Sachte klopfte ich an die Tür. Ich war nervös, obwohl ich darauf vorbereitet war, jede erdenkliche Antwort von Lady Silverstone zu erhalten. Als ich jedoch keine Antwort erhielt, schaute ich unsicher zu Marco. "Bist du dir sicher, dass sie im Büro ist?"
Überlegend kratzte er sich am Hinterkopf. "Eigentlich ist sie da immer. Sie bewegt sich kaum aus ihrem Büro heraus, einfach weil sie viel zu beschäftigt ist. Mich würde es wundern, wenn sie nicht da wäre." Entschlossen trat er an die Tür heran und klopfte selbst etwas energischer an das Holz. Aber auch dieses Mal erhielten wir keine Antwort. "Was soll's?" Und mit diesen Worten stieß er die Tür einfach auf, was mich schockiert zusammenzucken ließ.
Das Zimmer war riesig und mit unglaublich vielen Büchern gefühlt. Das Zimmer wirkte wie ein Turm und mittendrin saß Lady Silverstone mit einem platinblonden Schopf und müden grauen Augen. "Habe ich gesagt, dass ihr das Zimmer betreten dürft?" Genervt legte sie einige Notizen beiseite und richtete sich auf. "Ich habe keine Zeit dafür. Verschwindet oder es gibt einen Verweis."
"Tante Penny-" Zögernd betrat Marco das Zimmer, was Lady Silverstone nur wütender werden ließ.
"Ich sagte, ihr sollt verschwinden!" Wütend sprang sie auf, was ihren Stuhl umfallen ließ, auf dem sie saß. Doch das schien ihr vollkommen gleich zu sein. "Ich habe keine Nerven dafür. Bitte geht einfach." Ihre Stimme klang harsch, aber das unterschwellige Flehen sorgte dafür, dass sich ein Kloß in meinem Hals bildete und ich nur mit Mühe vortreten konnte.
"Nur, wenn sie mir meine Frage beantworten." Sagte ich dann doch und trat entschlossen vor. Marco überschritt in diesem Moment seine Grenzen für mich. Er hatte ein ziemlich schlechtes Verhältnis mit seiner Tante und hätte im Normalfall niemandem widersprochen. Aber nun stand er in diesem riesigen Zimmer und stellte sich gegen die Wünsche und Befehle seiner eigenen Tante und Direktorin.
Entnervt schnaubte sie, was mehr nach einem Knurren als Schnauben klang. "Was will die Blackstorm-Prinzessin denn von mir?"
"Wussten sie davon?" Ich ignorierte ihren verächtlichen Tonfall und zog einen Zettel hervor. Es waren die Ergebnisse meines Testes und zeigten, dass ich in das falsche Haus eingeteilt wurde. "Wussten sie, dass mein Zwillingsbruder kein Werwolf ist? Wussten sie, dass Isabelle Reddinson in das Haus der Kitsune gehört? Wussten sie darüber bescheid, dass meine Eltern einfach über unser Leben entschieden haben?" Ich wusste, dass ich mich kontrollieren sollte, aber der Gedanken daran, dass man mir die Entscheidung und Wahrheit genommen hatte, machten mich rasend vor Wut. Hatte ich denn nicht das Recht, die Wahrheit zu erfahren, wenn es hierbei um mein eigenes Leben ging?
Doch Lady Silverstone starrte nur auf den Zettel. Ich hatte zwar für eine Sekunde ein Zucken ihrer Muskeln bemerkt, das auf Schock oder Überraschung hinweisen ließ, aber es war so schnell wieder weg, dass es auch Einbildung oder Wunschdenken hätte sein können. "Ich wusste nicht, dass ihr in diese Häuser hättet kommen sollen. Aber ich weiß, dass dein Bruder kein Werwolf ist."
Überrascht ließ ich den Arm sinken. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie mir so schnell antworten würde. Doch Marco trat an den Tisch heran und starrte ihr energisch in die grauen Augen, die seinen so ähnelten. "Wenn du sagst, du hättest nichts von den eigentlichen Häusern gewusst, bedeutet es dann, dass du auch nichts von der falschen Einteilung wusstest?"
Bei diesen Worten kniff Lady Silverstone die Augen zusammen und erwiderte den energischen Blick. "Deine Auffassungsgabe ist nicht zu unterschätzen."
"Beantworte Olivia ihre Frage."
Sofort ließ sie von ihrem Neffen ab und starrte zu mir. Ich hatte vorsichtig die Tür geschlossen, da es ein sehr intimes Gespräch war, aber ihr Blick ließ mich diese Entscheidung überdenken. Wollte ich wirklich mit einem Wolf in einem Zimmer sein, der mich anstarrte, als würde er mich gleich reißen wollen? "Vor einigen Monaten kam dein Vater auf mich zu und bat mich darum, die Tests bei seinen drei Kindern ausfallen zu lassen. Ursprünglich wollte ich das nicht, aber er ließ es nicht sein. Er kam immer und immer wieder auf mich zu, bedrohte mich gelegentlich und bestach mich mit diversen Dingen, aber er bot mir nie das an, was ich eigentlich wollte, eine ganz simple Erklärung. Doch diese habe ich nie erhalten. Als deine Mutter dann schließlich auf mich zukam, wusste ich, dass es etwas ernstes war und so sortierte ich dich und deine Schwester in das Blackstorm-Haus. Deinen Bruder ließ ich aus gesundheitlichen Gründen an das Internat. Ich wusste von deiner Krankheit, weshalb mir das leichter fiel als die Einteilung."
Entgeistert starrte ich die Direktorin an. Selbst meine Mutter hatte bei dieser Lüge mitgespielt? Wieso konnte nicht eines meiner Familienmitglieder ehrlich zu mir sein? Jeder verheimlichte etwas oder belog mich. Ich war es langsam satt.
"Aber sie wissen nicht, warum das alles geschehen ist?" Konzentriert starrte ich auf meine Füße. Ich konnte sie nicht ansehen. Ich wollte nichts mehr mit Leuten zu tun haben, die mich belügen oder mir etwas verheimlichen, auch wenn sie meine Vorgesetzten waren. Ich wusste zwar, dass sie sich nicht gegen die Bitten eines Alphas hätte stellen können, aber es schmerzte trotzdem.
Ich ging davon aus, dass sie den Kopf schüttelte, als keiner etwas sagte. Doch ehe es noch unangenehmer wurde, entschloss sich Marco etwas zu sagen. "Tante Penny, was ist damals zwischen dir und meiner Mutter geschehen?"
Schockiert riss ich meinen Kopf in die Höhe und auch Lady Silverstone, die während meines Gespräches vollständige Kontrolle über ihre Gesichtsausdrücke hatte, starrte ihren Neffen schockiert an. In ihren grauen Augen spiegelte sich nicht nur Schock und Überraschung wieder, sondern auch Angst und Schmerz. "Was meinst du?" Fragte sie heiser.
"Ich weiß, dass du etwas von meiner Mutter wolltest und deshalb in dieses Internat verbannt wurdest, da es Zwietracht in die Reihen der Silverstones brachte. Aber warum solltest du so etwas tun?" Zum Ende hin wurde er immer leiser. Ich war überrascht, da ich den unsicheren Jungen von damals kaum noch wiedererkannte.
Doch Lady Silverstone schwieg. Sie starrte nur mit einem unendlichen Schmerz in die Richtung ihres Neffens. Langsam schloss sie die Augen und ließ sich in ihren riesigen schwarzen Sessel fallen, der im starken Kontrast zu ihren platinblonden Haaren stand, welche einen grauen Ton besaßen. "Multiperspektivisch." Hauchte sie dann schließlich und ich wusste, dass sie diese Tonlage nur annahm, da ihre Stimme sonst gebrochen wäre und wir ihren tiefen Schmerz gehört hätten.
Marco und ich schwiegen. Wir wussten, was das bedeutet. Jede Geschichte besitzt mehrere Gesichter. Eine Geschichte kann aus einer anderen Perspektive erzählt werden und somit eine ganz neue Richtung einschlagen, da es immer mehrere Wahrheiten gibt. Es gibt nie die eine und wahre Antwort. Jeder besitzt eine eigene Perspektive und Auffassung der Wahrheit. Ich war mir nur nicht sicher, ob sich das auf Lady Silverstone bezog oder sie auch ihren Bruder und ihre Geliebte meinte.
"Wenn ich euch die Wahrheit sage, verschwindet ihr dann?" Fragte sie nach Minuten des Schweigens und wir stimmten im Unisono zu. Wir merkten, wie sehr die Frau litt und wollten es daher nicht weiter strapazieren. "Lady Beaumon war deine Mutter und auch der Erbe der Kojoten. Sie war nicht der Mate deines Vaters, sondern mein Mate. Da wir beide jedoch Frauen waren und wir niemals Kinder hätten bekommen können, gab es eine Zwangshochzeit, die deine Mutter nie verkraftete und am Ende sich das Leben nahm." Eine einzelne Träne streifte ihre Wange und in ihrer Stimme schwang unendlicher Schmerz mit.
Wir wussten nicht, was wir hätte sagen sollen. Sie hatte ihren Mate und dann ihre Familie verloren und das nur, weil sie eine Frau liebte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sich Marco fühlen musste, da ihm das selbst passieren könnte. Auch er könnte einfach verstoßen und verbannt werden, da er einen anderen Mann liebte. Dabei war doch nichts dabei.
"Es tut mir leid." Dumpf ertönte Marcos Stimme und das erste Mal seit Wochen fühlte ich etwas anderes als meinen eigenen Schmerz. Ich hatte mich nur darauf konzentriert, meinen Bruder und jeden, der mich verraten, belogen oder betrogen hatte, zu verachten, aber hatte nie in Erwägung gezogen, dass jemand anderes neben mir leiden könnte. Ich bin davon ausgegangen, dass ich den größten Schmerz empfand, da ich mich niemandem mehr anvertrauen konnte, aber das stimmte nicht. Es gab genug Personen, die ebenfalls litten und ich hatte es nicht gesehen. Ich habe nicht gesehen, wie sehr Alexandra und Lawrence unter Leons Verhalten litten, wie ausgeschlossen sich Isabelle fühlte, wie sehr Marco noch unter seiner Erziehung litt oder wie verloren Christopher war. Ich hatte meinen Schmerz an erster Stelle gestellt und das war mein Fehler. Ich bin das Kind eines Alphas. Meine Aufgabe ist es nicht, vorne an vorderster Front mein Rudel anzuführen, sondern hinten darauf zu achten, dass niemand zurückbleibt und wir als ein Rudel, als eine Familie überlebten. Doch meine Ignoranz ließ mich erblinden. Aber das sollte nun enden!
"Niemand sollte alleine leiden. Sie haben Jahre lang zurückgezogen in diesem Zimmer gelebt und für sich den Schmerz ertragen, aber das soll nun enden. Vor ihnen steht der Erbe ihrer Geliebten. Wenn sie nicht für sich leben können, dann tun sie es für diejenigen, die sie leben sehen wollen. Marco liebt sie und würde sie niemals alleine lassen. Stoßen sie ihn nicht von sich." Vorsichtig trat ich an Marco heran und legte sanft meine Hand auf seine Schulter.
"Das weiß ich doch." Lachend hob Lady Silverstone ihren Kopf und schenkte mir ein einsames Lächeln. "Ich liebe meinen Neffen und meine Nichte, aber es wäre schön gewesen, wenn ich auch nur einen Moment in Frieden mit Hannah hätte leben können."
"Lady Silverstone, werfen sie die Kinder raus!" Mit einem lauten Knall flog die Tür auf und unser Lehrer Vincent Brown stand mit vier Kindern und einem furiosen Gesichtsausdruck in der Tür.
DU LIEST GERADE
If I hadn't met you
WerewolfVerstehst du denn nicht, dass es die einzige Chance ist? Töte ihn und ich komme zurück. Töte ihn und ich kümmere mich um das Rudel. Töte ihn und wir werden diesen Feind ein für alle mal los. Es spielt jetzt auch keine Rolle mehr... auch wenn er dein...