30. Traurige Kinderaugen

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V

Bereits nach wenigen Tagen war es mir klar: Seine Mutter war eine tolle Frau. Ich schätzte sie sehr und genoss tatsächlich, dass sie hier war. Sie kümmerte sich um uns, doch fiel uns zu keinem Zeitpunkt zur Last. Man merkte, wie sehr Volkan sie respektierte und liebte und sich gleichzeitig nie in ihrer Gegenwart verstellen musste. Natürlich abgesehen von unserer Situation.
Seine Mutter blieb für einige Tage in seiner Wohnung und nahm das Kümmern wortwörtlich. Jeden Morgen bereitete sie ein tolles Frühstück für uns alle vor, wusch für uns die Wäsche und machte sauber, damit wir uns ausruhen konnten oder Volkan ins Büro fahren konnte. Mit jedem weiteren Tag verstanden wir uns besser, lernten uns richtig kennen. Ich konnte meinen Fokus mehr und mehr auf mein Leben richten und erzählte ihr viel von dem, was ich gern in meinem Leben machte, was mich begeisterte und wer ich war.
Sie nahm sich vor, mir in den nächsten Tagen das Sticken beizubringen und dabei alte Serien zu schauen, was ich als wahnsinnig herzliche Geste verstand. Sie löste in mir diese Wärme aus, obwohl ich sie nicht lange kannte.
Als Volkan sich immer mal losmachte, um Dinge zu erledigen, um im Studio zu arbeiten oder sich bei Events blicken zu lassen, verbrachten wir viel Zeit zusammen und sie berichtete mir von ihrer schmerzlichen Sehnsucht nach ihren Söhnen. Ich lernte Volkan noch einmal besser über seine Mutter kennen und vor mir entstand dieses Bild eines kleinen Jungen mit traurigen Kinderaugen, der nichts mehr wollte, als gesehen und geliebt zu werden. Insbesondere von seinem Vater, der ihn und die Familie schon früh verlassen hatte. Ich vermied es, aus Neugier mehr über seinen Vater zu erfragen. Es sollte es mir freiwillig erzählen, wenn er bereit dazu war. 

Seine Mutter und ich machten es uns an einem Samstagabend vor dem Fernseher gemütlich. Sonja war für ein paar Tage nach Potsdam zu ihren eigenen Kindern gefahren und Volkan besuchte ein weiteres Event mit seinen Jungs. Wie sagte er so schön, manchmal geht's leider doch ums blicken lassen.
Wir hatten ein paar Antipasti im Supermarkt gekauft, einen Film aus den 2000ern ausgesucht und himmelten gerade den Schauspieler auf dem Bildschirm an, als krachend die Tür zu seiner Wohnung aufflog. Kurz durchzog mich die Angst, als mein Verstand jedoch einsetzte und ich Volkan erkannte. 

Er war sturzbetrunken und kam oberkörperfrei in die Wohnung getorkelt. Fassungslos schauten wir ihn an. Er warf die Tür hinter sich zu, schmiss seine Schlüssel zu Boden und grölte laut im Flur.
„Wo sind meine beiden Lieblingsfrauen?" schrie er nun fast. Wir blieben beide wie angewurzelt auf dem Sofa sitzen und schauten nur in seine Richtung. Er wirkte ungehemmt und in mir kam ein Gefühl der Angst auf. Er lief stürmisch auf uns zu, bis wir zeitgleich aufstanden. Seine Mutter stellte sich halb vor mich, strahlte jedoch nur halb so viel Mut aus, wie sie versuchte. Er machte abrupt vor uns Halt und hielt seine Hände schützend in die Höhe.
„Habt ihr etwa Angst vor mir?!". Er war tatsächlich darüber verwundert.
„Anne, du weißt, ich würde dir nie etwas tun.". Seine Sprache war so verwaschen und er hatte Mühe, gerade zu stehen, sodass er durch kleine Tippelschritte seinen Stand ausgleichen musste. Seine Hände, die er eben noch offen vor seinen Körper hielt, schnellten nun an mein Gesicht, zogen mich näher zu sich. Ich zuckte ein wenig zusammen und kniff die Augen zusammen. Er beugte sich zu mir, sodass er mich direkt ansehen konnte. Seine Augen waren sehr blutunterlaufen, sein Atem roch nach starkem Alkohol, Zigaretten und Gras. Er versuchte mich zu küssen, doch ich zog zurück. Enttäuscht schaute er mich an, als hätte er die Situation nicht verstanden. Ich blickte auffällig zwischen ihm und seiner Mutter hin und her, bis bei ihm ein Licht aufgegangen zu sein schien.

„Ist doch egal!" lallte er mir mit einem provozierenden Lachen entgegen. 

„Nein, Volkan. Ist es nicht." gab ich knapp zurück.

„Es hat doch eh jeder schon gecheckt.". Seine Stimme klang verzweifelt und wurde immer lauter.
„Du denkst immer noch ich spiele mit dir, will nur mit dir ficken...Dabei gebe ich mir echt Mühe dir den ganzen Freiraum und so zu geben. Um endlich weiter zu kommen.".

„Volkan, es reicht. Deine Mutter steht neben uns." zischte ich ihn an, doch brachte es nichts. 

„Na und?! Selbst meine Mutter versteht meine Gefühle für dich besser, als du! Gib dir das mal. Oder willst du es einfach nicht sehen? Willst du mich nicht? Willst du einen anderen?". Nun wirkte er traurig, wie der kleine Junge aus den Erzählungen seiner Mutter. Und ich wurde immer wütender. Ich hielt diese Situation nicht mehr gut aus und starrte Volkan böse an, bis ich mich umdrehte und meinen Weg ins Schlafzimmer antrat.

„Fick dich, V." hörte ich ihn hinter mir sagen. Ich wusste, dass er betrunken war, er endlich eine Reaktion von mir provozieren wollte. Doch ich hatte keine Kraft, darüber hinwegzuhören, ihn zu beruhigen oder geschweige denn, ihm meine Gefühle für ihn mitzuteilen. Ich drehte das Schloss hinter mir zu und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Tür. Unter meinen Händen verbarg ich mein Gesicht und weinte lautlos, in der Hoffnung, nicht gehört zu werden. Irgendwann legte ich mich vor die Tür und hörte dem Streit auf Türkisch auf der anderen Türseite zu, bis ich einschlief.

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt