72. Warum

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V

Nachdem Sam gestern Abend ging, blieb in mir ein komisches Gefühl zurück. Er war oft so larifari unterwegs. Ich hatte eigentlich gehofft, dass er mich einfach bestärken würde, statt mich zu ermutigen, auf Volkan zuzugehen. Sollte ich Volkan wirklich nochmal schreiben? Ich sah mich nicht in der Position, mich entschuldigen oder erklären zu müssen. Er hatte einfach aufgelegt, wobei er wusste, wie respektlos ich so etwas fand. Ich war stur und wollte nicht angekrochen kommen.

Mein Arbeitstag gestaltete sich genau wie der gestrige. Ich versuchte mich abzulenken und möglichst viel abzuarbeiten, während ich bei jedem Vibrieren meines Handys hoffte, dass Volkan sich endlich meldete. Doch je mehr Zeit verging, desto mehr schwand meine Zuversicht.

Die Sonne prallte mitten auf meinen Platz im Büro und mein Blick glitt aus dem Fenster und haftete für einige Minuten am Himmel. Ich beobachtete die kleinen Schäfchenwolken am Himmel und die vorbeiziehenden Vögel. Kopfschüttelnd über mich selbst unterbrach ich mein Starren und beschloss es für heute gut sein zu lassen. Ich packte meine Tasche zusammen und setzte die breite Sonnenbrille auf. Meine ohnehin schon aufgeknöpfte Bluse zog ich mit dem Verlassen des Büros aus und spazierte im Top durch die Sonne. Erst jetzt nahm ich richtig den mittlerweile eingezogenen Sommer wahr und entschied, auf die verschwitzte U-Bahnfahrt zu verzichten und lief los. Es dauerte nicht lang, bis ich mich verlief und mein Handy zur Navigation zu Rate ziehen musste.
Am Gleisdreieckpark entschied ich mich für eine kurze Rast und setzte mich in den Schatten an einen Baum. Die Ameisen liefen eifrig um mich herum und ich beobachtete das Wuseln am Boden. Dieses Bild, was sich hier vor mir präsentierte, strahlte so viel Ruhe aus. Zwischen den Grashalmen tauchte immer wieder eine Ameise auf, die scheinbar genau zu wissen schien, wo sie hinmusste, was sie zu tun hatte. Und so schnell wie sie auftauchten, waren sie auch schon wieder im Grün verschwunden.
Doch der Frieden herrschte nicht in meinem Kopf. Er war nur äußerlich zu erahnen, wenn die vorbeigehenden Menschen mich ansahen.
In meinem Kopf schwirrte nur noch ein Name. Volkan, Volkan, Volkan.
Ich stellte mir immer wieder die gleichen Fragen.
Warum war es in letzter Zeit so schwierig zwischen uns?
Warum war er bei dem Telefonat so drauf?
Würde das mit uns jemals funktionieren?
Hatten wir die gleiche Vorstellung von Partnerschaft? Vom Leben?
Brauchte er vielleicht das Drama in einer Beziehung?
Würden wir uns trennen?
War das gerade seine Art Schluss zu machen?

Die letzte Frage kränkte mich am meisten. War ich ihm nicht ein mal wichtig genug, dass er es per Telefon aussprach? Ich setzte mich wieder auf, um weiter zu laufen. Ich merkte, je mehr ich nachdachte, dass ich umso emotionaler wurde. Und hier anfangen zu heulen?! Ich glaube nicht.
Ich war erschöpft von dem bisherigen Weg und lief nun doch die Treppen zur U-Bahn hinauf und fuhr den restlichen Weg zu meiner Wohnung.

Es war einfach nur trostlos. Ich fühlte mich wie angefahren und sackte auf meinem Sofa zusammen. Trotz der hohen Temperaturen draußen, hatte ich ein riesiges Bedürfnis, mich in eine Decke zu hüllen, was ich auch tat. Der Fernseher im Hintergrund lief nur, damit ich mich nicht so einsam fühlte. Und dann war endlich Ruhe. Meine Gedanken wurden leiser, meine innere, wertende Stimme hielt endlich den Mund. Meine Augen fielen zu, die Träume fingen an.

-

Jegliches Gefühl für Tag und Zeit hatte ich verloren. Unter Kissen und Decken begraben, kam ich etwas zu mir und suchte blind meine Couch nach dem Handy ab.
Donnerstag. 05:15 Uhr. Traumhaft.

Das Knurren in meinem Bauch brachte die unschöne Erinnerung, dass ich schon wieder nicht gegessen hatte. Mir fehlte der Appetit, doch ich zwang mir eine Banane und eine Scheibe Brot hinein. Nachdem ich geduscht und mich fertig gemacht hatte, sah ich die Sonne hinter den Häuserdächern aufgehen und entschloss, schon jetzt ins Büro zu fahren. So hatte ich wenigstens meine Ruhe und konnte für mich allein arbeiten. Nur mit dem Unterschied, dass ich heute das Handy lautlos stellte und direkt in meiner Tasche ließ. Reiß dich endlich zusammen und hör auf, wie ein Teenie auf seine Nachricht zu warten. Du bist erwachsen.
Ich arbeitete die Mittagspause durch und baute heute definitiv einige Überstunden auf. Dafür würde ich mir an einem anderen Tag sehr dankbar sein, das wusste ich.

„Hey V?" ich sah eine Bewegung oberhalb meines Bildschirmes und zog den Kopfhörer aus meinem Ohr.
„Hey, Hannah" ich lächelte ihr entgegen.
„Du scheinst ja richtig drin zu sein heute. Wollte nur fragen, ob du mitkommen willst, was essen?"
„Oh... das ist lieb, aber nein danke. Ich mach das hier noch fertig."
„Du bist doch schon vor uns da gewesen, willst du nicht langsam auch nach Hause?" sie war zaghaft in ihrer Frage.
„Ja... ich schreib noch die Mail fertig und gehe dann auch. Wir sehen uns morgen. Lasst es euch schmecken". Sie lächelte mir noch einmal entgegen, bevor sie meine Tür wieder schloss und mich allein ließ. Ich hatte nicht mitbekommen, dass es mittlerweile schon fast 18 Uhr war.

Ich schlenderte auf dem Weg nach Hause noch in den Supermarkt und packte teilnahmslos unnötige Dinge in meinen Korb. Vor der Kühltruhe blieb ich stehen und scannte wiederholt das Angebot, bis ich, wie sonst auch, nach dem halben Liter Eis griff und mich schon mit dem Eis auf dem Sofa mit einem Löffel bewaffnet, sah. Die Tüten wurden mit jedem Meter schwerer und ich war erleichtert, als ich endlich die Eingangstür meines Hauses aufschloss. Die zwei Stockwerke hoch in meine Wohnung waren beschwerlich und die Griffe der Papiertüte waren nicht sonderlich verlässlich. Wieder fantasierte ich, wie ich sämtliche sündhafte Lebensmittel von den Stufen sammeln musste und all meine vorbeilaufenden Nachbarn mitleidig zu mir herunterschauten. Ich drehte die letzte Kurve auf dem Treppenabsatz in Richtung meiner Wohnung, als ich die schwarzen Loafer erblickte. Mein Blick wanderte schlagartig hinauf zu meiner Etage, als ich Volkan auf der obersten Stufe sitzen sah und selbst abrupt stehen blieb.
Nach einigen Sekunden war ich mir sicher, dass sich meine Fantasie hier keinen Streich erlaubte. Er war wirklich hier.
„Was machst du hier?" ich flüsterte nur. Falls ich es mir doch einbildete, sollte mich niemand hören.
„Ich... Hi." er schaute mich nur an. Schnell zog er die Brille von seiner Nase und strich sich über seine Stirn, entlang seiner Haare. Er sah traurig aus, sein Lächeln erreichte nicht einmal seine Augen.

„Kann ich reinkommen?". Ich stand noch immer perplex auf der Stufe und das Papier der Tüten schnitt sich mehr und mehr in meine Hand. Meine Beine setzten sich in Bewegung und ich lief an ihm vorbei zu meiner Wohnungstür. Erst jetzt merkte ich den Schwall an Emotionen, der auf mich niederprasste. Ich war...wütend und enttäuscht und vor allem traurig. Ich stellte eine der braunen Tüten neben mir ab, um die Tür zu öffnen und noch bevor Volkan sie greifen konnte, um sie mir abzunehmen, nahm ich sie wieder an mich. Ich lief direkt durch zur Küche, um die Einkäufe auszuräumen, während er sich die Schuhe auszog und langsam ins Wohnzimmer gelaufen kam.
Es fühlte sich so merkwürdig an. Noch vor wenigen Tagen sagten wir uns, dass wir uns liebten, weinten aneinandergepresst und vermissten uns, während wir uns noch hielten. Und nun... war diese Distanz und Kühle zwischen uns.
Volkan stand verloren vor dem Couchtisch und blickte sich in der Wohnung um, als wäre er das erste Mal da.
„Willst du was trinken?"
„Wasser... bitte". Ich füllte zwei Gläser mit gekühltem Wasser und stellte sie auf dem Couchtisch ab.
„Wie lange hast du da gesessen?" während ich die Frage stellte, setzte ich mich auf meine Couch und schlug ein Bein über das andere. Volkan tat es mir gleich und setzt sich mit einigem Abstand dazu. Wir sahen uns nicht an.
„So... drei Stunden ungefähr." Seine Stimme war zurückhaltend, fast unsicher.
„Warum hast du nicht geschrieben, dass du kommst? Hätte dir das Warten erspart."
Sein Blick flüchtete in Richtung Boden und er beantwortete meine Frage nicht. Stattdessen griff er nach dem Glas und trank gierig die Hälfte.
Einige Minuten saßen wir nur so da und ich fragte mich, wann er endlich anfangen würde zu reden. Nervös nestelte ich an meinen Nägeln herum und kratzte an meinem Nagellack. Ich überlegte angestrengt, warum er persönlich kam. Was war mit seinen Shows, wieso kam er jetzt her. Ein Räuspern holte mich zurück aus meinen Gedanken.
„Du fragst dich sicher, warum ich hier bin." ich reagierte nicht und schaute auf meine Finger. An zwei Fingern hatte ich bereits den Lack abgekratzt. Hör auf mit dem Scheiß, hör zu.
Ich spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte und schaute zaghaft nach rechts zu Volkan. Auch er starrte auf seine zusammengefalteten Hände.
„Ich möchte dich bitten, erstmal nur zuzuhören. Bitte."
„Okay" und langsam begann Volkan seine Worte zu sortieren und auszusprechen. 

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt