28. Zum 4390. Mal

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V

Mein leerer Magen weckte mich. Die Uhr zeigte kurz nach Mitternacht an. Volkan hatte mich auf der Couch zugedeckt und ein kleines Licht in der Ecke des Raums angemacht, als ich am späten Nachmittag weggedöst sein muss. Auf dem kleinen Couchtisch fand ich eine Notiz.

Bin im Studio und dann mit meiner Mutter essen. Bestell dir (und mir) 'ne fette Pizza. Ich beeil mich. Volkan

Er musste schon ziemlich lange weg sein und dementsprechend würde er vielleicht auch bald wieder da sein. Nachdem ich richtig wach wurde, bestellte ich tatsächlich zwei Pizzen und nutzte die Zeit des Wartens damit, eine heiße Dusche zu nehmen. Die neue Freiheit, nicht mehr umgeben zu sein von Monitoren, Kabeln und weißen Krankenhauswänden, tat sehr gut.  Das heiße Wasser auf meiner Haut schien auch die Verunsicherung und einen kleinen Teil der Erinnerungen der letzten Tage abgewaschen zu haben und ich tankte neue Energie. Ich entschied mich, eine von Volkans Boxershorts und einen Hoodie anzuziehen, bis ich schon das Klingeln vom Lieferservice hörte und eilig zur Tür lief, um den Boten nicht warten zu lassen. Mit dem Handtuch auf dem Kopf und einem der Pizzakartons ließ ich mich aufs Sofa fallen und machte mir einen Film an, der mir laut Netflixanalyse zu 98% gefallen würde. Na gut. 
Ein leises Türklacken ließ mich kurz zusammenzucken. Ich blieb in meiner Bewegung stehen, kaute und schluckte schnell das Stück in meinem Mund und machte große Augen, als ich Volkan hereinkommen sah. Er war nicht allein und schaute mich ziemlich angespannt an. Hinter ihm sah ich zwei Frauen hineinlaufen, die mich sofort freundlich anlächelten. Ich ließ die Pizza in ihren Karton fallen und wischte mir provisorisch den Mund mit meinem Handrücken ab. Volkan machte ein paar Schritte auf mich zu und fing kleinlaut an zu sprechen.

„V, das ist meine Mutter. Ich hatte ihr ein bisschen erzählt, was passiert ist, weil ich langsam los wollte nach Hause... Naja, Ich konnte sie nicht abhalten mitzufahren. Sie wollte dich unbedingt sehen und sich...um dich kümmern.". Sein Mund formte lautlos ein Sorry. Ich war perplex und starrte die drei Personen vor mir nur an. Schnell stand ich vom Sofa auf und zog behelfsweise den Hoodie tiefer, um meinen Unterleib zu bedecken. Das war jedenfalls nicht das geeignete Outfit, um eine Mutter kennenzulernen. Seine Mutter ließ sich davon jedoch nicht abschrecken und schob sich vor Volkan, der wie angewurzelt vor dem Sofa stand.
„Hallo meine Liebe, ich hab' gehört, dass es dir nicht so gut geht. Volkans Freunde sind auch Teil meiner Familie.". Sie zog mich sofort in eine Umarmung und küsste mich auf meine Wangen. „Die blauen Flecken sehen ja sehr schmerzhaft aus. Hast du Schmerzen, meine Süße?". Ich schüttelte langsam den Kopf. Ich verstand nicht, was hier vor sich ging. Es hätte auch einer dieser peinlichen Träume sein können, in denen man nackt vor der Klasse stand. Nur eben mit anderen Hauptcharakteren. Im besten Fall befand ich mich noch immer in meinem Abendnickerchen und würde mich, wenn ich wach würde, für eine Hose entscheiden. 

„Hab' keine Angst vor uns. Das ist übrigens meine Freundin Sonja. Sie kommt auch aus Mannheim und hat mich nach Berlin begleitet. Ich dachte ja erst, dass Volkan etwas zugestoßen ist, bis er mir heute erzählt hat, dass du es bist..., ja. Ich kann mir nur vorstellen, wie gern du deine Eltern bei dir hättest.". Sie versetzte mir mit diesem Satz einen Stich in mein Herz und es bildeten sich zum 4390. Mal in dieser Woche Tränen in meinen Augen.

„Ach Liebes, ich weiß.". Sie legte einen Arm um mich und zog uns beide wieder hinunter aufs Sofa. Nun nahm sie auch den zweiten Arm dazu und hielt mich fest, während ich etwas schluchzte. Dieses Mal erwiderte ich ihre Nähe und drückte sie an mich und fing doch unkontrolliert an zu weinen. Sonja lächelte uns entgegen und kümmerte sich in der Zwischenzeit um das Chaos, das ich in den letzten Stunden in Volkans Wohnung hinterlassen hatte. Volkan stand vollkommen überfordert im Wohnzimmer und schaute dem Geschehen auf seinem Sofa zu. Er schlich sich leise davon, um seine Pizza aus der Küche zu holen und im Stehen ein Stück zu essen, während ich meine Emotionen wieder etwas zu kontrollieren versuchte und mir die Augen mit dem Ärmel seines Hoodies trocken wischte.

Seine Mutter entschied, mit Sonja auf dem Sofa zu übernachten, um da zu sein, wenn wir etwas brauchten. Dass wir beide weit über 20 Jahre waren, schien nicht relevant. Volkan bereitete ihr die Couch vor und bot zum 3. Mal an, ein nahegelegenes Hotel für die beiden zu buchen. Die Antwort kannte er jedoch bereits, bevor er das Angebot nur aussprechen konnte. Während die beiden Frauen sich bettfertig machten, gingen Volkan und ich noch auf den Balkon, um eine zu rauchen.

„Wundert sich deine Mutter nicht, wenn wir in einem Bett schlafen?".

„Meine Mutter ist eine weise Frau. Sie weiß, wann man Dinge hinterfragt, oder sie einfach hinnimmt.". Er blickte wieder in den dunklen Himmel, während er mit mir sprach. Er war so anders in der Gegenwart seiner Mutter. Viel ruhiger, jünger und echter. Mehr antwortete er nicht auf meine Frage, rauchte schweigend neben mir seine Zigarette zu Ende, bis wir wieder hineingingen, um uns ins Schlafzimmer zurückzuziehen. Während ich mich in dem am Schlafzimmer angrenzenden Badezimmer fertig machte, hörte ich die leise Stimme seiner Mutter an der Schlafzimmertür. Ich hatte Mühe, sie durch das laute Geplätscher des Wasserhahns zu verstehen, doch sie sprach ohnehin türkisch und den Wasserhahn auszustellen schien mir zu auffällig.
„Anne, natürlich. Ich weiß gut genug, was sie durchgemacht hat." Pause. „So ist das nicht, glaub mir. Ich empfinde etwas für sie.". Nicht sicher, ob ich das richtig gehört hatte, presste ich nun mein Ohr fest an die Tür. Doch hörte ich ihn nun auch nur noch türkisch sprechen. Mist. 

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt