Schockiert hielt ich die Luft an. Es war nur knapp, aber beinahe hätte mein Kopf Bekanntschaft mit der Autotür gemacht. "Liebste Schwester, wo hast du bitte fahren gelernt?" Etwas panisch suchte ich nach Halt und als ich nur Christophers Schultern erwischte, klammerte ich mich eben an diese.
"Willst du mich etwa kritsieren?" Empört drehte sich meine Schwester um und schob leicht die Unterlippe vor, aber das konnte ich nicht ganz betrachten, da Isabelle sofort panisch aufschrie und mit ihren Händen in alle Richtungen zeigte.
"Lady Miyarayo, ihr könnte euch doch nicht einfach umdrehen!" Unter viel Kraftaufwand lehnte sich Isabelle nach vorne und drückte mit beiden Händen das Gesicht meiner Schwester wieder in Richtung Fahrbahn.
Sie ließ sich nur drücken und packte mit einem beiläufigen Summen das Lenkrad, schaute aber weiterhin zu uns nach hinten. "Natürlich kann ich mich einfach umdrehen. Hast du doch grad gesehen." Tiefenentspannt lehnte sich meine Schwester in den Fahrersitz und lenkte wieder ein. Wir hatten für einige Minuten die Straße verlassen und sind durch Wiesen und Wälder gefahren.
"Du solltest es nicht so strapazieren. Wenn wir uns nicht beeilen, könnte in Nalawe sonst noch was sein." Behutsam griff Tyra vom Beifahrersitz nach Jiakis Oberschenkel und drehte sich etwas zu uns um. "Sie kann durchaus fahren." Tyra zögerte. "Wäre nur schön, wenn sie das auch mal machen würde."
"Na sage mal!" Empört gab Jiaki ihrer Partnerin einen Schlag auf den Hinterkopf, was mich leicht zum Lachen brachte. Ich hätte nicht gedacht, dass wir so schnell wieder unbeschwert reden könnten.
Nachdem meine Schwester und Tyra sich endlich dazu entschlossen haben, Christopher und Isabelle nicht mehr sofort töten zu wollen, wurde es seltsam. Ich hatte nicht gewusst, dass Auralia ein Druide war und sie so mächtig zu sehen, was sehr ungewohnt. Ich hatte zwar schon eine Ahnung, da sie den Nachnamen der Grays trug und ihr Vater Xavier Gray, der Druide unseres Rudels, war, aber ihr kleiner Bruder Maximilan trug ebenfalls diesen Nachnamen und war ein Werwolf. Sie hätte sonst was sein können, da das Werwolf-Gen eigentlich dominant ist und Druiden nur vergleichsweise selten geboren wäre. Es wäre sogar wahrscheinlicher gewesen, wenn sie ein Mensch gewesen wär. Aber dass sie ein Druide war, der die Barriere der Lupus Luna in einem Haus errichten könnte, war schon erstaunlich.
Jeder andere schien aber damit gerechnet zu haben, was es wirklich unangenehm für mich machte, aber meine Unwissenheit war nichts neues. Es schien ihr aber sehr viel ihrer Energie zu rauben, weshalb mein Bruder sehr behutsam mit ihr umgehen musste. Seine Hände waren wirklich blutig und zertrümmert, nachdem er etliche Male auf unseren Vater eingeschlagen hatte, aber das schien ihn eher weniger zu kümmern. Er hatte seine Freundin aus dem Haus getragen und zu Isabelle gebracht, die draußen saß. Ich dachte erst, dass er sie nur aus der Gefahrenzone bringen wollte, aber als er wiederkam und Christopher, Tyra und Lawrence rausschickte, wurde mir bewusst, dass ein Familiengespräch anstand.
Ich erinnerte mich noch gut an den erschöpften Ausdruck auf dem Gesicht meiner Mutter. Sie hatte wieder ihre menschliche Form angenommen und wirkte sehr mitgenommen. Wir standen eine Weile schweigend im Raum oder eher die anderen, da ich immer noch am Boden lag und mein Vater sich nur etwas unbeholfen aufsetzen konnte.
"Was sollte das?" Waren die Eröffnungsworte des Gesprächs gewesen. Mein Vater hatte mit einer rauen Stimme zu Thomas gesprochen, doch nur einen kalten Blick geerntet.
Ich erkannte ihn nicht wieder. Seine schwarzen Augen wirkten matt und bodenlos. Er hatte keinen Grund mehr, seine Gefühle zu unterdrücken, da er nun alle konfrontieren konnte, aber dieser finstere Ausdruck erinnerte mich an einen Todesengel. Als Thomas mit geballten Fäusten, diesen leeren und verhassten Augen und seinem tiefschwarzen Haar vor unserem Vater stand, konnte ich keinen anderen Gedanken fassen als: Der Schatten der Nacht und der schwarze Sturm der Dunkelheit. Das war mein Bruder in diesem Moment und ich zweifelte nicht daran, dass er bereit war, unseren Vater sofort zu töten. Doch er sagte nichts.
Erst als Jiaki vortrat und mit einer sanften Stimme Thomas zurückzog, wich dieser finstere Blick einem liebevollen Funkeln. "Wo warst du all die Jahre? Ich war zwar noch sehr jung, als du geopfert wurdest, aber ich erinnere mich noch gut an dich. Ich erinnere mich an deine Augen und deine liebliche Stimme, als du mir Geschichten erzählt hast. Du bist meine Schwester und ich liebe dich, also sage mir, wo warst du?"
Jiaki hatte jedoch nur geschwiegen. Ich wusste nicht, warum, aber ich fühlte mich so fehl am Platz. Früher war ich immer mit Leon zusammen und wenn ich nicht erwünscht war, dann waren wir wenigstens zusammen unerwünscht, aber in dieser Situation war ich alleine. Mein Bruder ist mit großer Wahrscheinlichkeit wegen mir losgezogen und suchte nun nach mir im Gebiet der Darachs. Er wusste vermutlich von der Geschichte unserer Vorfahren und der Bürde, die auf mir und Jiaki lastet. Er war nicht so wie ich. Er wusste Dinge, die ich erst sehr spät lernte, aber nun war er verschwunden. Leon war nicht mehr da und in diesem Moment bereute ich es mehr als alles andere, ihn von mir gestoßen zu haben. Mag zwar sein, dass er Dinge wusste und verheimlichte, aber er war immer an meiner Seite und diese Tatsache war keine Lüge. Das war die Wahrheit, die ich am eigenen Leibe erfahren hatte.
"Die Kyles." Zögernd war meine Mutter vorgetreten und hatte die Hand meines Vaters genommen, um ihn zu sich zu ziehen. Ich spürte förmlich, wie meine beiden älteren Geschwister angewidert von ihm wichen. Für sie war dieser Mann ein Monster und für mich nur ein Lügner, aber war das wirklich alles? "Wir haben gehört, dass die Kyles einen Putsch starten wollten und wir sie nur beruhigen konnten, wenn wir die Wurzel allen Übels vernichteten. Sie jagten unser erstes Kind. Sie wussten aus irgendeinem Grund von meinem Erbe und Peters Genen. Sie wussten, dass ich eine Chimäre geboren habe und wollten sie töten. Wenn wir nicht kooperiert hätten, hätten sie das gesamte Rudel bis auf den Letzten ausgerottet. Wir konnten das nicht verantworten. Wir sind ein großes Rudel und all die unschuldigen Seelen hätte ein grausames Schicksal ereilt, wenn wir so selbstsüchtig gewesen wären und das Kind behalten hätten. Doch wie es scheint, war das eine einzige Lüge. Ich kann sehen, dass diese junge Frau, mit der du unterwegs bist, ein Kyle ist. Was steckte wirklich dahinter?" Flehntlich schaute meine Mutter zu ihrem Erstgeborenen auf und ich konnte spüren, wie sie sich fürchtete. Fürchtete sie sich vor der Antwort? Hatte sie Angst um ihren Gatten? Oder ängstigte sie die Wahrheit?
Ich ging nach dieser kurzen Zeit des Kennens schon davon aus, dass Jiaki kaum Fragen beantwortete, weshalb es mich wunderte, dass sie sofort antwortete. "Die Kyles sind die Vertreter der Menschen. Sie sind praktisch eine eigene Gründerfamilie, aber das vielmehr inoffiziell und sind auch eher als Jäger bekannt. Doch tatsächlich waren sie die ersten Menschen, denen unseren Vorfahren vertrauen konnten und seitdem beschützten sie unseresgleichen. Und ihr habt recht, meine Geburt, die Geburt der Chimäre, ist sehr gefährlich und sie mussten euch aufhalten, aber alles kam anders. Die Mutter der Alphas, Chao-Xing, flehte sie an, das Kind zu verschonen. Sie hatte seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrem Sohn, aber sie konnte nicht mit ansehen, unsere Familie so zerstört zu sehen. Die Kyles stimmten sogar zu, da sie das Blut der Mutter versiegeln ließen und keine weiteren Chimären hätten zeugen können. Es wäre nicht nötig gewesen, mir wirklich das Leben zu nehmen, wenn ihr eure Lektion gelernt habt. Tyra war zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt als ich, die zehnjährige Chimäre, zu ihnen gebracht wurde. Mir wurde immer nur gesagt, ich würde einige Wochen bei ihnen verweilen, ehe ich zu meiner Großmutter ziehen würde, aber auch da kam alles anders. Die Details gehen euch nichts an, aber es führte letztendlich alles dazu, dass die ehemalige Luna und die gesamte Familie der Kyles bei einem Massaker ums Leben kamen und wir seitdem auf der Flucht vor dem Tod sind. Jetzt frage ich euch, war es das wirklich wert? Hättet ihr nicht schon früher gegen diese Darachs kämpfen können? Sie ist der letzte Jäger und ich, eure Tochter, bin die erste Chimäre seit Jahrhunderten. Wir können nirgends bleiben, ohne vom Tod verfolgt zu werden und das verdanken wir dir, Peter Blackstrom. War es das wirklich wert? Ich war doch erst zehn Jahre alt und hatte nichts damit zu tun. Ich war nur ein Kind und ihr habt mir dieses Schicksal angetan, weil es das einfachste war. Mein Opfer brachte das Glück zu deinen Leute, aber ich hatte das zu keinem Zeitpunkt verdient. Oder etwa doch? Alles, was mir dadurch angetan wurde-" Jiaki stoppte und hielt sich ruckartig den Mund zu. "Ihr habt ja keine Ahnung."
Ich wusste nicht, was schlimmer war. Ihre Worte, ihre Geschichte oder die Tatsache, dass Jiaki mit einer so ruhigen und kontrollierten Stimme sprach. Ich hätte es angenehmer gefunden, wenn sie meine Eltern angeschrieen hätte, aber sie sprach so kalt und rational, dass es mir einen Schauer den Rücken herunter jagte. Ich war an die laute Stimme meines Vaters gewöhnt, aber das passiv aggressive erzeugte bei mir den Wunsch zu schreien und wegzurennen.
Keiner schien darauf eine Antwort zu kennen. Ich konnte anhand der Reaktion nur ausmachen, dass mein Vater sehr schockiert war. Er hatte damals nicht unrecht gehabt. Er wollte sein Rudel schützen und dafür tat er etwas unverzeiliches. Aber war es wirklich falsch, einen zu opfern, um die Masse zu retten? Wenn ich so darüber nachdenke, würde ich vermutlich das Gleiche tun, weshalb ich meinen Vater bemitleidete. Er hatte all die Jahre mit dieser Sünde gelebt und wie sich nun herausstellte, war sie schlimmer als vorerst angenommen.
Doch mein Bruder schien das anders gesehen zu haben. "Siehst du, was du getan hast?" Er stieß meine Mutter beiseite, die ihren Gatten sachte und krampfhaft hielt, und packte ihn am Kragen. "Du hast meiner Schwester, einem zehnjährigem kleinen Mädchen, etwas angetan, was mit nichts wieder gut gemacht werden kann! Sie hatte nichts damit zu tun! Es war nicht ihre Schuld, dass sie so geboren wurde! Sie ist so wegen euch! Meine Großmutter ist umgekommen wegen euch! Sie war doch nur ein Kind." Schockiert hatte ich meinen Kopf in die Höhe gerissen. Dieser Klang war anders. Der Klang seiner Stimme schwang von dem aggressiven und unbändigen zu einer unendlichen Trauer und Verzweiflung. "Ich hasse dich dafür." Hauchte mein Bruder und wurde sanft von meiner Schwester fortgezogen.
"Es ist zu spät dafür. Wir können es nicht ändern." Ernst starrte Jiaki meine Mutter, die ihre Verzweiflung nicht verbarg, an. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie sich fühlen musste. Es war schon schlimm genug, dass sie ihr Kind weggeben musste, da sie einen Mann liebte und mit ihm ihr Leben verbringen wollte, aber sie hatte diesem Kind etwas angetan, was sich keiner vorstellen vermag und das gleiche Schicksal könnte auch mir ereilen. Das wussten wir alle und keiner hätte in diesem Moment gewagt, diese Tatsache anzusprechen.
Dann wand Jiaki ihren Blick von unserer Mutter und starrte auf unseren Vater herab. Doch nicht sie ergriff das Wort, sondern er selbst. "Was schaust du mich so an? Hasst du mich dafür, dass ich mein Rudel beschützen wollte? Ich bereue, dir so etwas angetan zu haben, aber ich würde mich auch heute für das gleiche Handeln entscheiden. Auch heute würde ich eine Person opfern, um mein Rudel zu retten. Glaubst du wirklich, ich lag nicht Stunden und Wochen in meinem Bett und habe nach einem Ausweg gesucht? Du bist meine Tochter und ich wollte dich behalten, aber die Umstände ließen nichts anderes zu. Wenn du mich hasst und töten willst, dann tu das. Ich werde sowieso durch die Hand meines Kindes sterben, also kannst du das genauso gut tun. Aber wenn du eine Entschuldigung willst, dann kannst du dir das abschminken. Ich stehe zu meiner Entscheidung."
Schockiert hatte ich die Augen aufgerissen und zu den vier Menschen geschaut, die einst eine glückliche Familie hätten sein können. Lachend packte diesmal meine Schwester den Kragen des Alphas und zog ihn hoch, dass er nicht mehr auf dem Boden saß. Entsetzt wollte meine Mutter sie aufhalten, jedoch hielt sie Thomas auf. "Wenn du so drigend sterben willst, dann wollen wir dir diesen Wunsch erfüllen. Wer soll es tun?" Ruckartig ließ sie ihn fallen und starrte mit einem finsteren Blick auf ihn herab. "Soll ich es tun? Die erste Chimäre seit Jahrhunderten, Tochter zweier Gründerfamilien und Hoffnung der neuen Welt?" Leicht streckte sie ihre Hand aus und zeigte auf meinen Bruder. "Oder soll es der Erbe der Blackstorms tun? Der Prinz der Werwölfe und rechtmäßige Anführer der Lande Nalawes?" Und dann richtete sie ihre Haltung in meine Richtung und starrte mich mit einem Ausdruck in den Augen an, den ich nicht deuten konnte. Ihre Augen sagten nichts aus und als sie zu mir sprach, konnte ich keinerlei Emotionen ausmachen. "Oder soll es die Nagual-Prinzessin tun, das Opfer der dunklen Druiden, das gebrochene Kind der Mächtigen?"
Mein Herz blieb stehen, als der Finger auf mich zeigte und ich mich daran erinnerte, dass das einer der Gründe war, warum Jiaki zurückgekommen ist. Sie wollte, dass ich unseren Vater ermorde und die Kraft der Alpha übernehme.
Ich schüttelte den Kopf. Das waren zwar noch sehr frische Erinnerungen, aber sie waren sehr verwirrend. Ich dachte immer, Vater würde es bereuen, aber er tat es nicht und um ehrlich zu sein, würde ich es auch nicht. Wäre ich demnach genauso ein Alpha wie mein Vater? Aber ich wollte nie zum Alpha werden. Ich war das jüngste Kind der Blackstorms und somit letzter in der Erbfolge. Ich wollte nichts damit zu tun haben.
"Was ist los?" Besorgt betrachtete mich Christopher und ich erinnerte mich wieder daran, wo ich war. Nachdem wir dieses Gespräch beendet hatten, sind meine Geschwister einfach herausgestürmt und hatten alle eingesammelt. Wir befanden uns grade auf dem Weg nach Nalawe, der Heimat der schwarzen Wölfe, um uns auf den Krieg gegen die Darachs vorzubereiten.
Und Jiaki konnte einfach nicht normal Autofahren, weshalb ihre Passagiere Christopher, Isabelle, Thomas, Lawrence, Tyra und ich, ziemlich oft gegeneinander geschleudert wurden. Das konnte ja was werden.
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If I hadn't met you
WerewolfVerstehst du denn nicht, dass es die einzige Chance ist? Töte ihn und ich komme zurück. Töte ihn und ich kümmere mich um das Rudel. Töte ihn und wir werden diesen Feind ein für alle mal los. Es spielt jetzt auch keine Rolle mehr... auch wenn er dein...