62. Ich will dir was flüstern

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V

Als wir in den Club kamen, war es bereits überfüllt und die Luft stickig. Sofort spürte ich den Stoff meines Kleides an meiner Haut kleben. Ich wollte mir nicht ausmalen, wie es Volkan in seiner festen Jeans ging. Der Besitzer des Ladens begrüße Volkan per Handschlag und führte ihn zu dem, wie immer, abgesperrten Bereich. Auf den Tischen standen bereits Eiskübel mit Vodka und Energydrinks, die unangenehm durch kleine Fackeln leuchteten. Nach und nach trudelten alle ein und die Sitzbänke füllten sich. Ich saß erst einmal mit Sophie und erzählte ihr gerade von meiner mehr oder weniger schönen Ausbildungszeit und meinem Job bei Joana in der Firma, den ich jetzt seit knapp zwei Jahren hatte. Sophie hörte mir aufmerksam zu, bis ihr Blick immer wieder an mir vorbei ging und sie sichtlich abgelenkt schien. Irgendwann drehte ich mich um und sah Volkan, wie er immer wieder wild gestikulierte. Sophie schien ihn einfach ignoriert zu haben.
„Meinst du, er will was?" belustigt beobachteten wir ihn, wie er winkte.
„Finds ziemlich witzig, wie er einfach nicht aufgibt." ergänzte Sophie. Wir schauten ihn nun beide an und auch Hakan schloss sich seinem Bruder an und sie winkten uns zu sich. Sophie und ich verfielen in lautes Lachen, griffen letztlich doch unsere Gläser und setzten uns zu den beiden.
„Ihr habt noch gar nichts zur Show gesagt? Wie wars im Publikum?" Hakan schaute aufgeregt zwischen uns hin und her.
„Es war heftig!!! Die Stimmung hätte nicht besser sein können, glaube ich. Die Leute sind da vorne fast durchgedreht, vor allem als die Miniexplosionen kamen und das Feuer. Vorbei einfach." Sophie gab den beiden die Kurzzusammenfassung und ich nickte unterstützend.
„Ich hatte einfach super viel Spaß. Danke für die Drinks übrigens." ich sah in Volkans vertraute Augen. 
„Haben sie euch geschmeckt? Ich war etwas zu großzügig mit dem Gin, glaube ich." begann er wieder breit zu grinsen.
„Nö, war genau richtig."
Sophie wandte sich mir zu.
„Kommst du kurz mit aufs Klo? Ich will hier nicht alleine gehen.".
Ich versuchte Volkan über die Musik hinweg zu erreichen. Immer wieder schüttelte er den Kopf, dass er mich nicht verstanden hatte. Noch einmal beugte ich mich tiefer zu ihm herunter und brüllte in sein Ohr. 
„Ich geh kurz auf Toilette, lasse meine Tasche hier, ja?"
„Tamam, passt auf euch auf."

Sophie und ich liefen zum Rhythmus schwingend in Richtung der Toiletten. Auf halber Strecke packte uns doch die Tanzlaune und wir blieben für einige Minuten auf der Tanzfläche zwischen der großen Menschenmasse stehen, um den Song zu genießen. Sophie kam richtig aus sich heraus und animierte mich, mich etwas fallen zu lassen. Ich schloss die Augen und genoss den Beat und ließ meinen Körper sich einfach bewegen. Aus einigen Minuten wurde mit Sicherheit eine halbe Stunde. Wir tanzten gemeinsam und sangen laut zu der Musik, als ich Hände an meiner Hüfte spürte. Kurz lächelte ich. In meiner Entspannung war es mir sehr recht, jetzt mit Volkan zu tanzen und ein bisschen locker zu sein, doch Sophies verwirrter Blick traf mich und ich schnellte sofort herum. Ein junger Mann in weißem Hemd, das er bis zur Brust aufgeknöpft hatte, grinste mich an und zog mich näher zu sich. Ich drückte mich von ihm weg und schüttelte genervt den Kopf. Er lehnte sich zu mir und brüllte in mein Ohr.
„Finde dich richtig geil, wie heißt du?". Seine Hand spürte ich erneut auf meiner Hüfte, die gerade in Richtung meines Pos wanderte.
„Fass mich mal nicht an."
„Was sagst du?"
„Hau ab, ich will nicht mit dir tanzen."
„Sei mal nich so verklemmt, lass bisschen Spaß haben.". Ich drehte mich von ihm weg. Sophies Blick glitt immer mal wieder prüfend über meine Schulter in Richtung des Typen, doch er ließ mich in Ruhe. Die entspannte Stimmung war etwas vorbei und wir liefen nun doch in den Waschraum. Meine Haut glänzte vom Schweiß und meine Wangen waren gerötet. So lange und ausgiebig hatte ich lange nicht mehr getanzt und fing mit meiner Hand Wasser aus dem Hahn auf, um es zu trinken und meinen Körper abzukühlen.
Sophie lehnte sich neben mir an das Waschbecken. Auch sie war aufgeheizt und wedelte sich mit ihrer Hand Luft zu.
„Ey V, ich bin so froh, dass du auch da bist. Hakan hätte niemals mit mir getanzt oder hätte mich so beim Konzert begleiten können. Danke dir.". Sie zog mich in eine Umarmung. Es fühlte sich nicht so fremd an, wie es sich vielleicht hätte anfühlen müssen. Ich war genau so froh, sie heute bei mir gehabt zu haben. 
„Lass uns nochmal tanzen gehen und dann brauche ich dringend einen neuen Drink.". Sie zwinkerte mir zu und zog mich an meiner Hand aus dem Bad. Die Sophie, die ich gestern im Auto kennengelernt hatte und die Sophie, die sich selbstbewusst durch die Menschenmenge schlängelte, mussten zwei verschiedene Personen sein. Wir tanzten noch einen Moment zu 50Cent, bis uns doch der Durst überkam und wir zurück zu den anderen gingen. Ich beugte mich hinunter zum Sitz, um aus meiner Tasche das Drehzeug zu kramen und eine zu rauchen, als ich Volkans festen Griff um mein Handgelenk spürte. Ich guckte ihn erschrocken an.
„Autsch, was machst du denn."
„Wo warst du so lange?" er funkelte mich an.
„Volkan, das tut weh, lass los.". Er ließ nicht los und zog mich etwas zu sich. Ich blickte in seine Augen, die blutunterlaufen waren und bemerkte sofort seine weiten Pupillen. Ganz wunderbar.
Sein Griff löste sich etwas, seine Augen blieben an meine geheftet.
„Ich will dir was flüstern, kannst du bisschen runter kommen?". Mein Blick glitt über den Tisch, auf dem ich das zu Erwartende sah. Etwas angenervt beugte ich mich noch weiter zu ihm hinunter, näher an sein Gesicht und blickte in die nun fast vollständig schwarzen Augen.
„Lass mal ins Bad gehen und ich hol das von letzter Nacht nach. Dann zeig ich dir, was ich draufhab". Er versuchte verführerisch zu klingen, doch es bewirkte das Gegenteil bei mir. Er roch nach Alkohol und Gras und schien ordentlich was gezogen zu haben. Er war zu einem Arschloch geworden.
„Spinnst du?"
„Nein, ernsthaft. Du siehst so geil heute aus, ich will dich unbedingt ficken. Dann haben wir auch zusammen mal Sex in der Öffentlichkeit gehabt. Auf dem Klo hier hab ichs auch noch nie gemacht". Mein Blick spannte sich an und ich wurde ärgerlich.
„Ey, jetzt sei doch nicht so, voll viele Frauen reißen sich um so ein Angebot. Frag die anderen, bisher hat keine Frau Nein gesagt. Oder hast du dir schon jemanden auf der Tanzfläche geklärt? Ich teile nicht so gerne".
Das war genug, ich sah rot.
Ich griff nach meiner Tasche und ließ ihn unkommentiert zurück. Halb in der Erwartung, seinem Angebot folgen zu wollen, stand Volkan auf, hatte jedoch keine Chance, meinem Schritt in Richtung des öffentlichen Bereichs mitzuhalten. Ich hörte ihn nach einem kurzen Moment noch vollkommen übertrieben rufen: „Ey Charlie, geil, dass ihr auch endlich da seid.", bis ich weit genug entfernt war, um von dem Geschehen weg zu sein.
Die Wut kochte in mir, während ich in Richtung Ausgang lief. Ich stieß die schwere Tür auf, ging einige Meter von den Menschen die für den Club anstanden weg und lehnte mich gegen die Fassade des Gebäudes. Nicht heulen, Eve. Atmen. Kein Grund zu weinen, vor allem nicht hier. Dein Freund ist nur zugedröhnt, so ist er sonst nicht, das weißt du.
Ich überlegte, was ich nun machen sollte. Ich hatte keine Lust mehr zu „feiern" und schon gar nicht auf diese toxische Idiotenscheiße, die aus Volkans Mund kam. Ich rauchte zügig und gestresst die aufgeschobene Kippe von eben, schnippte sie auf die Straße und lief zurück in den Club. Ich war schlagartig nüchtern, versuchte unauffällig wieder in den VIP-Bereich zu kommen und suchte Sophie. Sie unterhielt sich gerade, sodass ich meinen Plan streichen musste. Johannes befüllte sich gerade einen neuen Drink, als ich gradlinig auf ihn zu lief und ihn antippte.
„Hey, falls jemand nach mir fragt, ich bin im Hotel. Ich fühl mich nicht so gut. Kannst du das weitergeben?" Johannes schaute mich verwirrt an.
„Wir sind doch noch gar nicht lange da, was hast du denn?"
„Ich fühle mich einfach unwohl und will ins Bett. Die anderen sollen sich nur keine Sorgen machen und ich habe hier keinen Empfang, sonst würde ich es schreiben."
„Volkan sitzt doch aber da drüben, willst du ihm das nicht persönlich sagen?". Sein Blick durchbohrte mich, er ahnte etwas. Und er hatte mich erwischt. Nein, Johannes. Das will ich nicht, da Volkan gerade nicht Volkan ist!!! Gedanken sortieren.

„Der hat doch gerade so viel Spaß und sitzt mit den anderen. Ich will die Stimmung nicht ruinieren. Ich wünsch euch noch viel Spaß.". Wie in einer Präsentation in der Schule ratterte ich meinen Text hinunter und zwang mir ein Lächeln ins Gesicht, bis ich mich umdrehte und Johannes noch einmal nach mir rufen hörte. Ich lief schnell wieder los in Richtung Ausgang und spürte, wie sich das Wasser in meinen Augen sammelte. Ich war von Volkans Verhalten so wahnsinnig enttäuscht und auch angeekelt. Das passierte also auch auf diesen Partys. Ich hatte mir viel vorgestellt und mich mental auf alles vorbereitet, ja sogar, dass er chemische Drogen nehmen würde. Aber wie sehr sich innerhalb einer Stunde sein Charakter veränderte, ging mir nicht in den Kopf.
Während ich auf das Auto wartete, das mich in Hotel fahren sollte, versuchte ich noch einmal meine Gedanken zu sortieren lehnte mich gegen eine kleine Steinmauer, nicht weit vom Club entfernt. Die an mir vorbeilaufenden Gruppen sahen mich irritiert an. Wahrscheinlich fragten sie sich, weshalb ich um die Uhrzeit schon ging, allein am Straßenrand stand und hektisch im Sekundentakt an meiner Kippe zog. Ich wusste nicht, was ich bisher von der Reise nach Mannheim halten sollte. Natürlich würde ich noch zwei Tage hier sein, doch meine Lust hielt sich gerade in Grenzen. Der Uber mit passendem Kennzeichen fuhr auf mich zu und ich hielt meine Hand hoch, um auf mich aufmerksam zu machen. Er hätte mich wahrscheinlich auch nicht übersehen können, da niemand außer mir schon den Club verließ.
Nachdem ich meinen Fahrer grüßte und mich anschnallte, rutschte ich in meinem Sitz hinunter und lauschte der Radiomusik. Gedankenverloren starrte ich in die Nacht und spürte mein Handy in meiner Tasche vibrieren.
Hakan 01:22: Du bist weg?!
Ich las seine Nachricht und wusste nicht, was ich schreiben sollte.
V 01:23: Ja, mir war nicht mehr nach feiern, habt noch viel Spaß
Hakan 01:23: Volkan ist so ein Idiot. Was hat er gesagt?
V 01:23: Ist egal, er ist nicht ganz bei sich. Hab nur ein Auge auf ihn bitte.
Hakan 01:23: Schreib mal bitte, wenn du gut angekommen bist

Ich steckte das Handy wieder in meine Tasche und schloss die Augen für einen Moment, bis ich den Uberfahrer mit mir sprechen hörte.
„Hallo, wir sind da, ist alles ok bei Ihnen?"
„Ja, tschuldigung, alles gut. Schönen Abend noch.". Ich stürmte aus dem Wagen, schloss die Tür hinter mir und lief in das Hotel. Nur noch ein paar Meter bis in mein Zimmer und ich könnte aufhören mit der Maskerade. Schon im Fahrstuhl stiegen mir wieder die Tränen der Enttäuschung und Wut in die Augen. Und mit dem Schritt in mein Zimmer, kullerte auch die erste Träne über meine Wange. Ich zog mein Kleid aus und legte es unachtsam über die Armlehne der Couch.
Als das Wasser der Dusche meine Haut erreichte, versuchte ich mich wieder etwas zu sammeln und zu entspannen, was für den Moment gut funktionierte. Ich konnte an der Situation gerade nicht mehr machen. Als ich das Kissen unter meinem Kopf fühlte, traf mich die Müdigkeit wieder wie ein Schlag und ich schloss meine Augen. Viel zu unruhig fand ich in den Schlaf und wurde von undefinierbaren Geräuschen geweckt. Ich schreckte auf und schaute mich in dem stockdunklen Schlafzimmer um. Mein Handy zeigte mir die Uhrzeit. 5:58 Uhr. Ich hörte das Rumpeln im Wohnbereich und erkannte Johannes ruhige Stimme.
„Du musst leise sein, man. V schläft schon.". Als Reaktion hörte man Volkan laut grölen.
„Wo ist meine Süße, ich will sie sofort in meine Arme nehmen."
„Das hast du dir heute verbaut, Bro. Du musst erstmal schlafen und wieder klarkommen, bevor du mit ihr redest." antwortete Johannes angestrengt.
Volkan sang laut einen Song aus dem Club nach und pfiff, recht schief für seine sonstige Leistung, einen Teil des Refrains. Seine Worte kamen nur noch gelallt heraus. Die Stimmen näherten sich immer mehr und ich ließ mich schnell wieder ins Bett fallen. Ich schloss meine Augen und tat, als hätte ich tief und fest geschlafen. Eine Auseinandersetzung mit Volkan würde ich heute Nacht nicht mehr aushalten. Vor allem nicht in seinem Zustand.
Immer wieder knallte jemand gegen etwas, der Weg bis zum Bett klang unkoordiniert und schien unendlich. Johannes knipste die kleine Nachttischlampe an und ich spürte, wie sich die Matratze neben mir senkte. Volkan hatte sich ausgebreitet neben mir hingelegt und Johannes zog am Bettende an seinen Stiefeln.
„Hilf doch mal n bisschen mit, du musst dich ausziehen."
„Kack drauf, ja.". Volkan gähnte, während er die Worte aussprach.
Einige Sekunden geschah nichts und man hörte Volkan bereits leise schnarchen. Johannes löschte das Licht und das Klicken der Hotelzimmertür verriet mir, dass wir allein waren. Wie aufs Stichwort drehte sich Volkan in diesem Moment zu mir und seine Hände umfassten meinen Körper. Ich reagierte sofort und entzog mich ihm. Ich konnte seine Nähe gerade einfach nicht aushalten. Ich wusste, wenn ich das jetzt zuließ, würde morgen alles wie immer sein und ich würde alles von heute Abend runterschlucken. Ich griff nach meinem Bettzeug und meinem Handy und lief zur Couch im Wohnbereich. Volkan schlief ruhig weiter, hatte nichts von meiner Flucht mitbekommen und gab keinen Laut von sich, als ich mich auf die Couch legte und für unzählige Minuten die Decke anstarrte. 

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt