Kapitel 57

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"Was soll das bedeuten? Marcel soll ein Verräter sein? Das ich nicht lache." Ich merkte, wie die Wut im Inneren meines Bruders brodelte, doch er wirkte mehr erschöpft und zermürbt als wütend.
"Das soll bedeuten, dass ich euren kleinen Nachbarswolf getötet habe." Schulterzuckend trat Tyler einen Schritt zurück und betrachtete uns grinsend, wie uns förmlich die Kinnladen herunterfielen. "Och, schaut doch nicht so. Als ob das keiner erwartet hätte. Warum glaubt ihr wohl, haben wir nie Hinweise gefunden? Warum glaubt ihr wohl, wollte Marcel nach gefundenen Hinweisen immer alleine sein? Warum glaubt ihr wohl, war er immer so nervös? Ihr wollt mir doch jetzt nicht weißmachen, dass ihr ihm so sehr vertraut habt, dass es euch nicht gewundert hat." Entgeistert starrte Tyler Silverstone in die Runde, doch leider hatte keiner damit gerechnet.
"Er soll der Verräter sein? Er hat uns großgezogen. Er würde uns das niemals antun!" Verägert ging Thomas auf ihn zu, doch Auralia packte seinen Arm und hielt ihn leicht zurück. Doch für einen Moment hatte ich das Gefühl, er würde auf seinen Mate losgehen wollen. Für einen Moment hatte ich wirklich das Gefühl, mein Bruder würde keine Grenzen kennen.
"Weil ihr auch das beste Beispiel an Vater habt, das niemals seine Kinder verraten würde, nicht wahr?" Lachend lehnte sich der ehemalige Beta der Whitenights an die Tür und betrachtete sein Werk der Verwirrung. Er wirkte viel zu amüsiert für jemanden, der uns so eine derartige Information überreichte. "Er war auch derjenige, der klein Olivia hier entführt hat. Überraschung! Es war tatsächlich Verrat. Herzlichen Glückwunsch."
Mein Herz blieb stehen. Ich spürte, wie schockierte Blicke auf mir ruhten. War es wirklich möglich, dass Marcel der Verräter war? Im Gegensatz zu meinem Bruder bin ich nicht so naiv zu glauben, jemand, den wir schon unser Leben lang kennen, könnte uns nicht verraten. Das war einfach nur naiv und dumm. Ein zukünftiger Alpha sollte rationaler denken können.
Überrascht hielt ich mir den Mund zu. Ich hatte damit gerechnet, eine Panikattack zu bekommen oder in Tränen auszubrechen, da ein so vertrauter Mann mich so sehr hintergangen hat, aber ich blieb ruhig. Es wunderte mich, aber ich konnte mich kontrollieren.
"Das reicht!" Zornig griff Thomas nach Tylers Kehle. "Du willst mir also sagen, dass du einfach so einen Alpha umgebracht hast. Du? Du bist nicht mal ein Beta. Du hast die Macht nicht dazu." Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck schleuderte er Marcos Vater auf den Boden und außer Haus. "Du hattest recht." Verstimmt blickte er auf. "Die Silverstones und Whitenights sind doch mit den Darachs im Bunde. Wieso war ich nur so naiv zu glauben, man könnte diesem Silverstone vertrauen?"
Verwundert hob Tyra eine Augenbraue. Sie stand locker da und schien nicht kämpfen zu wollen, was mich bei ihrer Persönlichkeit stark wunderte. Sie hasste die Whitenights doch so sehr, warum sprang sie nicht mit auf? "Er sagt die Wahrheit. Ich bin zwar kein Werwolf, aber ich kenne das Wesen vieler Leute und kann daher ihre Gedanken deuten. Und dieser Mann hat keinen Grund, euch zu belügen. Mag zwar sein, dass es unmöglich scheint, dass er diesen Nolan umgebracht hat, aber es ist nicht unmöglich. Wie sonst entstehen neue Alpha? Ein einfacher Wolf übernimmt die Fähigkeit. Wieso sollte das dieser Silverstone nicht können?"
Grinsend starrte Tyler Tyra überkopf an. "Du gefällst mir. Aber der kleine Blackstorm-Erbe hat recht." Leichtfüßig sprang Tyler auf und wischte sich angewidert den Staub ab. "Ich war nicht in der Lage, ihn alleine zu besiegen. Ich habe ihn zwar letztendlich umgebracht und dafür diese schöne Narbe kassiert, aber ich war nicht alleine. Mein Schwager hat mir geholfen."
Sein Schwager?
Ich hörte Marco überrascht aufatmen. Wenn es sich hierbei um Tylers Schwager handelt, dann muss es der Bruder von Marcos Mutter sein. Und wenn ich mich richtig erinnere, dann war seine Mutter der Erbe der Beaumons, was bedeutet...
"Was machst du schon wieder? Ich dachte, wir sollen die Tür zulassen. Oh." Eine tiefe Stimme erklang im Haus und ein junger Mann erschien in der Tür.
Ich roch sofort, dass es sich hierbei nicht um einen Wolf handelte. Wölfe rochen anders. Sie rochen nach Wälder und Eisen, doch dieser Mann roch nach Wüste und Blut. Er hatte hellbraune Haare, die nach hinten gekämmt waren, damit sie ihm nicht im Gesicht hingen und seine braunen Augen wirkten aufmerksam und aufgeschlossen. Mich überraschte nur, dass er die pinke Schürze von Thomas anhatte. Aber es war erleichternd zu sehen, dass er im Gegensatz zu meinem Bruder Kleidung darunter anhatte.
"Und du bist?" Freundlich trat meine Mutter vor. Es war schon immer so, dass sie die Gäste willkommen hieß. Mein Vater war sehr schnell reizbar und mein Bruder wusste nie, was er sagen sollte, weshalb die Luna diese Aufgabe übernahm. Sie wirkte zwar freundlich, aber an ihrer Haltung konnte man erkennen, dass sie auf der Hut war.
"Ich bin Henry Beaumon. Ihr müsst mich nicht so misstrauisch betrachten. Immerhin habt ihr nach mir gefragt." Freundlich lächelte er meine Mutter an, doch ignorierte ihre ausgestreckte Hand. "Essen ist fertig. Bitte tretet ein. Es handelt sich immerhin um euer Haus." Und mit diesen Worten, die er uns grinsend zu warf, verschwand sein höflicher Gesichtsausdruck und mit einer kalten Miene betrat er das Haus und ließ uns verwirrt zurück.
"Das ist Mutters Bruder? Er wirkt sehr jung." Verwundert starrte Marco seinem Onkel nach. Er hatte recht. Marcos Mutter hätte im Alter meiner Mutter sein können, wenn sie noch leben würde und meine Mutter war 45. Doch Lord Beaumon sah viel jünger aus.
"Er wirkt nicht nur jung, er ist auch so jung. Mein lieber Schwager ist erst 24." Überrascht zuckte Marco zusammen, als sein Vater plötzlich vor ihm stand. Aber wenn ich in seiner Position wäre, hätte ich auch nicht gewusst, was man hätte sagen sollen. Er wurde früher von ihm geschlagen, da er sich nicht für Mädchen interessiert und sich auch nicht verwandeln kann. Der Junge hat wegen seinem Vater eine posttraumatische Belastungsstörung und regelmäßige Panikattacken entwickelt. Was sollte man zu so einem Mann sagen, wenn er plötzlich vor einem stand?
"Hervorragend! Erzählt uns nicht mehr. Wir sollten reingehen." Mit einem breiten Grinsen, bei dem er die Augen schloss, legte Shang seinen Arm um Marcos Schulter und zog ihn etwas an sich. "Wenn Lord Beaumon sagt, es gebe Essen, dann sollten wir das nicht ablehnen. Es ist hier schon unangenehm genug. Ihr habt immerhin einen alten Freund eurer Gastgeber ermordet. Ich denke, es genügt mit diesen Unannehmlichkeiten." Und mit diesen Worten drückte Shang seinen Vorgänger beiseite und lief mit Marco im Arm los. Irgendwas hatte sich zwischen den beiden verändert. Da war ich mir sicher.
Zögerlich setzte auch ich mich in Bewegung. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann das letzte Mal so viele Leute in unserem Haus verweilten. Etwas unbeholfen folgten mir meine Schulkameraden und die stetigen Wanderer. Nur mein Bruder blieb mit unseren Eltern und Tyler stehen.
"Du hast ihn angefragt. Wenn du nicht mir vertrauen willst, dann glaube ihm. Er ist dein Verbündeter, nicht meiner. Wenn du es genau wissen willst, hasst Henry mich. Also kannst du dir sicher sein, dass er mir niemals helfen würde, wenn es nicht einen guten Grund dafür geben würde." Locker packte Tyler meinen Bruder an der Schulter, aber Thomas schlug seine Hand sofort wieder weg.
"Das will ich für dich und deinen Kopf auch hoffen. Sollte ich herausfinden, dass du Marcel grundlos getötet hast, wird dein Kopf als nächstes rollen." Bedrohlich ließ Thomas seine Klauen erscheinen und hielt sie an Tylers Kehle, der diese spöttisch betrachtete.
"Wieso gehst du davon aus, dass ich Marcel enthauptet habe? Wenn du es genau wissen willst, kann ich es dir zeigen. Die Leiche deines Patenonkels liegt ihr noch irgendwo." Und nach diesen Worten beschleunigte ich meine Schritte. Ich wollte nichts mehr davon hören, weshalb ich schnell in mein vertrautes Heim lief und hoffte, dass die Stimmen der anderen, den neuen Streit übertönen können.
"Wascht euch die Hände und setzt euch hin!" Die freundliche Stimme des Erben drang durch die Flure und wir taten sofort, wie uns befohlen.
Ich wusste nicht genau, was mich nun erwarten sollte, aber ich war eigentlich viel zu müde, als dass ich mich mit einem weiteren Streit hätte auseinandersetzen können. Also setzte ich mich nur schweigend hin und beobachtete, wie viele meiner Klassenkameraden sich unbeholfen und sehr unwohl hinsetzten. Es war für sie vermutlich das erste Mal, dass sie im Haus eines Alphas waren und auch für mich war es das erste Mal, dass ich hier ohne meinen Bruder saß.
"Du sitzt auf meinem Platz." Ertönte eine Stimme hinter mir und ich drehte mich verwirrt in die Richtung der Quelle. Hinter mir hatte ein Mann in Henrys Alter meinen Stuhl gepackt und etwas zurückgezogen. "Geh weg." Er funkelte mich mit roten Augen an, was mich etwas irritierte. Wer war dieser Mann? War er noch ein Alpha? Nein, er roch nicht nach einem Wolf. Er war etwas anderes, aber welche Spezies besaß rote Augen?
Er hatte einen deutlich Akzent, aber ich konnte nicht genau sagen, was für ein Akzent das war. Nur sein Aussehen ließ darauf hindeuten, dass er aus Asien kam, wie Shang und meine Großmutter. Er hatte dementsprechend auch schwarze Haare, die zerzaust in einen kleinen Zopf gebunden waren. Doch seine Augen weilten weiterhin auf mir, als ich ihn musterte und meinen Stuhl ließ er auch nicht los.
"Nii-Sama, lasst das Mädchen. Ihr gehört vermutlich das Haus." Eine weitere Gestalt erschien im Hintergrund. Auch sie hatte einen deutlichen Akzent und diese roten Augen. Nii-Sama war der japanische Ausdruck für den großen Bruder, also kamen sie aus Japan. Das bedeutet...
"Seid ihr die Erben der Fuchsgeister?" Mit großen Augen starrte ich von dem jungen Mann zu seiner Schwester, die näher trat und ihren Bruder etwas wegziehen wollte.
"Die sind wir und ich befehle dir mit meiner Macht, dich da wegzusetzen oder ich fackel dir deine Haare ab!" Ruckartig entzog er sich dem Griff seiner Schwester und zog mir den Stuhl weg. Etwas überrumpelt landete ich auf dem Boden und merkte, wie ich plötzlich der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit war.
"Es tut mir leid, Blackstorm-Sama. Mein Bruder kann sich manchmal nicht benehmen." Entschuldigend half mir das japanische Mädchen auf und schenkte mir einen flüchtigen Blick der Reue. Blackstorm-Sama? So wurde ich noch nie genannt.
Doch ich winkte nur ab und ging. Ich wollte mich jetzt mit keiner Diskussion auseinandersetzen, weshalb ich mir einfach einen neuen Platz suchte und damit das Gemecker der Geschwister ignorierte.
Man hatte also im Kampf gegen die Darachs Verstärkung eingefordert und nun standen hier Kojoten und Füchse vor der Tür. 'Das kann ja was werden.' Dachte ich, als ich mich auf den nächstbesten Stuhl fallen ließ und müde auf meinen Teller starrte. Ein Krieg also...

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