Kapitel 36

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"Was willst du, Brown? Siehst du nicht, dass ich mich unterhalte?" Mit einer standhaften und genervten Stimme erhob sich Lady Silverstone und starrte meinen Lehrer an. Sie hatte sich sofort wieder gefasst und wirkte so autoritär und selbstbewusste wie es und je.
"Diese verdammten Monster von Werwölfen haben die Esche zerstört. Glauben sie wirklich, dass es mich in solchen Momenten interessiert, mit wem sie sich unterhalten?" Wütend stieß der Lehrer drei der vier Kinder in den Raum und ich erkannte sofort, um wen es sich dabei handelte. "Alexandra Williams, Lawrence Morgan und Leonard Blackstorm haben einen wichtigen Bestandteil unseres Sicherheitssystems zerstört und sie wollen nur mit diesen Blackstorm-Gören reden? Machen sie das, aber ich werde mir sicherlich nicht den Arsch aufreißen, sollten irgendwelche Feinde in dieses Gebiet eindringen. Verantworten sie sich dafür!"
"Kinder, bitte verlasst das Zimmer und genießt euer Wochenende. Ich muss mich noch mit Brown unterhalten." Mit einer federleichten Bewegung ließ sie sich in ihren Sessel fallen und winkte Vincent Brown zu sich. Lady Silverstone wusste, wie man sich Respekt verdiente und wie man mit Untergestellten redete. Ich war erstaunt, dass sie so eine gute Kontrolle über ihre Emotionen hatte. Ich dagegen hatte Probleme meine Beherrschung zu wahren, als ich meinen vermeintlichen Bruder am Boden erblickte.
Schweigend wollten wir das Zimmer verlassen, doch das vierte Kind erhob die Stimme. "Glaubst du wirklich, dass das genügt? Tante Penelope, sie haben die Esche zerstört und du willst dich nur mit Vincent unterhalten? Hast du nicht ein Verantwortungsbewusstsein dafür!?" Wütend starrte das blonde Mädchen die Direktorin an und ich wusste, dass Jamie Silverstone nicht nachgeben würde, zumal sie keinerlei Respekt ihrer Tante gegenüber hatte.
Daher packte ich sie im Vorbeigehen an der Kehle und zog sie aus dem Zimmer. Als wir sechs draußen waren, schloss Alexandra schnell die Tür und nahm uns die einzige Lichtquelle, die den düsteren und stillen Gang erfüllte.
"Fass mich nicht an, du Bastard!" Wütend stieß Jamie mich von sich, aber aus irgendeinem Grund taumelte ich kein bisschen zurück. "Ihr verdammten Hunde glaubt wohl, das hätte sich damit erledigt, aber ich werde es euch nicht vergessen, was ihr mir angetan habt! Ich bin Jamie Silverstone! Und du verdammter Kannibalen-Liebhaber kommst sicherlich nicht damit durch, mir den Kiefer zu brechen und einfach davonzurennen!"
"Ich würde mal sagen, verdient." Gelangweilt zuckte Alexandra mit ihren Schultern und in Momenten wie diesen war ich erleichtert, die guten Augen eines Werwolfes zu besitzen, da wir in der Nacht wie am Tage alles sehen können. Es war wirklich erleichternd und amüsant, Alexandra so zu sehen. Kaum einer konnte in Situationen wie diesen eine derartige Fassung bewahren.
"Du verdammtes-" Doch weiter kam das fauchende Biest nicht, da ein junger Mann sie packte und somit zum schweigen brachte.
"Lady Silverstone mag zwar eine Tür besitzen, die jegliche Geräusche von außerhalb draußen lässt, aber das bedeutet nicht, dass wir hier einfach durch die Gegen schreien müssen." Sachte ließ Lawrence die kleine Silverstone und fing sich dafür eine.
"Fass mich nicht einfach an. Verdammte Bastarde!" Schrie sie uns noch entgegen, ehe sie kehrt machte und den Gang zum Ausgang rannte. Und erst als wir ihre Schritte nicht mehr vernehmen konnten, atmeten wir erleichtert aus.
"Für eine Zwölfjährige ist sie sehr hasserfüllt." Resignierte Lawrence schließlich, als er seine Wange rieb, die Jamie geschlagen hatte.
"Das war noch gar nichts. Du solltest sie mal erleben, wenn sie wirklich wütend ist." Lachte Marco und erstaunlicherweise war das sogar ein ehrliches Lachen.
"Die soll mich mal erleben, wenn ich richtig wütend bin. Noch so eine Aktion und sie wird ihre Beine verlieren. Glaubt sie wirklich, dass sie damit durchkommt, nur weil sie zur Beta-Familie der Whitenights gehört? Aus ihrer Familie ist nicht mal einer der aktuelle Beta. Was spielt sie sich so auf?" Wütend ballte ich meine Fäuste. Niemand darf so mit meinen Freunden reden!
"Niemand sollte dich wütend erleben müssen." Schockiert fuhr ich zusammen. Ich hatte vergessen, dass Leon mit ihnen war.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Er stand nun vor mir und strahlte einen Schmerz aus, den ich erst jetzt resignieren konnte. Ich stand hier vor meine Bruder, der mich verraten hatte, und mir fehlten die Worte. Ich spürte seinen Atem, der darauf hinwies, dass er auf meine Antwort, meine Vergebung, meine Liebe hoffte, aber diese Dinge konnte ich ihm nicht geben.

"Streiten sie schon wieder?" Müde reichte mir meine Mutter eine Tasse Kaffee, welche ich dankend annahm und in einem Zug trank. Ich wusste nicht mehr, welcher Tag heute war oder wie viel Liter Kaffee sich in meine Kreislauf befanden, aber das spielte auch keine Rolle mehr. Meine Mutter hatte sich uns offenbart und das brachte mehr Fragen auf, als sie beantwortete. Meine Mutter stammt aus einer Familie der Nagual und um das auch noch zu übertrumpfen, ist sie der Erbe der Gründerfamilie Miyarayo. Das würde erklären, warum die Darachs hinter Livvy her sind. Es war immerhin ständig die Rede von der Nagual-Prinzessin und das wäre meine kleine Schwester. Gründerfamilien wurden früher aus eine Art Nobilität oder Adel angesehen, weshalb Angehörige dieser Familie diverse Titel erhielten. Auch heute wird diese alte Tradition übernommen, aber ich habe noch nie von einer Nagual-Prinzessin gehört, Geschichtsbücher ausgeschlossen. Naguals sind so unglaublich selten, dass ich mir nicht sicher war, ob sie überhaupt in der Lage waren, eine Gemeinschaft aufzubauen. Ich habe aber auh nie verstanden, warum ein Siegel auf das Blut meiner Mutter gelegt wurde. Hatte sie etwas Angst, dass ich zum Nagual werden könnte, da beide Elternteile von mächtigen Gründerfamilien abstammen? Aber das würde keinen Sinn ergeben, da nur ein Gen dominant sein kann und in den meisten Fällen überwiegt auch das Werwolf-Gen. Inwiefern unterscheidet sich dann Livvy von mir, wenn sie eindeutig ein Werwolf ist?
"Ja, Vater ist immer noch nicht so gut auf Auralia zu sprechen. Und da es bald Winter ist, kommt der Tag immer näher, an dem wir wieder Kontakt mit Lupus Luna aufnehmen können und sie Livvy die Wahrheit sagen wird. Ich verstehe nur nicht, warum er sich so anstellt. Sie wird mitkommen und ihrem Bruder vom Tod ihrer Eltern berichten müssen. Er kann sie nicht aufhalten." Genervt rieb ich mir die Schläfe. Mein Vater war ein viel zu sturer Mensch und konnte Dinge einfach nicht gut sein lassen.
"Dir ist aber bewusst, dass wir das nur zu ihrer eigenen Sicherheit getan haben, oder?" Sachte griff meine Mutter nach meiner Schulter und zeichnete sanft Linien auf meinen Rücken. Ich wusste, dass sie das Mal zwischen meinen Schulterblättern entlangfuhr und ich wusste auch, an wen sie dabei dachte. Sie dachte an ihr erstes Kind, das ein ähnliches Mal trug.
"Das kann ich mir denken, aber ich verstehe nicht, was es mit dem Siegel auf sich hat oder was so anders an ihr sein soll. Hat es was mit Ki zu tun?" Sofort drehte ich mich um und packte die Hände meiner Mutter. Ich wusste, dass sie meiner Frage sofort ausweichen würde, aber ich war es leid. "Hat es was mit Ki zu tun?"
Die blauen Augen meiner Mutter fingen an, grün aufzuleuchten. Grün war die Augenfarbe der Nagual, der Jaguare. Es war eine schöne und gefährliche Farbe, aber das spielte nun keine Rolle. "Es hat bestimmt etwas mit meinem Kind zu tun. Deine Großeltern, die Eltern deines Vaters, haben uns immer davor gewarnt, dass unsere Kinder sehr viel Leid ertragen werden. Sie wollten nicht, dass wir Kinder bekommen, weil wir diese besonderen Kinder in eine grausame Welt lassen würden, aber wir hörten nicht auf sie. Wir bekamen Ki und waren glücklich, aber es gab eine Gruppe von Jägern, die mein Kind um jeden Preis wollten und um den Frieden zu wahren, mussten dein Vater und ich unser erstes Kind opfern. Ich weiß, dass du deinen Vater dafür hasst, da Ki immer für dich da war, aber wir hatten keine Wahl. Und ich werde jeden Hass auf mich nehmen, da ich weiß, dass ich den Tod meines eigenen Kindes verschulde. Mir ist das durchaus bewusst."
Ich kannte die Geschichte. Ich wusste, dass es immer hieß, sie hätten es für das Rudel getan, aber Ki gehörte auch zum Rudel. Warum hatten sie den rechtmäßigen Erben nicht ebenfalls beschützt, wenn man doch jeden retten wollte? "Mutter..." Ich stockte. "Als Ki geboren wurde, lag das Siegel doch nicht auf deinem Blut, oder?"
Verwirrt legte meine Mutter den Kopf schief. "Nein, aber nachdem Ki geboren wurde, wurde uns schlagartig bewusst, dass es nötig war und so fragte wir Xavier Gray, ob er uns helfen könnte, was er dann auch getan hat und dich somit schützte."
"Was ist, wenn die Jäger immer hinter den Unversiegelten her sind und deshalb Ki geopfert werden musste? Was ist, wenn sie nun hinter Livvy her sind?"
Schockiert starrte mich meine Mutter an. "Das würde bedeuten, dass die Jäger Teil des Darach-Rudels sind, welche mit Sicherheit Zugriff auf das Internat haben." Sofort lief meine Mutter los. "Gib Tyler und Marcel Bescheid, dass wir zu Lupus Luna fahren. Tyler soll seine Schwester informieren und Marcel ist für die Ankunft der Erben zuständig. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Livvy ist in Gefahr!"

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