Kapitel 2

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Schwerelos trabte ich über den lockeren Waldboden. Es ist ein erleichterndes Gefühl, wenn meine Knochen brachen und sich mein gesamter Körper veränderte. Jegliches Pflichtbewusstsein fiel von mir ab. Der Stress, die Angst und die Wut fielen von mir ab. Die kühle Luft des früheren Herbstes glitt durch mein Fell und ich hörte das weit entfernte Zwitschern der Vögel. Ich sah alles scharf und detailliert wie durch ein gutes Mikroskop und das trotz meiner enormen Geschwindigkeit erkannte ich alles klar und deutlich. Das bedeutete es, ein Wolf zu sein. Das hieß es, ein Werwolf zu sein. Wie konnte jemand dieses Gefühl der Freiheit nur verwerfen wollen?
Plötzlich roch ich den vertrauten Geruch von Süßwasser und folgte ihm. Das Ziel ließ nicht lange auf sich warten und schon entdeckte ich einen See. Er glänzten in der Sonne wie ein Spiegel und ich konnte nicht widerstehen, mich darin zu betrachten. Und als ich mich so über den See beugte, starrten mir die gleichen roten Augen entgegen, mit denen mich mein Vater, vollkommen mit Zorn erfüllt, angestarrt hatte. Ein Stechen durchzog meinen Körper. Ich sah ihm nicht nur als Mensch so ähnlich. Meine roten Augen stachen mehr als deutlich hervor, da ich die selben tiefschwarzen Haare wie alle in der Blackstorm Familie besaß. Unsicher stupste ich mit meiner Wolfsschnauze in den See und sah dabei zu, wie sich das Wasser kräuselte und damit die Ähnlichkeit zu meinem Vater verschwand. Ich verachtete ihn nicht und wir hatten eigentlich auch einen guten Draht zueinander, aber aktuell konnte ich mit keinem reden.
Vorsichtig bog ich meinen Rücken durch und ließ meine Knochen erneut brechen. Ich musste es jetzt sehen. Ich musste mich selbst sehen.
Vorsichtig schüttelte ich mich und ein lautes Knacken durchbrach die entspannte Atmosphäre. Meine langen Haare flossen meine Schultern herab und berührten das Wasser, als ich mich wieder über den Fluss beugte. Und da war ich. Olivia Blackstorm, 16 Jahre alt und das jüngste Kind von Peter und Caliria Blackstorm. Problemkind des Rudels. Erbe eines der bekanntesten Alphas unseres Landes. Und ich widersetzte mich gegen das gesamte System der Werwölfe.
Langsam stand ich auf und streifte meine dünne Jacke vom Rücken. Beinahe lautlos fiel sie ins feuchte Grass und sog sich mit dem Seewasser auf. Zitternd streckte ich meinen linken Arm aus. Immer wenn ich das versuchte, fing ich unkontrolliert an zu zittern. Ich konnte nicht erklären warum. Hatte ich immer noch Angst, der Wahrheit ins Auge zu sehen?
Meine Augen passierten mein Handgelenk, doch stoppten, als ich ein Geräusch vernahm. Ruckartig hob ich meinen Kopf und dreht mich in verschiedene Richtungen. Es klang, als würde sich jemand nähern, aber die Schritten waren zu bedacht, als dass es ein Mensch hätte sein können. Wer wagte es, sich mir zu nähern?
Knurrend drehte ich mich um und starrte in die goldenen Augen eines anderen Werwolfes.

Ich lief zum Fenster und starrte hinaus. Livvy ist scheinbar sofort losgerannt. Der Wald ist zwar direkt hinter unserem Haus, aber der Garten dazwischen hatte eine beachtliche Größe. Sie musste wirklich aufgebracht sein. Ich ging aus ihrem Zimmer heraus, zog leise die Tür hinter mir zu und zuckte unmerklich zusammen.
"Was ist denn jetzt schon wieder passiert?" Eine weibliche Stimme hatte mich aus meiner Welt gerissen, die sich nur um Livvy drehte. Verwirrt starrte ich gradeaus und bemerkte eine junge Frau vor mir, welche fast so groß war ich selbst.
"Livvy." Und somit ließ ich sie stehen. Auralia war zwar die langjährige Freundin meines Bruders, aber ich sah nicht den Sinn darin, ihr alles von Anfang an zu erklären oder sie überhaupt einzuweihen, wenn meine kleine Schwester dort draußen irgendwo war.
Ich betrat das Wohnzimmer und konnte verschiedene Emotionen sofort wittern. Erstaunlicherweise war dabei auch Trauer und Angst. Vorsichtig drückte ich die Tür des Esszimmers auf und steckte mein Kopf durch den Spalt.
Meine Mutter saß auf einem Stuhl und streichelte unserem Vater über den Kopf. Er saß auf dem Boden, mit seinem Kopf auf ihrem Schoß. Unser Alpha galt als gnadenloser Herrscher, der sogar seinen eigenen Kinder eine mehr als strenge Erziehung aufzwang. Doch wirkte er hier wie ein frisch verliebter Junge in seinem Jugendalter.
Als ich das Zimmer betrat, schreckte er sofort auf und starrte mich genervt an, bis er realisierte, dass sein Sohn vor ihm stand. "Was gibt es denn, Leonard? Willst du wie deine Schwester gegen das Internat protestieren?"
Ohne dass sich meine Mimik änderte, starrte ich den Alpha weiterhin an. "Ich weiß, was passiert ist und ihr wisst auch, warum ich eigentlich nicht gehen sollte. Ich mach das für Livvy, also seid nicht allzu genervt von euren Kindern, Vater."
Kaum merklich zuckte er bei diesen Worten zusammen. Er wusste, dass ich Recht hatte und dass ich eigentlich nicht gehen sollte. Jedoch war allen bewusst, dass Livvy niemals ohne mich auf dieses Internat gehen würde, weshalb wir keine andere Wahl hatten.
Und so schwieg mein Vater. Er hatte sich nun vollends beruhigt. Es war schon ziemlich schwierig, einen Alpha aus der Fassung zu bringen, jedoch war Livvy dazu immer in der Lage gewesen.
Als dann aber das Schweigen zu erdrückend wurde, wollte meine Mutter das Wort ergreifen, doch unterbrach sie das Geräusch unserer Hausklingel.
Schweigend drehte ich mich um und lief zu Haustür, merkte aber, wie mir meine Eltern folgten. Hatte Thomas seinen Schlüssel wieder vergessen? Nein, dann würde mein Bruder energisch an die Tür hämmern und das Schicksal entscheiden lassen, ob erst ein Familienmitglied die Tür öffnete oder die Tür seiner Kraft nachgab. Er war immerhin der älteste Sohn unserer Familie und würde somit die Rolle des Alphas übernehmen. Er war wirklich stark.
Behutsam umschloss ich den Türknauf, aber verkrampfte mich, als ich reine Panik auf der anderen Seite spürte und meine Schwester roch. Sofort riss ich die Tür auf und starrte in Livvys strahlend braune Augen. Die Gleichen, die unser Vater besaß und sich in Momenten der Emotionen rot färbten.
"Livvy." Sagte ich monoton. Eigentlich wollte ich nicht allzu gelangweilt klingen, aber irgendwie hat das nicht ganz geklappt.
"Hallo Bruder. Ich glaub, ich hab 'nen bisschen Scheiße gebaut..." Peinlich berührt schenkte sie mir ein Lächeln, das ihr keiner als ein Ehrliches abgekauft hätte.
"Ein bisschen? Lady Blackstorm, ihr habt die Grenze zur Menschenwelt Überschritten und unsere wahre Identität in Gefahr gebracht!" Empört stemmte ein Mann in seinen guten Dreißigern seine Hände gegen die Hüfte und starrte meine Schwester vorwurfsvoll an. Von ihm ging also die Angst aus.
"Was hast du getan, Olivia?" Ernst trat mein Vater hinter mich und starrte Livvy finster an. Sofort färbten sich ihre Augen rot und schockiert starrte sie zur Seite, es war also nicht ihre Absicht so emotional zu werden. Ich wusste, dass sie ein bedrohliches Kribbeln spürte, sollten ihre Emotionen ihren Geist beherrschen wollen.
"Ihr kennt doch die Lichtung, die unser beider Rudel trennt. Der Ort, der als neutrales Gebiet gilt und den Menschen frei steht, ohne befürchten zu müssen, dass unsere Wölfe sie angreifen. Dort war eure Tochter. In Wolfsgestalt und dann wieder nicht. Wisst ihr eigentlich, welchem Risiko sie uns ausgesetzt hat? Was wäre, wenn jemand sie gesehen hätte? Was, wenn jemand-"
"Das reicht!" In einem dominanten Ton, der keinerlei Widerrede erlaubte, brachte er den fremden Wolf zum Schweigen. "Wir befinden uns hier in meinem Rudel und sie reden von MEINER Tochter. Ich werde mich um eine Strafe für sie kümmern, aber da nichts passiert ist, solltet ihr euch nicht zu viel aus eurer Position herausnehmen. Sie kennt die Regeln und wird sich an diese in Zukunft halten." Mein Vater drückte mich von der Tür und trat an Livvy und den fremden Wolf heran. Ein Rotton bahnte sich von der Pupille durch die Iris und in einem ruhigen und doch bedrohlichen Ton beendete er das Gespräch. "Und dafür werde ich sorgen."

If I hadn't met youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt