1. Vorsicht, Kleines

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Mein Handy vibrierte und ich war sofort genervt davon, warum ich es nicht lautlos gestellt hatte. Ich erwartete eine der üblichen Nachrichten, wie der Arbeitsplan für den kommenden Monat aussah oder eine der nervigen Gruppenchats für die nächste "fancy" Geburtstagsparty zum 30. irgendeiner Freundin, zu der ich eingeladen wurde. Ich las seinen Namen und musste sofort lächeln. Sam, der gar nicht Sam hieß, aber nur unter diesem Namen bekannt war. Mit dem ich vor einigen Wochen im Club versackt bin. "Hey Love, was geht am Wochenende bei dir? Wenn du Lust hast, ich bin zu 'ner richtig geilen Party eingeladen, Plus1?"

Sam hatte eine hässliche Trennung hinter sich und fiel mir an einem Abend vor zwei Jahren nach zu viel Alkohol weinend in die Arme im Raucherbereich eines Clubs. Seitdem waren wir befreundet und teilten jede Emotion miteinander. Sam war drei Jahre jünger als ich, gerade erst vor 2 Jahren nach Berlin gezogen und maßlos mit dieser Stadt überfordert. Sein Plus 1 wurde ich erstmalig, als er zur Hochzeit eines guten Freundes eingeladen wurde und niemandem Antwort stehen wollte, wo seine langjährige Freundin hin war. Dass die Antwort "bumst wahrscheinlich auf Malle mit ihrem neuen Freund" sehr ungefiltert und passiv aggressiv war, wusste er gut genug und nahm mich stattdessen mit. Es waren die besten Abende unseres Lebens und Sam der liebste Mensch der Welt. Statt online zu gehen und auf seine Nachricht zu antworten, wählte ich den kürzeren Weg und rief ihn an. Um 20 Uhr am Kotti, mehr Infos vor Ort. So unpräzise ließ er mich oft zurück, sodass meine Kleiderwahl von bis reichte. Es wurde das übliche. Boots zum Tanzen, Jeans, T-Shirt, Pulli und mein Ledermantel. Meine braunen, schulterlangen Haare trug ich offen und geglättet. Das würde ein Fehler werden bei dem Wind heute.
Wie immer, kam Sam ein paar Anstandsminuten zu spät und drückte mir entschuldigend Küsse gegen dir Schläfe. "Lass uns erstmal einen Drink nehmen, dann ziehen wir weiter.". Die spontanen Aktionen kannte ich schon und ich ließ mich immer gern von ihm überraschen. Nach meinem zweiten Gin-Tonic wurde ich jedoch etwas neugierig und versuchte etwas von Sam zu erfahren. "V, ich sagte doch, lass dich überraschen. Das wird super! Wann habe ich dich jemals enttäuscht?!" Mit einem skeptischen Blick schlürfte ich einen Schluck aus meinem Drink. Wo er Recht hatte...

Ich zog meinen Mantel beim Gehen enger. Sam tänzelte neben mir umher, der Alkohol schien bei ihm zu wirken. Abrupt blieb er stehen mit Blick nach oben "da sind wir." Ja ok... wo?! Nicht im schönsten Teil Kreuzbergs blieb er vor einem Wohnhaus stehen. Ziemlich abgewetzt. Seine Handytaschenlampe gab uns einen Blick auf das Klingelschild Preis, bis er den gesuchten Namen fand und mehrfach klingelte. Bei dem Elan waren wir schneller wieder draußen, als er gucken konnte. Ein Summen gab uns doch die Bestätigung hereinkommen zu dürfen. Im Treppenhaus machte sich ein tiefer Bass breit. Man spürte die Vibrationen und Sam strahlte mich mit einem Blick nach unten vom Treppenaufgang an. Er gab mir zu verstehen <das wird super!!!>
Ich lächelte etwas aufgesetzt mit. Mir war kalt, ich hatte Durst und eigentlich keine große Lust auf eine Home-Techno-Party. Ein ziemlich großer Typ stand vor der Wohnungstür und fragte nach unseren Namen. Die Antworten schienen richtig und wir betraten die ziemlich schicke Altbauwohnung. Unsere Jacken und meine Tasche wurden entgegen genommen und ein Schild "Handys nicht erwünscht" ließ kaum Spielraum für Alternativen.
Eine Nebelmaschine verdichtete die Sicht und Sam führte mich an der Hand durch einen Raum zu einer kleinen provisorischen Bar. Ohne zu fragen, drückte er mir den Schnaps in die Hand und zwinkerte mir zu, bis jemand seinen Namen grölte. Ruckartig drehte er sich um und fiel einem Mann in die Arme. "Julian!!! Ist das geil, dich endlich zu sehen. Du hast mir so gefehlt, man". Sam wiederholte seine Begrüßungen unzählige Male und ich fühlte mich fast überflüssig. Nicht mal ein Glas, an dem ich mich festhalten konnte. Nach der kurzen Diskussion in meinem Kopf, mir doch noch einen Longdrink zu holen, rissen mich die Blicke seiner Freunde aus meinen Gedanken. Alle schauten mich erwartungsvoll an. Ich musste die Frage überhört haben und schaute nur verwirrt und fragend in die Gesichter. "Spricht sie kein Deutsch?" Hörte ich eine Stimme gedämpft durch den Bass. "Doch doch, das ist V, eine gute Freundin von mir". Lächelnd ging ich einen Schritt auf die Männer zu. Wider Erwarten zogen sie mich in eine Umarmung und an meinem Ohr ein Brüllen :„eine oder deine Freundin??" Sam musste schmunzeln... die übliche Frage. "EINE!" rief er zurück. "V hat mich nach der Trennung von Anna ziemlich aufgefangen und ist seitdem nicht mehr wegzudenken". Die Namen würde ich definitiv in den nächsten zwei Sekunden vergessen.. Johannes, Musti, Julian und .... Sasan! Sasan war es.
Nachdem ich die 5. Umarmung gab, strahlten mich alle an und ich fühlte mich sofort wohler und aufgenommen. Julian gab das Zeichen in den Nebenraum zu wechseln, in dem die Musik etwas ruhiger war, sodass man sich unterhalten konnte. Im Gleichklang erzählten mir Sam und Julian, dass sie sich aus der Schule kannten und was sie im Laufe der Jahre alles gemeinsam erlebt hatten. Julian erzählte, dass er beruflich sehr eingebunden war und nur noch selten seine alten Freunde sah und umso glücklicher war, dass Sam sich auf spontane Treffen in Kreuzberg einließ.
Nach der vierten Geschichte, musste ich dringend zur Toilette und ließ mir von Julian sagen, wo das Bad war. Es war leider besetzt und ich wartete fünf Minuten vor der verschlossenen Tür, bis meine Ungeduld immer weiter stieg. Die Hand bereit an der Tür zu klopfen, öffnete sich diese ruckartig und ich wich zur Seite, um die blonde Frau rauszulassen. Ich verlor keine Sekunde und stürmte ins Bad, kam jedoch nicht weit und lief direkt mit dem Kopf in eine Männerbrust. Trotz meiner 1,75m kam er mir unfassbar riesig vor. Seine Hände griffen reflexartig an meine Taille und ich hob den Kopf, um das Gesicht zum Körper sehen zu können. Ein Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab und sie begannen zu reden: "Na du bist ja stürmisch unterwegs. Vorsicht, Kleines". Die Augen des dunkelhaarigen Mannes blieben mir unter einer Sonnenbrille verborgen. Mein Kopf konnte die Informationen gar nicht so schnell verarbeiten und ich schaute ihn verwirrt an und entschuldigte mich reflexartig. Wie einstudiert tänzelten wir um 180 Grad um einander herum, bis er die Sonnenbrille ein Stückchen die Nase hinunter schob, mich ansah und ganz leicht zwinkerte, bis er die Badezimmertür von außen zu zog und mich allein ließ. Schnell schloss ich ab und stürmte zur Toilette, das war dringend gewesen. Während ich mir die Hände wusch, betrachtete ich mich im Spiegel und merkte, wie betrunken ich aussah. Das Pärchen war mir vorher in der Wohnung gar nicht aufgefallen, komischer Abgang. Nachdem ich meine Gedanken gesammelt hatte, ging ich zurück zu Sam und forderte ihn auf, mit mir zu tanzen. Vollkommen verschwitzt und sehr betrunken entschloss ich um 5 Uhr die Wohnung zu verlassen und setzte mich in einen Uber Richtung Heimat. Im Auto schrieb ich Sam eine Nachricht. "Sam, bin durch und im Uber, danke für den Hammer-Abend, gerne wieder. Hab dich lieb, V."
Vollkommen verkatert und todmüde wachte ich am nächsten Nachmittag auf und sagte mir immer wieder: nie wieder so viel Alkohol, du bist zu alt dafür.

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt