Kapitel 76

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Ich liebte den Kampf. Das war schon immer so. Rauferein mit anderen Jungtieren hatten mich schon immer mit Freude erfüllt. Es war so befreiend einfach mal Dampf abzulassen, aber je älter man wurde, desto weniger Zeit hatte man dafür. Besonders schade fand ich eigentlich, dass meine Familie nie gegen mich kämpfen wollte, aber kaum einer hatte auch dafür Zeit. Von Jiaki wusste ich damals nicht, Thomas wurde unterricht, der Alpha zu werden, Leon saß immer nur am Rand und beobachtete mich und Isabelle war viel zu genervt, als dass sie mir diesen Gefallen erwiesen hätte. Mein Vater kam gar nicht in Frage und meine Mutter hasste das Kämpfen, auch wenn ich sie schon kämpfen gesehen habe. Aber sie hatte mir eindringlich erklärt, dass es einen Unterschied zwischen kämpfen und töten gibt.
Und diesen Unterschied lernte ich heute kennen. Es war mitten in der Nacht und ich hätte mich lieber in meinem Bett herumgewälzt und komische Träume gehabt, aber daraus wurde nichts. Ich stand nun hier und war kurz davor, meinen Vater umzubringen. Wenn er wenigstens um sein Leben kämpfen würde, wäre es nicht so komisch, aber er stand nur schwiegend da und erwartete sein Ende.
Ich wollte nie jemanden töten. Ich liebte das Kämpfen, aber jemanden zu töten, war eine ganz andere Sache. Jiaki stand schweigend neben mir und beobachtete, wie ich mit zaghaften Schritten auf meinen Vater zuging. Als ich vor ihm stand, hob ich leicht meine Hand und zielte auf sein Herz. Vermutlich wusste keiner außer mir, Jiaki und Vater, warum ich das tat und am Ende würde ich nur als erbarmungsloser Vatermörder dastehen.
Aber es war Jiakis Wunsch, dass ich ihn tötete und nicht den Fluch abbekam, der mit Chimären in der Alphafamilie kam. Unendlicher Schmerz. Davor wollten sie mich schützen und mein Dank war was? Mord an meinen Vater und unendlicher Schmerz für meine Schwester? Ich war ein grandioser Wolf, wie kann man mich denn nicht lieben, wenn ich nur an mich denke? Herrlich.
"Ich danke dir." Flüsterte mein Vater, als er die Augen schloss und darauf wartete, dass ich meine Hand durch seinen Brustkorb rammte und sein Herz herausriss.
Mein Körper wollte aber nicht. Ich rief mir immer wieder ins Gewissen, dass es deren Wunsch war und ich es tun musste. Es war meine Pflicht. Es war für das Rudel!
Ich hielt die Luft an und schloss meine Augen. Mein Hand fuhr in die Höhe und raste auf den Brustkorb meines Vaters zu, der die Augen schloss und leicht ausatmete. Und dann hörte ich Rippen brechen und einen Mann röcheln. Und dann hörte ich Jiaki aufschreien.
"Was hast du getan?!" Verwirrt blinzelte ich und öffnete meine Augen. Blut klebte an meiner Kleidung, ich schmeckte es auch eisern in meinem Mund. Mein Vater starrte mich mit großen Augen der Angst an und sackte zusammen, als ich ihn verwirrt anblinzelte.
Er starb, aber... meine Hand hatte kurz vor seinem Brustkorb gestoppt. Als ich an meine Mutter dachte, konnte ich diese Grenze nicht überschreiten. Ich konnte meinen Vater nicht töten, doch nun starb er trotzdem.
"Du bist schwach, Livvy." Ich erstarrte, als die Stimme erklang. Mein Vater fiel auf den Boden und zurück blieb nur eine Hand, die ein Herzen umschloss, das Herz Peter Blackstorms.
"Thomas..." Hauchte ich und taumelte zurück. Er hatte unsere Vater getötet!
Triumphierend starrte er auf das Herz und ließ es verächtlich von seiner Hand gleiten. "Ich wusste, dass Olivia es niemals schaffen würde. Aber ich kann dich beruhigen. Dein rechtmäßiger Erbe hat deine Kraft übernommen. Du kannst in Frieden ruhen, auch wenn du es nicht wert bist."
Mein Vater war tot. Er war tot. Thomas hatte ihn umgebracht. Diese Gedanken schwirrten wie ein Taifun in meinen Gedanken und nahmen mir die Fähigkeit, rational zu denken. Ich konnte an nichts anderes mehr denken und ein Schmerz in meiner Brust machte sich breit.
"Wieso..." Hauchte Jiaki. Ich stolperte rückwärts und fiel auf den Boden. Ich konnte mich nicht mehr bewegen und als ich sah, wie Thomas sich krümmte und das Mal auf seinem Rücken wuchs, wusste ich, dass es endgültig war. Ich hatte versagt.
"Nun habt ihr endlich einen Alpha, der weiß, was es bedeutet ein-"
"Bist du komplett von Sinnen!" Jiakis Stimme überschlug sich und ich konnte nur schwach erkennen, wie sie auf Thomas stürmte und ihn auf den Boden riss. Er trug statt seiner Schürze nur eine Boxershorts, weshalb man seinen Rücken gut sehen konnte. Die Triskele wuchs immer weiter und ließ ihre Muster auch an seinen Armen und seinem Nacken erscheinen. Es schien etwas schmerzhaft zu sein, aber nicht so schmerzhaft wie Jiakis Schläge, die sie ihm in Massen anbot. "Du hast gar keine Ahnung, was du getan hast!"
Thomas wollte was sagen und sich verteidigen. Er und Jiaki hassten Vater und ich nahm an, dass er wegen dieser Gemeinsamkeit ihre Wut nicht verstehen konnte, aber er kam nie dazu, sich zu verteidigen.
Der Schmerz in meiner Burst ließ mich nämlich aufschreien. Ich dachte erst, dass es Trauer war, die mir dieses beklemmende Gefühl gab, aber das war keine Trauer. Dieser Schmerz war wie glühendes Eisen, das sich in mein Herz brannte. Meine Adern fühlten sich so an, als würde man Glas oder Nägel durch sie pumpen. Meine Sicht verschwamm und ein einziges Brennen ließ die Tränen in Strömen laufen. Ich krümmte mich, aber in keiner Position verringerte sich der Schmerz. Ich spürte eine Hand auf meinem Rücken, aber diese Berührung brannte wie Feuer auf meiner Haut. Panisch schlug ich sie weg, aber als ich sie berührte, fühlte es sich so an, als würden meine Knochen zerbersten. Alles brannte, alles schmerzte.
Es war aber alles in meinem Inneren. Sofort bäumte ich mich auf und spürte, wie meine Klauen wuchsen. Ich konnte weder etwas sehen noch hören, aber ich wusste, dass ich diesen Schmerz loswerden musste.

Schockiert rappelte ich mich auf. Ich verstand gar nichts mehr. Wieso hatte mich Jiaki geschlagen? Sie wollte doch immer unseren Vater tot sehen und hier stand ich und erfüllte ihr diesen Wunsch. Warum war sie dann so außer sich? Aber als ich aufsah und Livvy schreien hörte, waren diese Gedanken nebensächlich. Sie schrie und weinte, als hätte sie unendlich Schmerzen. Ihre Tränen färbten sich rot und ich zweifelte nicht an, dass es sich dabei um Blut handelte.
Als Ki sie beruhigend in den Arm nehmen wollte, schlug Livvy sie nur weg und begann noch mehr zu schreien. Ihre Stimme überschlug sich, als sie immer und immer wieder rief: Macht, dass es aufhört. Es tut weh! Ich kann das nicht! Tötet mich!
Der Schock ließ meine Glieder in Gang kommen und sofort stürzte ich mich auf meine kleine Schwester, als sie sich mit ihren Klauen an die Kehle gehen wollte. Unter Schmerzen stieß sie mich und Ki weg. Ich verstand nicht, warum sie so litt.
"Du musst Tyra finden." Hauchte meine große Schwester. Warum hauchte sie so? Verwirrt schaute ich zu ihr und musste mit ansehen, wie auch sie mit einem schmerzerfüllten Gesichtsausdruck zusammenbrach. Was ist hier los?
Ängstlich schaute ich zu Livvy. Warum litten sie so sehr? Ich roch Blut. Frisches Blut das nur von einer Chimäre stammen konnte. Langsam drehte sich mein Kopf zu Livvy und was ich da sah, ließ mich sofort zu Tyra rennen.
Ich rannte die Treppe hoch und riss jede Tür auf, die mir in den Weg kam. Ich wusste nicht, wo sie sich befand, aber ich musste sie unbedingt finden.
"Was machst du denn für einen Lärm?" Verwirrt verschränkte Tyra tiefenentspannt ihre Arme und schaute mich an. Aber als sie die Panik in meinen Augen sah, wurde ihr Blick ernster. "Ich bin unterwegs." Und sofort verschwand sie mit einer übelriechenden Flasche in der Hand.
"Babe?" Verwirrt kam auch Auralia aus dem Arbeitszimmer, das sie und Tyra sich die letzten Wochen geteilt hatten. "Was ist los?" Besorgt musterte sie mich.
"Livvy..." Ich stockte. Ich bekam dieses Bild nicht aus dem Kopf.
Olivia hatte so viel erlebt und das in so jungen Jahren. Sie war doch nur ein Kind, das die Welt noch nicht gesehen hat. Sie schwärmte immer davon, eines Tages die Welt entdecken zu wollen. Bevor sie von den Darachs entführt wurde, hatte sie ein unbeschwertes Leben. Ich konnte den Fakt nicht abstreiten, dass sie durch die Lügen unserer Familie unbekümmert leben konnte. Sie war meine kleine Schwester und es war meine Pflicht sie zu beschützen, aber ich war ein Feigling. In einem Moment prahlte ich noch mit der Kraft des Alphas in meinen Händen und im nächstens Moment rannte ich vor dem Schrecken in diesem Zimmer davon. Aber ich konnte es nicht ertragen. ich konnte nicht mit ansehen, wie Livvy sich ihre Klauen in den Rücken rammte und aus den tiefen Furchen dunkles Blut herausquoll. Ich ertrug es nicht, Livvy unter so starken Schmerzen zu sehen, dass sie sich lieber das gesamte Fleisch von den Knochen reißen wollte.
"Das kann doch nicht dein Ernst sein." Verwirrt blickte ich auf und direkt in die entsetzten Augen meiner Freundin. "Du willst mir erklären, dass dein Vater ein Monster ist? Weißt du eigentlich, warum er sich von Olivia töten lassen wollte?" Schockiert starrte ich sie an. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie mich jemals angeschreien hat. "Auf eurer Familie liegt ein Fluch. Jede Chimäre in einer Generation, der Alphablut durch die Adern fließt, wird für immer und ewig unter unendlichen Schmerzen leiden, sollte sie nicht die Kraft des Alphas übernehmen. Jiaki wollte, dass Olivia zum nächsten Alpha wird, damit eure jüngste Schwester ihr Leben leben kann, aber du musstest alles zerstören. Jiaki hasste zwar ihren Vater für das, was er ihr angetan hat, aber sie hätte niemals so irrational gehandelt! Olivia wurde ebenfalls belogen und betrogen, aber hätte ihren Vater nur unter besonderen Umständen wie diesen getötet. Du dagegen-" Sie stoppte und starrte mich mit so viel Hass in den Augen an, dass es mir die Kehle zuschnürte. "Du bist nur ein verzogener kleiner Bengel, der glaubt alles tun und machen zu können. Du musstest weder so leiden wie Jiaki noch wie Olivia. Dein Hass auf deinen Vater ist so sinnlos und trotzdem hast du nicht weitergedacht, als ein Schwein scheißen kann und hast deine Schwester diesem Schicksal ausgesetzt. Bist du jetzt stolz auf dich, oh du großer Alpha, Thomas Nalio Blackstorm?"
Sie stieß mich von sich und lief den Gang entlang. "Ich wusste das nicht-" Rief ich dann plötzlich, was Auralia zum stehen bleiben brachte.
"Das ist keine Entschuldigung dafür, dass du deinen Vater umgebracht hast." Ich hörte sie zögern, aber wagte es nicht, ihr in die Augen zu sehen. Ich wollte die Enttäuschung in ihren Augen nicht sehen. "Bleib von mir fern. Ich wollte dir erst diesen Mord verzeihen, aber die Umstände haben sich geändert. Es wäre das beste, wenn wir uns nicht mehr auf diese Weise sehen. Ich ertrage es nicht mehr, dich anzusehen. Nicht nach allem, was du getan hast."
Und mit diesen Worten ließ sie mich im Gang stehen und ich war mir sicher, dass irgendwas in meinem Inneren brach.

If I hadn't met youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt