17. Wie klein man sich manchmal fühlt

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V

Vor der Bar bildete sich eine Traube an Menschen, die auch irgendwann unsere Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Tumult verdeutlichte uns, dass Volkan und Julian scheinbar angekommen waren. 
Gefühlte drei Stunden später schafften sie es zu uns an den Tisch, hatten sich mit Mühe an den Menschen vorbei gezwängt und im Vorbeigehen ein paar Fotos geschossen. Der Barbesitzer kam aufgesetzt freundlich und groß gestikulierend zu uns, um die beiden persönlich zu begrüßen. Idiot.
"Ich sperr' für euch den hinteren Bereich, damit ihr eure Ruhe habt." sagte er selbstgefällig in Richtung der beiden.
"Brauchst du nicht, das hört gleich auf." antwortete Volkan neben mir ruhig.
"Das ist echt kein...". Volkan unterbrach ihn, bevor der rundliche Typ mit spiegelglatter Glatze seinen Satz zu Ende bringen konnte.
"Echt nicht, danke. Wir nehmen zwei Jacky Cola und nochmal das, was die beiden hatten.". Er machte ihn mundtot. Ohne zu Antworten ging der Mann Mitte 40 zurück in Richtung Bar. 
Ich hatte bereits zu Beginn alle miteinander bekannt gemacht und war erleichtert darüber, dass Luisa nie Hemmungen hatte, ein Gespräch zu beginnen. Sie hatte keinerlei Berührungsängste, zeigte sich locker und witzig, wie sie immer war und neben der Entspannung spürte ich auch den Spaß, den ich den Abend über hatte. 
Irgendwann zeigte Luisa uns ein Kneipenspiel, von dem ich die Regeln sofort wieder vergaß und zu häufig hatte trinken musste. Verdächtig oft mussten wir anderen zum Glas greifen, während Luisa verschmitzt grinste.
"Du schummelst doch, gib's wenigstens zu!" rief ihr Julian mit rauchiger Stimme zu, der vor Empören die Karten auf den Tisch knallte. Sie zuckte nur engelsgleich die Schultern und lächelte. 
Immer wieder blickte ich mich in der Bar um, denn ich spürte die Blicke auf uns. Volkan und Julian hatten sich mit dem Rücken zu uns gesetzt, damit man auf den Fotos, die definitiv heimlich entstanden, wenigstens ihre Gesichter nicht sah. Dass man unsere stattdessen umso besser erkannte, machte scheinbar nur mir Bauchschmerzen.  
Nach dem dritten Gin-Tonic merkte ich, dass es langsam Zeit war zu gehen. Ich spürte den Alkohol allmählich wirken und wollte nicht schon wieder verkatert sein, zumal morgen auf der Party erneut getrunken werden würde.  Du musst endlich kürzertreten... belehrte mich mein strenges Gewissen immer wieder, woraufhin ich einen weiteren großen Schluck nahm. Sollte es doch daran ersticken und endlich Ruhe geben.
Wir brachen auf, nahmen auf Anraten des Barkeepers den Hinterausgang, und standen in der Kälte am Straßenrand. 
Während wir noch klärten, wer wie nach Hause kam, bestand Julian quasi darauf, Luisa nach Hause zu bringen. "Das gehört sich so" hatte er versucht sich zu rechtfertigen. Aha. 
Neugierig schaute ich Luisa nach, wie sie mit Julian in den Uber stieg und uns freudig durch die geöffnete Fensterscheibe zuwinkte. 

"Ich muss morgen schon früher los, zur Location. Hast du Lust bei mir zu pennen? Dann könnten wir bisschen länger schlafen." führte Volkan die Planung für den Heimweg fort. Er versuchte wirklich, es für uns beide so angenehm wie möglich zu machen, doch schaltete in mir wieder die Ambivalenz, etwas mehr Distanz schaffen zu müssen. Teil meines Lebens sein, okay. Aber beieinander zu übernachten, brachte uns erst zu dem Schlamassel, in dem wir irgendwie steckten. Wir brauchten klarere Grenzen als Freunde. 
"Wir können auch getrennt nach Hause. Lass uns den Uber teilen und ich fahre von dir einfach weiter." versuchte ich möglichst lässig rüber zu bringen, doch traute ich mich nicht, ihn direkt anzusehen. Das wollte er nicht hören, das wusste ich. Der Uber fuhr vor und in einer Bewegung zog Volkan die Tür für mich auf, dass ich auf der Rückbank durchrutschen konnte. Sein Blick war stur auf mich gerichtet, als sich das Auto in Bewegung setzte. Zaghaft schaute ich in sein Gesicht, das nur von den vorbeiziehenden Lichtern der Laternen angestrahlt wurde. Ich konnte seinen Blick nicht lesen und es verunsicherte mich etwas. 
"Ich möchte heute Abend nicht allein sein.." sprach er nun bedeutend leiser, damit der Fahrer ihn nicht hörte. Seine Aussage ließ mit einem Mal keinen Spielraum für Fragen und ich nickte nur langsam, auch wenn ich noch nicht verstand, wo auf einmal diese Ernsthaftigkeit herkam. So direkt und irgendwie...bedrückend ehrlich. 
Ich wusste, dass der Wunsch nach Distanz kein Thema mehr sein sollte. Dass er mich, aus welchen Gründen auch immer, heute als Freundin brauchte. 
Den Rest der Fahrt schwiegen wir, wie auch auf dem Weg in seine Wohnung. Wortlos ließ er mir den Vortritt in sein Badezimmer, in dem bereits ein paar Pflegeprodukte von mir verstaut waren, damit ich mich bettfertig machen konnte. 
Als ich zurückkehrte, lag bereits ein T-Shirt und eine Jogginghose von ihm auf dem Bett bereit, die ich tragen konnte. Ich schlüpfte in die viel zu große Kleidung und kehrte in das leere, kaum beleuchtete Wohnzimmer zurück. Ich sah Volkan auf dem Balkon stehen. Leise öffnete ich die Tür und ging die zwei Schritte hinaus in seine Richtung. Er blickte in den Himmel, folgte mit den Augen den einzelnen Lichtern am Nachthimmel. Ich gesellte mich zu ihm, doch er wendete den Blick nicht ab. Gedankenverloren begann er leise zu sprechen.
"Wahnsinn wie klein man sich manchmal fühlt, wenn man das sieht, oder?"'. Sein Blick war noch immer gen Himmel in die Sterne gerichtet. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, warum er auf einmal so tiefgründig wurde. Warum er mich so traurig machte.
"Ist alles ok?" fragte ich ganz behutsam. Er antwortete nicht. 
"Volkan?". Sorge stieg in mir auf. Ich beugte mich noch ein wenig weiter vor, um ihn dazu zu bringen mich anzusehen, als er leicht den Kopf in meine Richtung drehte. 
Er sah mich von der Seite an. Tränen waren in seinen Augen zu erkennen.
"Weißt du, manchmal ist das einfach alles ein bisschen viel. Ich möchte manchmal die Zeit zurück drehen und nur ich sein. So wie du mich kennst. Nicht mehr und nicht weniger.". Seine Stimme zitterte ein wenig, als könnte sie in jeder Sekunde brechen.
Ich strich vorsichtig an seinem Rücken auf und ab. Es war kein Moment, um eine Lösung zu finden, sondern einfach zuzuhören, da zu sein. Er musste nicht viele Worte verlieren, damit ich verstand, was er sagen wollte. Für mich war es ohnehin ein Rätsel, wie man in diesem Business gesund bleiben sollte. Mit einem Mal war mir klar, warum er heute Nacht nicht hatte allein sein wollen. Er war einsam. Einige Zeit standen wir einfach nur nebeneinander und schwiegen.
Er schien wieder bei sich zu sein und strich hektisch die heruntergelaufenen Tränen mit dem Handrücken ab. Ich stellte mich hinter ihn und legte meine Arme um ihn herum. Es tat mir weh, ihn so verzweifelt und traurig zu sehen. Sein Körper vibrierte unter meiner Umarmung und ich merkte, wie er die weiteren Tränen zu unterdrücken versuchte.
Nach einigen Minuten der Stille, in der sich sein Atem wieder beruhigte, richtete er sich auf und verschloss sein Innerstes wieder vor mir.
"Lass reingehen, ist kalt.". Auch seine Stimme war kalt geworden. 

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt