Kapitel 100

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Erschöpft rieb ich mir meine Augen. "Bist du müde?" Das Gesicht meines Bruders schnellte in mein Sichtfeld. Ich wusste immer noch nicht, wie ich damit umgehen sollte. Es war, als würde ich in einen Spiegel sehen, nur mit dem Unterschied, dass wir unterschiedliche Augenfarben und verschiedene Haarschnitte hatten.
"Ich... ich muss das immer noch erstmal verarbeiten. Es ist erst wenige Stunden her, seitdem ich die Wahrheit erfahren habe. Ich brauche noch Zeit." Ich wollte ihn von mir drücken, aber er blieb standhaft und starrte mich weiterhin von unten an.
Es war komisch. Obwohl er oder vielmehr seine Gruppierung, das Darach-Rudel, immer als unsere Erzfeinde bezeichnet wurden, das grausam und krupellos sein soll, war er so unglaublich fürsorglich und liebevoll. Ich hatte erst gedacht, er würde mich nur als eine Gefangene sehen, aber die wenigen Stunden, die ich in dieser Basis ohne Orientierung oder Wissen verbracht habe, war er an meiner Seite und hat mich beschützt.
"Das wird schon. Ich an deiner Stelle wäre auch sehr verwirrt. Man hat immerhin dein Leben lang behauptet, wir wären der Feind. Von so einer Meinung oder Einstellung wegzukommen, ist nicht einfach, aber wir schaffen das schon." Langsam stand Leonard aus seiner Hocke auf und legte einen Arm um mich. "Soll ich dich etwas herumführen?"
Ich nickte langsam. Ich hatte bis jetzt noch nicht viel gesehen. Nachdem ich mich dafür entschieden habe, den Darachs zu folgen, wurde Jiaki von Zolin Alvizo überwältigt und mit Mictlans Hilfe zu der Basis gebracht. Ich wusste nicht, wo sich die Basis befand, da sie mir die Sicht für eine Zeit genommen haben. Ich konnte das aber verstehen. Warum sollte man mir einfach so derartige Informationen geben, wenn man nicht sicher sein konnte, dass ich wirklich auf ihrer Seite war?
"Wir haben viele Verbündete, da wir für viele verschiedene Dinge stehen. Für jeden Außenstehenden sind wir vermutlich nur eine Gruppe von Terroristen oder Mördern, aber wir sind viel mehr. Wie du vielleicht mal gehört hast, werden wir angeführt von den Drei Königen." Leonard, mein wahrer Zwillingsbruder, zog mich aus dem Zimmer, in dem ich eine Weile verbracht habe und zog mich durch den Gang. Er war sehr leer und ziemlich lang. Ich spürte keine Windzüge oder roch den Geruch frischer Nachtluft. Es roch in den Gängen irgendwie erdig und war erstaunlich warm. Wir befanden uns wohl im Untergrund.
"Ist Zolin auch einer der Drei Könige?" Fragte ich ihn, aber schaute ihn nicht an. Wir liefen an vielen verschlossenen Räumen entlang und nur einer davon war leicht geöffnet. Natürlich wollte ich wissen, was sich darin befindet.
"Das ist richtig. Die anderen beiden sind Levi Michaels und Jason- was machst du denn da?" Verwirrt blieb er stehen, als er merkte, dass mein Kopf zur offenen Tür gerichtet war. "Lass das." Er zog an mir. Auch wenn seine Bewegung ziemlich klein war, konnte er mich mit einer schockierenden Kraft von meinen Füßen zerren. Irritiert taumelte ich neben ihm hin und her.
"Was sollte das?"
"Das frage ich dich." Der Klang seiner Stimme ließ mich aufschauen und als ich seine Augen sah, hielt ich die Luft an. Ich kannte zwar schon die verschiedensten Ausdrücke in Alphaaugen, da ich viele Geschwister habe, aber dieser Ausdruck war so erschreckend. Es war, als könnte er direkt in meine Seele starren und mir Befehle auftragen, die gegen jede meiner Moral gehen. Er wirkte nicht wütend, aber ich wollte auch gar nicht wissen, wie das aussehen würde, da dieser drängende Ausdruck schon das Blut in meinen Adern gefrieren ließ.
"Ich-" Fing ich stotternd an. Ich fand einfach nicht die richtigen Worte. Der Rotton hypnotisierte und schockierte mich zugleich.
Als er das merkte, verschwand das Rot sofort und seine blauen und schwarzen Augen erschien wieder. "Tut mir leid. Ich wollte dich nicht schockieren." Und tatsächlich erschien ein ehrlicher entschuldigender Ausdruck in seinen Augen. "Es ist nur so. Wir befinden uns im Abteil der Naguals, da ich von Zolin und Mic begleitet wurde. Ich wollte eigentlich zu den Werwölfen, aber es stand zwei zu eins für sie, also konnte ich eher weniger was dagegen tun."
Zögernd hob ich meine Hand und hielt mich an der Schulter meines Bruders fest. "Schon gut. Deine Augen machen mir nur Angst. Aber sind wir nicht Naguals? Warum solltest du mich wegbringen müssen? Wir sind doch eine Spezies."
Seine Lippen zuckten. "Es ist nicht ganz so einfach. Naguals standen früher an der Spitze der Nahrungskette. Naguals und Wendigowak waren früher die mächtigsten Wesen auf dem Planeten, bis sie beinahe ausgerottet wurden. Naguals konnten sich aufgrund ihrer Fähigkeiten noch einigermaßen über Wasser halten, bis sie dann zu einer Trophähe wurden."
Ich wich von ihm weg. "Unsere Großeltern!"
Überrascht sah er auf. Ich wusste nicht, ob er überrascht war, weil ich mich aus seinen Armen gedrückt habe oder weil ich vom Schicksal unserer Großeltern wusste. "Das stimmt..." Misstrauisch hob er eine Augenbraue. "Wer hat dir von ihnen erzählt?"
Ich kniff meine Augen zusammen. "Unserer Mutter. Woher weißt du davon?"
"Von Zolin."
Ein Schauer jagte über meinen Rücken. "Ich mag ihn nicht."
Schockiert zuckte Leonard zusammen und presste halb rennend eine Hand auf meinen Mund. "Sag das niemals! Hör mal, Naguals sind ziemlich schwierige Zeitgenossen. Ich wollte dir eben schon erklären, dass die Darachs für verschiedene Dinge einstehen und dazu gehört auch die Gerechtigkeit der Naguals." Besorgt schaute er sich um. "Komm mit."
Er zog an meinem Arm und zog mich aus dem stickigen Gang heraus. Wir gelangten an eine schwere Metalltür, die Leonad mit Leichtigkeit aufdrückte und mich in einen helleren Gang zog. Ich ließ das alles zu, da er immerhin besser Bescheid wusste als ich.
"Okay, hier sind wir sicher." Er ließ die Tür hinter uns zufallen und atmete erleichtert aus. "Das ist der Gang unseres Hybridenkönigs. Hier befinden sich oft sehr wenig Wölfe, weshalb man sehr unbeschwert reden kann."
"Warum bist du so angespannt? Was wäre denn so schlimm daran, wenn uns die Naguals hören würden? Wir sind doch einer von ihnen."
Leonard schüttelte den Kopf, kam auf mich zu und nahm meinen Arm. "Da du das Schicksal unserer Großeltern kennst, kann ich dir das ja alles ganz einfach erklären. Nachdem die Naguals in die Ecke gedrängt wurden, entwickelten sie immer bessere Methoden, sich zu verstecken oder zu verteidigen. Damit machten sie es ihren Feinden immer schwerer, sie zu finden. Um die Naguals und ihre gefürchteten Fähigkeiten auszulöschen, wurden sie alle für vogelfrei erklärt. Aus diesem Grund wurde ihr blaues Fell zu einer Rarität und beliebte Trophäen für Jäger. Auch unsere Großeltern konnten diesem Schicksal nicht entkommen. Vermutlich wäre unsere Mutter auch sehr verbittert geworden, wenn sie Peter nicht kennengelernt hätte. Viele der Naguals hier im Darach-Rudel haben ihre gesamte Familie an diese Jagden verloren und hassen deshalb die Blackstorms. Unsere Vorfahren sind nämlich dafür verantwortlich, dass die Naguals und Wendigowak ihren Platz in der Welt verloren haben. Die Blackstorms sind praktisch daran schuld, dass sie leiden mussten. Wir mögen vielleicht Nagual-Blut in den Adern haben, sind aber immer noch Werwölfe, die sie hassen."
Entgeistert starrte ich ihn an. Ich war es wirklich leid, für alles und jeden Mitleid aufzubringen. "Sie hassen uns, zwei Verbündete, für etwas, das unsere Vorfahren vor Hunderten von Jahrengetan haben? Bruder, wir haben nichts damit zu tun. Wenn ich mich richtig daran erinnere, mussten wir genauso leiden wie sie. Es kann doch nicht sein, dass Unbeteiligte für die Sünden ihrer Vorväter bezahlen müssen."
Leonard starrte mich an. Ich starrte ihn an. Dann lachte mein Bruder. "Das stimmt, es ist ziemlich dämlich, aber wenn jemand nur für die Rache lebt, kann man dem nicht mit einer solchen Logik kommen."
"Hör auf! Wir alle haben eine tragische Geschichte. Ich kenne niemanden, der nicht in einer Art oder der anderen gelitten hat. Die sollen sich nicht so aufspielen, als wären sie die einzigen Opfer. Lass mich raten, Zolin hat ebenfalls seine gesamte Familie verloren und hat sich deshalb selbst zum König der Naguals erklärt und seine eigene Gerechtigkeit gelten lassen, weil ihm genug folgen, richtig?" Ich wollte nicht genervt klingen, aber ich war das ganze Mitleidsgehabe leid. Ich habe meine Gefühle und Probleme hinter jeder möglichen Fassade versteckt, da es meine Probleme waren. Wenn ich nicht damit klarkommen konnte, wie sollte das dann jemand anderes verarbeiten können?
Leonard starrte mich an. Er starrte ganz schön viel. "Es ist viel besser, dass ich dich aus diesem Gang gebracht habe. Wenn sie das gehört hätten, wärst du jetzt Hackfleisch. Für sie spielt es keine Rolle, ob du der Schlüssel der Hybriden bist oder irgendein Straßenköter. Sollte man ihr Schicksal oder ihren König beleidigen, würden sie auch einen der Drei Könige ermorden, selbst wenn es Zolin selbst wäre."
Als ich nicht reagierte, lachte er nur leicht und zog mich durch den Gang. Er war um einiges heller, was vielleicht daran lag, dass er nicht so dreckig wirkte. Es ergab aber auch Sinn, da Leonard behauptete, die Werwölfe seien nicht oft im Haus. "Warum ist hier kaum jemand?"
Leonard drehte sich nicht um, als ich ihm die Frage stellte. Er lief nur weiter, bis er an eine weitere schwere Stahltür gelangte und stieß diese auf. "Da es noch keine Hybriden gibt, leben hier auch keine. Sobald die Darachs die Formel für das Hybridensiegel gefunden haben, wird der Ort mit Hybriden volllaufen."
Ich schaute noch einmal in den Gang, der nach nichts roch und ließ ihn dann hinter mich. "Wofür stehen denn die Hybriden? Wenn die Naguals Rache für ihren Untergang wollen, wofür stehen dann die Hybriden, die noch nicht existieren?"
Leonard schwieg eine Weile, bis er mit den Schultern zuckte. "Das weiß ich nicht so genau. Der König der Hybriden ist mir auch ein Rätsel. Ich weiß nur, dass die Familie der Hybriden ursprünglich unsere Welt einigen sollten, aber die Blackstorms ihnen zuvor kamen und eine gefährliche Spezies, die Chimären, in die Welt gesetzt haben, die sie nun auslöschen müssen."
Leicht musste ich lachen. "Die Blackstorms sind hier nicht sonderlich beliebt, kann das sein?"
