94. Unüberwindbare Schwierigkeiten

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V

Ich erstickte meine Tränen und das hektische Atmen unter dem Taschentuch in meiner Hand. Auch die Laute, die unkontrolliert meinen Mund verließen, blieben nahezu gedämpft unter dem dünnen Stoff. Sophies Hand strich wieder und wieder beruhigend über meinen Rücken, bis ich meinen Atem etwas kontrollieren und mich aus meiner hockenden Haltung nach oben ziehen konnte. Ich ließ mich auf dem geschlossenen Klodeckel nieder und konzentrierte mich auf das stetige Luftholen, um nicht zu hyperventilieren.
Was sich dort eben vor meinen Augen abspielte, war zu viel für meine Ohren und Augen. Als der Tumult aufkam, zog Sophie mich mit, um zu sehen, was los war. Doch so schnell wie sich herausstellte, dass Volkan involviert war, begriff ich auch, wer die junge Frau vor ihm war. Mein Herz wurde erneut gebrochen, nur dass ich jetzt ein Gesicht zu meinen etlichen Vorstellungen, wie Volkan mit einer anderen Frau schlief, hatte.
Doch viel heftiger traf mich das, was die blonde Frau ungezügelt in sein Gesicht schrie. Schlappschwanz, keinen hoch bekommen, ich will das nicht.
Sie hatten nicht miteinander geschlafen, er hatte mich nicht betrogen. Es lief nie etwas.
Wie im Loop erschien sein Gesicht vor meinem inneren Auge, das sich nach dieser Info entspannte. Dieses Lächeln, was sich auf seinen Lippen abbildete. Diese Entspannung, die in seiner Körperhaltung lesbar wurde.

Meine Gefühle kochten über und ich lief weg. Ich musste die Situation verlassen, um nicht vor allen anderen zu weinen, die sich wahrscheinlich fragten, warum mich diese Streitsituation zu Tränen rührte. Während ich davonlief, blieb ich immer wieder mit meinen Schuhen im Rasen stecken, doch ignorierte ich es einfach, drängelte mich an allen Umstehenden vorbei in Richtung Haus. Sophie rief mir nach und versuchte meinen Schritt zu halten, bis ich im Badezimmer ankam, die Tür hinter uns zudrückte und die Tränen einfach laufen ließ. Ein absolutes Gefühlschaos machte sich in mir breit, in dem ich mich wahnsinnig schlecht und schuldig fühlte, Schluss gemacht zu haben, ihm nicht genug vertraut zu haben und gleichzeitig war ich so erleichtert zu wissen, dass er mir treu war, mich nicht hintergangen hatte. Doch was bedeutete das alles.

Ich schämte mich und wusste nicht, wie ich ihm jemals wieder in die Augen sehen konnte. All diese hässlichen Worte, die ich ihm entgegengespuckt hatte, waren zu Unrecht gefallen. Ich konnte mir nicht ausmalen, wie es ihm in diesem Moment gehen musste.

Nach gut fünfzehn Minuten hatte ich mich wieder halbwegs gefangen, auch wenn der Abend, so wie ich ihn mir ausgemalt hatte, definitiv gelaufen war. Ich hatte nicht den Mut, ihm noch einmal unter die Augen zu treten und darüber zu sprechen.
Ups, bist du mir wohl doch nicht fremdgegangen. Sorry...Freunde?
Ich wischte mir die Mascara, die mittlerweile nicht mehr auf, sondern unter meinen Wimpern hing, mit einem Stück Klopapier weg und reagierte endlich auf Sophies viele Fragen.
„Sophie, was hat die Hakan gesagt, warum wir nicht mehr zusammen sind?"
„Er meinte, es hätte einfach nicht mehr gepasst. Dass es ‚unüberwindbare Schwierigkeiten' gab." mit einem kleinen Augenrollen betonte sie die beiden Worte besonders. Es war typisch für Hakan in solchen Situationen diplomatische Antworten zu geben.
„Volkan ist fremdgegangen." ihre Augen weiteten sich, als sie die Worte aufnahm, sodass ich schnell weitersprach.
„Also, das dachten wir zumindest. Bis eben. Diese Frau... die ihn da gerade angeschrien hat... sie muss es gewesen sein. Ich habe mich von ihm getrennt, weil ich nicht mit diesem Gedanken klarkam, dass er mit einer anderen geschlafen hatte. Naja, turns out, hat er gar nicht." Ich lachte voller Verbitterung auf und konnte meinen Worten selbst nicht glauben. Träumte ich?
Ich erzählte Sophie einen Teil der letzten Wochen und sie folgte meinen Worten gebannt, bis ich mich irgendwann von dem Sitz erhob.
„Ich kann da nicht wieder rausgehen. Ich... ich muss nach Hause. Ich muss darüber nachdenken, realisieren, was hier heute passiert ist. Was für eine abgefuckte Scheiße, Alter.". Die Müdigkeit traf mich wie ein Schlag, alle Emotionen ausgeschöpft.
„Kann ich verstehen. Aber willst du dich nicht wenigstens verabschieden? Ich meine für ihn sind das doch auch Neuigkeiten, er ist doch bestimmt auch super überfordert?" fragte sie vorsichtig.
„Wie soll ich ihm in die Augen sehen?! Ich glaube es war einfach keine gute Idee herzukommen, die ganzen Emotionen wieder aufzuwärmen. Ich brauch erstmal einen Moment für mich. Und... er ja vielleicht auch für sich. Ein heftiges Gespräch am Tag reicht doch auch. Und vielleicht hat er gerade auch einfach anderes im Kopf und möchte mich nicht...sehen". Sophie sagte darauf nichts mehr, auch wenn ich ihr anmerkte, dass sie mich am liebsten mit nach draußen gezogen, vor Volkan platziert und zum Reden gezwungen hätte. Ich stand auf und tippte bereits meine Adresse ein, um ein Auto zu bestellen. Ehe ich mich versah, lief ich mit Sophie aus dem Haus, um möglichst ungesehen zum Ausgang zu kommen und einfach wegzufahren. Ja, ich war immer dafür miteinander zu sprechen und in die Kommunikation zu gehen, statt zu flüchten. Aber so konnte ich es nicht. Es war einfach zu viel heute Abend.
Ich warf einen verstohlenen Blick in die Sitzecke, in der die Jungs sich versammelt hatten und miteinander sprachen und konnte Volkan in der Gruppe ausmachen, der ein Glas Wein in der einen und eine Zigarette in der anderen Hand hielt und im hohen Bogen den Rauch auspustete. Er bekam nichts von meiner Flucht mit, schien beschäftigt. Gut so.
Sophie und ich umarmten uns fest, bevor ich mich in das Auto setzte und ich versprach, mich in den kommenden Tagen zu melden, damit wir uns auf einen Kaffee treffen würden.

Noch im Auto rief ich Sam an.

„V, ist alles ok? Es ist gerade mal kurz nach elf. Ist was passiert? Soll ich kommen?" ich fing etwas hysterisch an zu lachen bei seinen ganzen Fragen und überlegte, wie ich ihm jetzt sagte, was tatsächlich geschehen war. Ich flüsterte ins Telefon, hielt als Schutz die Hand vor meinen Mund und das Mikrofon, um etwas Privatsphäre zu schaffen. Ich hatte einfach nicht die Geduld, zu warten, bis ich zu Hause ankam.
„Nein, nein, alles gut. Es war echt schön, naja, bis zu dem Punkt, als es Streit zwischen einer Frau und Volkan gab.". Ich atmete tief ein und betonte die folgenden Worte sehr genau, um sie nicht wiederholen zu müssen. „Sam, er hat mich nicht betrogen. Sie hat es so hingestellt, weil sie so gekränkt war, dass er sie abgelehnt hat. Er hat nie... mit ihr...".
„Wie bitte?! Du bist so leise. Hab ich das gerade richtig verstanden?"
„Ja... hast du. Ich kanns auch nicht fassen.".
„Und jetzt?!"
„Ich bin gegangen, Sam. Ich fühle mich so schlecht, dass das alles so gekommen ist, obwohl er nichts gemacht hat. Ich muss mich bei ihm entschuldigen, aber erstmal muss ich klarkommen. Kurz durchatmen, um das alles zu verstehen."

„Ich bin gerade mit Sarah und paar Leuten auf 'ner Party in Moabit. Du kannst auf jeden Fall herkommen, ich schick dir die Adresse.". Sam war so aufgeregt und machte mir diesen Vorschlag, den ich in jedem anderen ähnlichen Fall wahrscheinlich angenommen hätte. Doch spürte ich in mir dieses Gefühl, allein sein zu wollen. Nicht unter Menschen, nicht betäubt von Alkohol.
„Das ist super lieb, aber ich fahre Heim. Ich will ein bisschen für mich sein, nachdenken und einfach schlafen."
„Okay. Muss ich mir Sorgen machen? Ich kann nach der Party auch noch rumkommen?"
„Nein nein, alles gut. Wirklich. Mir ist nur nicht nach Menschen gerade."
„Meld dich, wenn was ist, ja?"
„Mache ich, viel Spaß und liebe Grüße an Sarah. Ich meld' mich morgen bei dir.". Und so legten wir auf. Meinen Kopf lehnte ich an der kühlen Scheibe an und guckte in die Dunkelheit außerhalb des Autos. Ich blickte nach oben in den Himmel und sah die zarten Sterne in der Dunkelheit flimmern. Mir kamen die Erinnerungen an Volkans und meine erste Nacht, in der wir auch gemeinsam die Sterne von seinem Balkon aus beobachteten. In der wir uns nah waren, beschlossen, zusammen zu gehören. Ich schloss für einen Augenblick die Augen und spürte in mich hinein, fühlte nach, was an diesem Abend geschehen war.
Als der Uber meine Adresse erreichte, schlurfte ich vollkommen ausgepowert und fertig die Stufen hoch in meine Wohnung. Mein Körper fühlte sich an, als hätte ich einen Halbmarathon hinter mir und ich brauchte dringend eine Dusche.
Ich einer fließenden Bewegung öffnete ich den Reißverschluss meines Kleides, den ich erst wenige Stunden zuvor hochzog. Im Badezimmer steckte ich mir die Haare mit einer großen Klammer hoch, stellte mich vollkommen erschöpft unter den warmen Wasserstrahl der Dusche.
Immer wieder schossen die Bilder des heutigen Abends durch meinen Kopf, die Worte der jungen blonden Frau hallten in meinen Ohren nach. All die Monate, die ich ohne Volkan verbracht hatte, all die Gefühle, die sich über Wochen in mir aufgebaut und breitgemacht hatten, waren wegen einer Lüge entstanden. Eine Lüge, die die Beziehung zu Volkan zerstört hatte. Doch gab es einen Weg zurück? Waren die Gefühle, die so verletzt wurden, noch zu retten? War er überhaupt bereit dazu? War ich es? Ich versuchte eine Frage nach der anderen für mich zu beantworten, bis ich einen Entschluss fasste und endlich wusste, was ich tun wollte.

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt