Kerzen würden nicht mehr lang halten und irgendwie schien die erste Kerze das Ende des Abends eingeläutet zu haben, denn V löste ihre Hand aus meiner und strich sich symbolisch vor Kälte über den Oberarm, zog die Decke nochmal enger um ihren Oberkörper. Auf ein Mal schien diese Magie zwischen uns sich aufzulösen und ich kam wieder im Jetzt an.
„Wollen wir langsam aufstehen?". Ich sammelte bereits die umliegenden Sachen ein und legte sie unsortiert in die Tragetasche zurück. Ohne zu antworten, kniete sie sich hin, half mir die Sachen wieder zu packen und schlüpfte in ihre Schuhe zurück.
„Willst du die Decke nicht noch ein bisschen umbehalten? Wir laufen ja noch ne Weile zum Auto.". Mir fiel der karierte Stoff in der Tasche auf und eigentlich wollte ich ihn gleich wieder herausziehen, um sie einzuwickeln, doch sie lehnte ab.
Bepackt mit den Taschen und den leeren Pizzakartons, liefen wir ohne zu reden zum Auto zurück. Ich lauschte dem Zirpen der Grillen und dem Rauschen vom Wind in den Baumkronen. Die Dunkelheit machte mir keine Angst. Nicht mehr.

Im Wagen verstaute ich die Taschen und öffnete für V die Beifahrertür. Ich holte doch noch schnell die Decke aus dem Kofferraum, als ich ihre Gänsehaut durch die Lichtautomatik im Wageninneren sah. Ich breitete die Decke über ihrem Schoß aus und stellte die Sitzheizung ein. Auch während der Fahrt zurück in die Stadt sprachen wir nicht. Der Song vom Labrinth tönte leise aus meinen Boxen während ich kurz den Blick von der Straße abwendete und sah, wie sie den Kopf ans Fenster gelehnt hatte und sanft schlief. Ich schaltete den Tempomat herunter, um sie länger schlafen lassen zu können, doch endete die Fahrt vor ihrem Haus viel zu schnell.
Per Knopfdruck verstummte der Motor. Ich drehte mich zu ihr, fuhr vorsichtig mit meinen Fingerspitzen über ihre Schläfe, runter zu ihrer Wange, betrachtete ausgiebig ihre Gesichtszüge. Sie zuckte zusammen und brachte auch mich zum zurückschrecken. Ich fühlte mich wie so oft erwischt, nur wusste ich nicht ganz wobei.
„Wir sind da." flüsterte ich schnell, damit sie keine Fragen stellen konnte.
Noch etwas verwirrt, öffnete sie ihre Tür, ging bereits hinaus an die frische Luft. Ich stieg schnell mit aus, um sie zur Tür zu bringen.
„Tut mir leid, dass ich eingeschlafen bin. Es war so schön warm und mit dem Autofahren zusammen... war nicht geplant eigentlich."
„Macht nichts.". Es machte mir wirklich nichts aus. Es zeigte mir, dass sie sich wohl fühlte... und darauf vertraute, dass ich auf uns beide aufpasste.
„Danke für den schönen Abend. Sorry, ich bin noch ein bisschen neben der Spur. Ich will nicht wieder damit anfangen, aber danke fürs Erzählen und auch fürs Zuhören. War mir echt wichtig irgendwie."
„Ja, fand ich auch... schlaf schön, V."
„Du auch... komm gut nach Hause.". Ihr Lächeln war warm, doch sie machte keinerlei Anstalten, dass wir uns umarmen sollten.
Wie verklemmt konnte ich noch sein?!
„Gut, dann... fahr ich mal.". Mein Körper war schneller als mein Verstand. Ich beugte mich zu ihr und nahm sie flüchtig in die Arme. Eine Millisekunde berührten sich unsere Körper, bevor ich mich umdrehte und zurück zu meinem Wagen ging.
Salaksın.

„Volkan?"
„Hm, ja?" sofort drehte ich mich zu ihr und hoffte.
„Träum was Schönes, ja?"

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt