106. Nicht so

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Volkan

Gedämpft nahm ich die beiden Stimmen wahr. Sasans Stimme wurde zunehmend lauter, sodass ich annahm, dass er nun in der Wohnung war. Ich überlegte, woher er ihre Adresse hatte, zerbrach mir den Kopf darüber, was er hier wollte... vor allem um die Uhrzeit. Er musste sich gestern Nacht während der Taxifahrt ihre Adresse gemerkt haben, doch warum er herkam, konnte ich mir nicht ausmalen.
Ich griff nach meinem Shirt, das V mir eben in die Hand gedrückt hatte und zog es lautlos über meinen Kopf. Wieder versuchte ich mich auf die Stimmen auf der anderen Seite der Tür zu konzentrieren, doch verstand ich nur Wortfetzen. Ich breitete mich quer auf dem Bett aus, verschränkte meine Arme unter meinen Kopf und schaute an die Decke. Ich war zwar auch angespannt, hatte jedoch keine Angst entdeckt zu werden. Es war einer meiner engsten Freunde, der hier in ihrem Wohnzimmer saß und irgendetwas in mir hatte das große Verlangen, die Sache mit V endlich auszusprechen und wenigstens meinen Freunden reinen Wein einzuschenken. Ich dachte an die vergangene Nacht und Vs Küsse zurück und das wohlige Gefühl, ihren Körper wieder an mir zu spüren, während wir schliefen. Ich war nachts noch einmal kurz wach geworden, musste mich orientieren und zog sie an ihrer Taille wieder näher an mich heran. Ich hatte in den letzten Monaten nicht so gut geschlafen, wie in der letzten, wenn auch kurzen, Nacht.
Meine Gedanken rissen ab, als ich Vs Stimme näherkommen hörte und sie dann ganz klar verstand, als sie die Schlafzimmertür auf und hinter sich wieder zu machte.
Sofort setzte ich mich auf, bereit zu hören, was los war, als sie schon flüsterte. Sie wirkte so hektisch.
„Sasan will mit mir frühstücken gehen. Ich hab jetzt zugesagt, damit er uns nicht erwischt. Ich zieh mich nur schnell um und mach mich ready, dann sind wir weg und du kannst rauskommen.". 
Mir verschlug es vor Überraschung die Sprache. Und irgendwie störte es mich, versteckt zu sein. Als wäre es etwas Verbotenes, was wir machten. Doch ich hatte damals mit dem Scheiß angefangen und sie gebeten, dass alles erst einmal zwischen uns blieb. Selbst Schuld.
V begann sich vor mir auszuziehen, was sich für den Moment fast unerlaubt anfühlte zu beobachten. Ich blickte nach unten, als sie sich mit dem Rücken zu mir drehte und ihr Shirt über den Kopf zog. So weit waren wir dann doch einfach noch nicht, auch wenn es mir schmeichelte, dass sie dafür nicht ins Bad ging.
„Warum Frühstück" flüsterte ich einige Sekunden versetzt auf ihre Erklärung, während sie sich gerade die enge, schwarze Jeans über die Beine zog.
„Keine Ahnung." sagte sie, ehe sie noch einen Pullover aus dem Schrank zog und die Hand auf die Klinke legte, um wieder zu gehen.
Sie drehte sich noch einmal zu mir, blickte hinunter in meine Augen und begann zu lächeln.
„Sorry" hauchte sie, tapste dann zu mir, beugte sich herunter und küsste mich sanft und tonlos. Ich erwiderte ihren Kuss und fuhr mit einer Hand zu ihrem Gesicht. Sekundenlang hielten wir unsere Lippen aneinandergedrückt, atmeten schwer, als sie sich von mir löste. Sie wollte es also auch ohne Alkohol...
„Irgendwie ein blöder Abschied, dafür... naja, dass du jetzt ne Woche nicht da bist." flüsterte sie mit enttäuschter Miene. Sie unterbrach ihre Gedanken, als hätte es nicht sein dürfen. Mir wurde erst jetzt klar, dass das eben ein Abschiedskuss war.
Ich hatte verdrängt, dass ich mit meinem Bruder nachmittags losfahren wollte und war nun ebenfalls enttäuscht und gleichzeitig etwas wütend auf Sasan, der nebenan auf V wartete und mir damit den Vormittag mit ihr, kuschelnd im Bett, kaputt machte.
„Schreib mir, wenn ihr fertig seid mit Essen. Vielleicht bin ich noch da, dann komm ich nochmal kurz vorbei.". Ich stand auf, sodass sie nun hochschauen musste, damit wir uns in die Augen sehen konnten. „Dann sage ich dir richtig Tschüss." setzte ich noch nach, ehe ich mich noch einmal zu ihr beugte und leise einen Kuss auf ihre Lippen hauchte. Sie grinste und nickte, ehe sie zurück ins Wohnzimmer ging. Ich hörte noch ein paar Minuten die Geräusche im Wohnzimmer, als die Haustür zugezogen wurde.
Einige Minuten lag ich noch im Bett, scrollte durch meine Timeline und betrachtete die Fotos und Videos der letzten Nacht aus dem Club, als ich doch aufstand, um einen Kaffee zu machen.
Obwohl es so lang her war, dass ich in ihrer Wohnung war, hier schlief und mich fast zu Hause fühlte, fiel es mir leicht, mich wieder zurecht zu finden. All die Sachen standen noch am gleichen Ort. Routiniert bewegte ich mich in der Wohnung, bis ich mich mit der heißen Tasse auf ihr Sofa setzte und die Beine hochlegte.
Kurz schoss mir eine Erinnerung in den Kopf, vom letzten Mal, als ich hier saß. Als ihre Wohnung der Austragungsort unserer Trennung war. Als V bitterlich weinte und mir im Anschluss die hässlichsten Worte an den Kopf warf, die ich je hörte. Ich ertrage dich nicht. Vergiss mich, Volkan und geh endlich. Bitte
Die Worte hallten in meinen Ohren nach und ich schloss die Augen, um die Bilder wegzublinzeln. Das war nicht mehr die Realität. Das war die Vergangenheit. Ich schüttelte schnell den Kopf und nahm mein Handy, um mich von den harten Erinnerungen abzulenken.
„Hey Abi, was geht?" begrüßte ich meinen Bruder am Telefon.
„Nichts, liege noch im Bett. Bei dir?"
„Auch. Wollte nur fragen, wann du los willst?"
„Keine Ahnung, so um vier? Dann kommen wir entspannt abends an."
„Tamam. Dein Wagen oder meiner?"
„Lass meinen nehmen, ich sammel dich dann ein."
„Passt, ok."
„Ist alles gut bei dir?". Skeptisch versuchte Hakan das Telefonat aufrecht zu erhalten.
„Ja, warum?"
„No front, aber es ist halb 12. Hätte irgendwie gedacht, dass du bei V gepennt hast und ihr den Vormittag noch zusammen seid.". Kurz überlegte ich und räusperte mich dann.
„Ich bin auch bei ihr, aber sie...ist jetzt frühstücken. Muss ich dir später mal genau erzählen. Kann sein, dass wir bei ihr nochmal vorbei fahren müssen, später. Wir konnten uns nicht so richtig verabschieden gerade." erklärte ich im Eiltempo die Situation, in der Hoffnung, er würde einfach alles hinnehmen.
„Volkan, wir sind nur ne Woche weg..." erinnerte er mich unnötigerweise und lachte dabei.
„Dann bis später, liebe Grüße an Sophie" ignorierte ich seinen letzten Satz einfach, lachte und legte auf.
Wieder schaute ich mich in der Wohnung um und genoss die Ruhe. Ich trank die letzten Schlucke meines Kaffees und entschied, nun auch bei V zu duschen und mich fertig zu machen. Ich ermahnte mich selbst, mich nicht zu wohl bei ihr zu fühlen und etwas auf die Bremse zu treten, doch genoss ich das warme Wasser auf meiner Haut und das Shampoo, das nach ihr roch. Automatisch entstand dieses Kribbeln in mir und ich merkte, wie meine Gedanken abdrifteten, hin zu gestern Nacht, als wir uns küssten, knutschten und vor der Tür kaum die Finger voneinander lassen konnten. Ich schloss die Augen, stellte mir vor, dass sie mit mir unter der Dusche stand. Ich sah ihren Körper vor mir, stellte mir vor, wie sich ihr Kuss anfühlte, wie meine Hände über ihre Haut und ihre Brüste fuhren. Die Erregung machte sich mehr als deutlich und einen Moment verlor ich mich in meiner Fantasie und berührte mich. Ich ging dem Gefühl nach, stellte mir vor, was ich hier unter der Dusche gern mit ihr gemacht hätte und erhöhte die Geschwindigkeit der Auf- und Abbewegung, hielt mich mit der anderen Hand an den kühlen, nassen Fliesen fest. Fuck nein. Nicht so.
Es fühlte sich falsch an, es mir hier unter ihrer Dusche selbst zu machen, während sie nicht einmal da war. Während sie nicht neben mir war. Ich ließ meine rechte Hand einfach fallen, blickte an mir herab und begann zu Grinsen. Meine langen Haare fielen mir ins Gesicht, sodass ich sie in einer Bewegung nach hinten strich. Ich wusste, wie sehr ich diese Erleichterung gerade eigentlich brauchte, aber nicht hier bei ihr. Nicht jetzt.

Als ich fertig geduscht war und mir die nassen Haare in einen Dutt band, nahm ich den Zweitschlüssel von der Ablage, zog die Tür hinter mir zu und schloss ab. Noch im Hausflur tippte ich die schnelle Nachricht an V.

Volkan 12:10: Fast vergessen, wie gut der Kaffee bei dir war. Hab mit dem Zweitschlüssel abgeschlossen, bringe ich dir nächstes Mal mit. Hoffe das passt.

Volkan 12:10: Die Nacht mit dir war wunderschön.

Bei der zweiten Nachricht überlegte ich kurz, doch wollte ich es einfach wagen. Ich wollte nicht mehr so vorsichtig sein, sondern mit offenen Karten spielen, was meine Gefühle ihr gegenüber anging. Noch mit einem Lächeln auf den Lippen stand ich vor ihrer Haustür und bestellte den Uber in die Nähe meiner Wohnung. Ich blickte etwas um mich, sah mir die kleine 30er Zone an, die ich eigentlich nur selten bei Tageslicht gesehen hatte, bis mir der kleine Blumenladen schräg gegenüber auffiel. Ich überlegte noch hin und her, als schon das schwarze Auto vor mir hielt, ich die hintere Tür aufzog und wie versteinert stehen blieb.
„Hey, mein Bester. Ich komm gleich, warte kurz, ja. Dauert fünf Minuten. Kannst du mir direkt in Rechnung stellen." rief ich in Richtung des Fahrers, der gerade antworten wollte, dann jedoch nur die Schultern zuckte und nickte. Ich joggte die wenigen Meter zum Blumengeschäft, blickte mich kurz um und schlüpfte in den Laden.

Nur wenige Minuten später hielt ich den ziemlich opulenten Strauß, den die ältere Dame unter meiner Bitte sich zu beeilen, zusammengestellt hatte, in den Händen. Zufrieden lugte ich durch den kleinen Schlitz des bedruckten Papiers und sah eine der Lilien. Nachdem ich dem Uberfahrer kurz ein Handzeichen gab, lief ich schnell zurück in Vs Wohnung und suchte hektisch in ihrer Küche nach einer passenden Vase. Notiz. Nächstes Mal Blumen mit Vase kaufen.
Ich gab mich geschlagen und funktionierte den Messbecher um, stellte ihr den Strauß auf den Couchtisch und schloss wieder die Haustür.

Zufrieden rutschte ich auf den Rücksitz, ehe sich das Auto in Bewegung setzte und ich in meine eigene Wohnung fuhr. 

Blick zu den Sternen  - Apache 207Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt