Kapitel 50

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"Ich bin ja so froh, dass ich dieses Internat nie besuchen musste. Es ist unglaublich mühselig, sich hier zurecht zu finden. Das Gelände ist einfach nur... riesig." Entnervt hob Jiaki ihre Arme und drehte sich im Kreis. Sie hat also die Ungeduld unseres Vaters geerbt.
"Man gewöhnt sich dran, aber die Gefahr sich zu verlaufen, besteht eigentlich überall." Ich zuckte mit den Schultern und bog bei einem Pfad ab, welcher zum Blackstorm-Haus führte.
"Ich bin froh, dass ich nie in solche Einrichtungen musste." Lachend verschränkte Tyra ihre Arme hinter dem Kopf und schaute gen Himmel.
Erst wollte ich fragen, warum sie nie in 'solchen Einrichtungen' war, aber wenn sie damit Schule meinte, hatte das bestimmt etwas mit ihrem Kampf ums Überleben zu tun und darüber würde sie mit Sicherheit nicht mit mir reden.
Als ich dann endlich einen Hügel erblickte, den ich während James' Training immer erklimmen musste, beschleundigten sich meine Schritte. Ich wusste nicht warum, aber mit einem Mal wurde ich sehr nervös und wollte nur noch nach Hause. Als ich dann aber oben ankam und mich umschaute, waren die beiden Frauen immer noch weit hinter mir und in ein Gespräch vertieft, was sie ziemlich langsam werden ließ. Oder ich war einfach nur zu schnell. Wer weiß das schon?
Doch als ich meine Reise fortführen wollte, stoppte ich. Keine fünf Meter von mir stand Lawrence Morgan, welcher sich angestrengt umschaute.
"Lawrence?" Meine Stimme überschlug sich beinahe, als ich seinen Namen rief und genauso unbeholfen, wie ich seinen Namen rief, dreht er sich auch um.
"Olivia?" Ehrliche Überraschung und Erleichterung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, aber verschwand unmittelbar, als er das Blut an meinen Händen entdeckte. Die rote Flüssigkeit stammte zwar aus der kleinen Schnittwunde an meinem Nacken, aber das konnte er nicht wissen. "Was ist passiert?"
Stürmisch lief er auf mich zu und packte mein Handgelenk. "Ich-" Doch ich kam nicht weit, da er mich schon in eine verkrampfte Umarmung gezogen hatte.
"Ich habe gehört, dass du verloren gegange bist. Irgendwelche Darachs oder Jäger sollen dich entführt und gefoltert haben. Wir haben die gesamte Nacht nach dir gesucht, als Alex und ich davon erfuhren. Deine Familie ist auch schon lange auf den Beinen. Was ist passiert? Geht es dir gut? Wie bist du entkommen und wo sind die Entführer?" Besorgt löste er sich von mir und studierte eingehend mein Gesicht und meine Arme.
Ich trug nur ein einfaches T-Shirt, welches mir Tyra geliehen hatte. Es war demnach viel zu groß für mich, aber entblößte trotzdem meine Arme, welche voller Narben waren. Es waren Narben des Trainings mit James, Narben durch Unfälle, als ich noch ein Kind war, und Narbe der Folter und der Selbstschändung, welche von der Entführung von vor zehn Jahren stammten.
Ich spürte, wie Lawrences Herzschlag sich beschleunigte und er sich immer mehr Sorgen und Gedanken um mich machte, aber das war gar nicht nötig.
"Law, es ist-" Doch wieder wurde ich unterbrochen.
"Die Entführer?" Lachend erklomm Tyra mit ihren verschränkten Armen den Hügel und grinste mit einem Schwert am Gürtel den junge Wolf an. "Die sind dann wohl wir."
Ich konnte die nächsten Schritte nicht ganz verfolgen, da sie viel zu schnell abliefen. Ich spürte nur einen leichten Druck an meinem Arm und schon starrte ich nur noch einen muskulösen Rücken und nicht mehr Tyra und meine Schwester an. Doch dieser Rücken wirkte bis zum Zerreißen angespannt und seine Haltung wies auch nur auf den Kampf hin. Als dann auch noch ein Knurren den frühen Morgen durchdrang, wusste ich, dass er es ernst meinte. Es war animalischer, als alles, was ich bis dato vernommen hatte. Eigentlich wollte ich es nicht, aber ich taumelte einen Schritt zurück, als ich den Kampfgeist des jungen Erben vernahm. Ich, die Alphas Tochter, wich aus Respekt und Angst vor einem anderen Wolf zurück? Das musste es also heißen, ein Erbe einer Gründerfamilie zu sein.
"Law?" Unsicher trat ich wieder an ihn heran und ging etwas um ihn herum, um sein Gesicht zu sehen. Ich konnte ihn gar nicht mehr wiedererkennen. Lawrence war so ein hilfsbereiter und gutherziger Wolf, dass ich mir gar nicht hätte vorstellen können, er würde jemals jemanden angreifen. Er hat nicht einmal in seiner Schullaufbahn jemanden geschlagen oder auch nur angerührt. Egal wie sehr man ihn unterdrückte und egal wie schlecht man ihn behandelte, er sagte nie etwas. Er nahm alles hin und kümmerte sich nur um etwas, wenn es andere betraf. Und nun stand er hier, konfrontierte einen Jäger und einen Erben zweier Gründerfamilien ohne die Aussicht auf einen Sieg, aber er tat es. Für mich würde er dieses Risiko eingehen und das war auch die einzige Komponente, die mich an den alten Lawrence erinnerte.
"Ein Wendigo-Erbe." Interessiert ließ Tyra ihre Arme sinken und trat etwas näher heran. Doch sofort schlug Lawrence um sich, was Tyra zurücktaumeln ließ. Er, der pazifistische Lawrence, war bereit jemanden zu töten.
"Law!" Ohne nachzudenken, packte ich Lawrence am Arm und zog ihn etwas zu mir. "Lass das!" Ich schrie ihm schon förmlich ins Ohr, aber ich befürchtete, er würde mich sonst nicht hören können. Seine Augen waren vollständig weiß. Wie die Abbildung des Wendigos in den Schulbüchern besaß er keine Iris oder Pupille mehr. Sein Auge sah aus, wie ein einziger Glaskörper, und war zudem auch blutunterlaufen und teilweiße rot. Gierig fletschte er mit seinen Zähnen, welche aus mehreren spitzen Zahnreihen bestanden und seine Klauen waren mit unproportional langen Fingern verbunden. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass es sich hierbei um Lawrence handelte, hätte ich ihn aus Angst ohne zu zögern angegriffen. "Lawrence! Das sind meine Schwester und ihre Freundin!"
Ich konnte es gerade noch so rechtzeitig sagen, da er schon zum Sprung angesetzt hatte. Doch er versteinerte sofort und so schnell, wie dieses Erscheinungsbild erschienen ist, verschwand es auch wieder. "Das ist deine Schwester?" Verwundert zeigte er auf Tyra, die ihn anfeixte und nicht den Anschein von Angst zeigte.
Doch ich schüttelte nur den Kopf und während ich mich noch an seinen Arm klammerte, aus Angst er könnte sie doch noch angreifen, zeigte ich auf Jiaki, die etwas desinteressiert dreinschaute.
Eine Weile schaute Lawrence meine Schwester an, ehe sich seine Muskeln entspannten und ich ihn vorsichtig loslassen konnte. "Sie sieht aus wie eure Mutter."

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