Kapitel 94

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"Jetzt beweg' dich!" Genervt drehte ich mich um und lief auf den demotivierten Fuchs auf dem Boden zu. "Du weißt, dass der Weg gar nicht mehr so lang ist und trotzdem machst du es zu einer extrem langen Reise. Was willst du damit bezwecken?" Leicht trat ich nach ihm. Er ließ es einfach nur zu.
"Ich habe nicht danach gefragt, nach Lupus Luna zu gehen." Murmelte er mit seinem starken Akzent in den Boden, auf dem er lag.
"Und ich habe nicht danach gefragt, deine Mutter zu spielen. Ich habe schon alle Hände voll zu tun, wenn es um meine Freunde geht. Ich habe nicht danach gefragt, all meine Zeit damit zu verbringen, dich von deinen Selbstmordversuchen abzuhalten. Und ich habe auch nicht danach gefragt, für dich verantwortlich zu sein, obwohl ich besseres zu tun hätte!" Genervt packte ich Hyaku-Samas Arm und zerrte ihn wieder auf seine Beine.
"Was hättest du denn sonst gemacht? Du bist keine sonderlich starke Kampfeinheit, also was kümmert es den Alpha schon, ob du da bist oder nicht? Du hast nur einen bekannten Namen. Das war's. Letztendlich kannst du nichts, also lass mich einfach liegen und nerv mich nicht mit diesem ganzen Moral-Gehabe." Seine Beine ließen nach und er landete erneut auf dem Boden. Ich hatte aber damit gerechnet, da er mich nicht das erste Mal so beleidigte, weshalb ich ihn nur wieder auf seine Beine riss.
"Was weißt du schon, von meiner Kampfeinheit? Du hast dir nicht einmal in den letzten Monaten die Mühe gemacht, das Blackstorm-Haus zu verlassen. Also frage ich noch mal, warum tust du so, als wüsstest du alles?" Ich zerrte ihn mit und erstaunlicher Weise, kamen wir sogar einige Meter, ehe er wieder stehenblieb. "Warum bist du eigentlich hier, wenn du eh nichts machen willst?"
Hyaku-Sama hielt still. "Ich dachte immer, du wärst der höfliche und freundliche Junge der Gruppe. Warum stellst du so unangebrachte Fragen?" Seine Stimme klang träge und karg an Emotionen, aber ich kannte es nicht anders.
Genervt schnaubte ich aus, packte ihn am Handgelenk und warf ihn leichtfertig über meine Schulter. "Stille Gewässer sind tief. Glaub ja nicht, dass du alles weißt, nur weil du ein paar Kitsune-Kräfte hast, Watanabe Hyaku."
"Warum zerrst du mich überhaupt nach Lupus Luna, Morgan Lawrence?" Er machte keine Anstalt, sich aus meinem Griff zu lösen oder sich von meiner Schulter zu werfen, aber es war trotzdem sehr schwierig, einen ausgewachsenen Mann auf einer Schulter zu tragen.
"Weil du nutzlos bist und nur im Weg stehst. Du wärst keine Hilfe im Krieg und in Lupus Luna kannst du unbeschwert deine Zeit vergeuden, ohne angegriffen zu werden. Auralia und Max haben an einem weiteren Bann gearbeitet, der jeden unerwünschten Gast fernhält."
Hyaku-Sama schnaubte. "Wunderbar."
Ich lief weiter. Ich wollte seine Worte ignorieren, aber ich konnte es auch nicht abstreiten. Ich war nicht unbedingt hilfreicher als er. Wir waren beide Erben mächtiger Familien, aber direkte Fähigkeiten hatten wir nicht, die irgendwie bemerkenswert waren oder einem hätten nützlich sein können. Ich schüttelte den Gedanken ab und lief weiter. Mich trennten nur noch wenige Meter von der ersten Barriere.
"Kann ich euch helfen?" Eine Stimme erklang und hätte mich beinahe aufschreien lassen.
Lachend wand sich Hyaku-Sama auf meiner Schulter. "Hat da jemand etwa Angst in der Dunkelheit?"
Ich reagierte nicht auf ihn, sondern schaute mich nur fragend um. Ich kannte die Stimme nicht und irgendwie schien sie auch aus jeder und keiner Richtung zu kommen. "Was wollt ihr hier?" Erneut erklang die Stimme. Sie war definitiv von einem Mann, aber ich konnte einfach nicht sagen, woher die Stimme kam.
Langsam ließ ich Hyaku-Sama von meiner Schulter sinken und schaut mich um. "Wer bist du?" Ich stellte die Frage sehr lauf, was Hyaku-Sama neugierig werden ließ.
"Redest du jetzt schon mit Geistern?" Lachend setzte er sich in einem Schneidersitz hin und starrte zu mir hoch.
"Ich rede mit jemandem." Ich stutzte. "Kannst du ihn etwas nicht hören?" Verwirrt starrte ich in Hyaku-Samas ahnungslose Miene. Er schien keine Ahnung zu haben, wovon ich sprach. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken herunter.
"Er kann mich nicht hören. Ich habe dafür gesorgt." Nun lachte auch die unbekannte Stimme. Sie schien immer näher zu kommen, aber ich hörte keine Schritte oder einen Herzschlag. Es war einzig und allein eine Stimme, die nur ich vernehmen konnte.
"Hörst du die Stimme nicht?" Fragte ich dann trotzdem panisch. "Sie kommt immer näher!" Ich schaute nicht zu Hyaku. Mein Blick war fest auf die Dunkelheit gerichtet, die immer undurchdringlicher wirkte, je mehr ich in sie starrte.
"Ich sehe nichts. Lass uns einfach weitergehen. Deine Scherze sind ermüdender als zu existieren." Mühselig rappelte sich er Fuchs auf und setzte sich von alleine in Bewegung. "Kommst du?" Fragte er und lief in die Dunkelheit.
"Das ist also der berühmte Erbe der Watanabes?" Die Stimme schien wieder etwas weiter weg. "Er ist irgendwie enttäuschend." Die Stimme klang betrübt, aber es wirkte eher so, als würde sie sich über Hyaku lustig machen.
Hyaku blieb stehen. "Das kann ich nur zurückgeben." Und mit diesem Worten erschien ein Inferno, das Hyaku umschloss. Das helle Licht der Flammen ließ mich meine Augen zusammenkneifen, aber ich konnte deutlich sehen, wie die Dunkelheit abnahm und ich wieder mehr als einen Meter sehen konnte.
Die unbekannte Stimme schrie auf und erklang wieder aus jeder Richtung. Ich roch Blut. Verwirrt schaute ich mich um. Ein leichter Schrei entwich meiner Kehle, als ich merkte, dass ich vor einem Berg von Leichen stand. Es waren junge, alte, mir bekannte und unbekannte Gesichter. Was ist hier los? Mir wurde schlecht. Es war schon schlimm genug, dass es einen Berg voller Leichen gab, aber die Leichen wirkten alle zerstückelt. Es gab kein Wesen, das noch seinen vollständigen Körper hatte. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass meine Vorfahren so etwas als Festmahl angesehen haben.
"Was ist das?" Fragte ich, aber bereute sofort, meinen Mund geöffnet zu haben. Der Gestank drang in meine Nase und ich musste mich übergeben.
"Das sind Leichen, Morgan-Chan." Hyaku wirkte wie ausgewechselt. Er wirkte wachsam, gefährlich und mächtig. Er stand zwar auf Leichenteilen, aber verzog keine Miene.
Ich wollte ihm antworten, dass ich das sehen konnte, aber ich wollte mich nicht noch mal übergeben. Meine Kehle brannte und Tränen verschleierten meine Sicht. Ich hasste den Krieg.
"Wow Sherlock, das ist aber eine fantastische Entdeckung. Ich bin mir sicher, dass das Mo-Chan noch gar nicht aufgefallen ist." Erneut ertönte die unbekannte Stimme und lachte wieder unbeschwert vor sich hin.
"Wer bist du?" Hyaku drehte sich um, aber selbst ohne diese undurchdringliche Dunkelheit konnten wir den Angreifer und Mörder nicht erkennen. Ich wollte mir die Leichteile nicht ansehen, aber ich wusste, was das für Wesen waren. Es waren junge Werwölfe, die von ihren Eltern nach Lupus Luna geschickt wurden, da sie dachten, dass ihre Kinder dort sicher wären. Sie dachten das gleiche wie Olivias Eltern. Ich stockte. Der Schädel eines Kindes rollte auf mich zu und ich konnte deutlich sehen, dass dieses Kind um die zehn Jahre alt gewesen sein musste. Wie konnte er nur?
"Das sollst du mir sagen, kleiner Prinz." Die lachende Stimme erklang aus jeder Richtung. "Ich bin wie die Prinzessin, aber anders. Man kennt mich, aber man will es nicht wahrhaben. Ich bin immer hier, wie die Prinzessin immer bei euch ist. Ich bin mächtiger als die, die alles davon haben, obwohl ich nichts davon besitze, was sie so mächtig macht. Wer bin ich?"
Hyaku verkrampfte sich. "Lawrence, wenn ich dir sage, dass du rennen sollst, dann tu das. Du musst die Barrieren aktivieren. Keiner soll mehr nach Lupus Luna gelangen, solange Gray nicht die Erlaubnis erteilt. Verstanden?" Ich hatte ihn noch nie so ernst erlebt, weshalb ich nur irritiert einwilligte und mich sofort zum Sprinten bereit machte.
"Oho, hast du das Rästel etwas schon gelöst. War es denn so offensichtlich?" Die Stimme klang enttäuscht, aber auch gleichzeigt erfreut. "Dann nenne mir deine Antwort. Wenn du falsch liegst, bekomme ich dein und sein Leben. Wenn du richtig liegst, zeige ich mich und lasse ihn laufen. Wie findest du das?" Die Stimme schien nun direkt vor Hyaku zu sein.
"Du willst wie unsere Prinzessin sein? Das ich nicht lache. Du magst vielleicht älter sein, als die meisten Kitsune auf dieser Erde, aber du wirst dich niemals mit ihr messen können." Langsam hob Hyaku seine Hand und ließ sie in der Luft schweben.
"Nicht? Es ist tragisch, dass du so denkst, da ich mal all ihre Schüler auslöschen konnte. Selbst diejenigen, die schon Jahrhunderte unter sie trainiert haben. Ich denke schon, dass ich einiges zu bieten habe." Ein Schatten erschien direkt vor Hyaku und dieser Schatten packte seine Hand, als würden sie sich begrüßen.
Hyaku stoppte. "Du warst es also, der Himikos Vertraute ausgelöscht hat?" Himiko? Wer soll das sein?
"Wie lautet deine Antwort?" Drängend zerrte der Schatten an Hyakus Arm.
"Wenn ich seinen Namen sage, läufst du. Hast du verstanden, Lawrence?" Ich nickte, aber da er sich nicht zu mir drehte, wusste ich nicht, ob er meine Zustimmung mitbekommen hatte. "Du bist ein verbannter Fuchs. Eine Kitsune, die niemals einen Schweif erhalten hat, egal wie sehr sie dafür trainierte oder wie viel Blut, Schweiß und Tränen sie dafür gegeben hat. Du bist eine Anomalie unserer Welt und trotz des Fehlens deiner Schweife, bist du mächtiger als die meisten von uns. Du bist ein Nogitsune. Du bist Mononoke."
Als er diesen Namen sagte, rannte ich los. Ich wusste nicht so genau, warum, aber aus irgendeinem Grund jagte mir der Name Mononoke eine heiden Angst ein. Ich rannte um den Leichenberg herum und konnte sehen, wie sich aus dem Schatten eine Gestalt bildete. Sie schien von einer dunklen Materie umgeben zu sein. Das schlimmste an der Situation war aber eigentlich, dass aus dieser dunklen Materie und hinter seinem schwarzen Haar ein Paar strahlend blauer Augen starrte, die schon fast einer heißen Flamme ähnelten. "Mo-Chan, richte den Darachs aus, dass mein Vertrag mit ihnen endet. Ich habe ein neues Spiel gefunden." Diese Worte rief Mononoke mir zu, als ich seine Höhe erreichte. Seine Stimme, seine Präsenz, seine Art und das Wissen, das ich über ihn erlangt habe, versetzten mich in Angst und Schrecken, aber ich hielt nicht an.
Ich durchdrang die erste Barriere und lief schneller, als ich es je für möglich gehalten hätte. Dieser Fuchs schien sich hinter einer dunklen Materie verstecken zu können, die seine Mordlust, seinen Herzschlag und seine gesamte Anwesenheit verschleiern konnte. Das machte ihn zu einem unglaublich gefährlichen Gegner. Ich darf ihn auf keinen Fall nach Lupus Luna lassen, sonst werden all diese unschuldigen Wesen ihr Ende finden.

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