"Das stimmt. Sie mögen zwar in den Augen der Welt des Lichts eine noble Familie sein, aber wer die Geschichte kennt, weiß, dass sie nur Chaos in die Welt gebracht haben. Durch sie sind so viele andere Spezies untergegangen oder haben ihr Ende gefunden. Natürlich wisst ihr nichts davon, da der Status der mächtigen Blackstorms dann in Frage gestellt werden könnte und das wollten sie nicht." Er sprach von den Blackstorms so, als würde er mit ihnen rein gar nichts persönlich zu tun haben. Es ergibt natürlich Sinn, da er sein Leben als ein Darach verbracht hat, aber es war trotzdem komisch, so was von jemandem zu hören, der das eigene Gesicht trug.
"Und was wollen die Darachs?" Sofort verkrampfte sich Leonards Hand. Das rief meine Neugier. "Sie haben mich vor ungefähr elf Jahren entführt und an mir herumgeschnippelt, als wäre ich irgendeine Spielfigur. Sie haben mich Wochen lang gefoltert und traumatisiert, nur um mich am Ende laufen zu lassen. Ich gehe davon aus, dass es den Hybriden helfen sollte, aber was haben die Darachs mit den Hybriden zu tun?"
"Das kann ich dir nicht sagen." Mein Zwilling zischte diese Worte, als seien sie verbotene Schriften. "Ich kann dir auch nur bestätigen, dass es für das Hybridengen war. Wie man es aktiviert, weiß ich auch nicht. Ich weiß nur, dass Levi das gesamte Wissen dieser Welt an sich reißen möchte, aber er ist selbst ein sehr junges Mitglied der Darachs. Was die ursprünglichen dunklen Druiden hier wollen, weiß keiner so genau. Ich wollte es mal in Erfahrung bringen, aber sie haben unglaublich giftig reagiert. Eine Gruppe junger Darachs hat mich bewusstlos geprügelt und so verflucht, dass ich vier Wochen paralysiert war und teilweise eine Amnesie hatte. Lass das Thema einfach fallen. Mit den Darachs sollte man sich selbst hier nicht anlegen."
Das ist natürlich ungünstig, da ich grade bei ihnen wissen wollte, was ihr Plan war. Sie haben mir meine Kindheit und Jugend genommen. Hier und jetzt schenke ich ihnen meine Zukunft, also würde ich doch schon gerne wissen, was sie von mir wollten, wenn es nicht die Geburt der Hybriden war. "Was machen wir eigentlich?"
Ich wollte ihn das schon die ganze Zeit fragen. Wenn er nichts sagte und nur schwieg, versank ich zu sehr in meinen eigenen Gedanken. Jedoch reagierte er auf diese eine Frage nicht, was mich unglaublich nervös werden ließ. Wenn er nichts sagte, überdachte ich meine Entscheidung. Ich hinterfragte dann, ob er mich nicht auch angelogen hat. Ich frage mich, ob es nicht ein Fehler war, meine Familie zu verraten, aber dann wiederum haben sie mich mein Leben lang verraten und belogen. Ich hatte dort niemaden, an den ich mich wenden konntr und hier hatte ich Leonard. Man kann das Aussehen zwar fälschen, aber ich glaubte nicht daran, dass sie Kitsunes auf ihrer Seite haben. Und selbst wenn er mich anlügen sollte, war er dennoch hier. Eigentlich war es mir egal, wer dieser Mann an meiner Seite war. Ich war es leid, auf ehrliche und wahre Beziehungen zu hoffen, die am Ende eh alle Lügen waren. Da war mir eine Beziehung lieber, bei der ich sofort mit Zweifel und Verdacht auf Verrat einsteigen konnte, da ich dann nicht enttäuscht werden kann.
Nach einer Weile wurde es immer kälter. Ich hatte das Gefühl, dass wir noch weiter in den Untergrund stiegen und mit jedem Schritt wurde es auch immer kälter. Ich hinterfragte es nicht mehr, bis wir an einem Gelände ankamen. Als ich näher trat und herunterschaute, konnte ich eine weite und tiefliegende Arena entdecken, die einen sandigen Boden besaß.
Sofort reagierte mein Bruder auf meine unausgesprochene Frage. "Das ist für Kämpfe und Machtdemonstrationen. Außerdem ist es der Wunsch von Mics Mate gewesen, eine Arena für Duelle zu errichten, damit sie trainieren und Erfahrungen sammeln kann."
Ich ließ von der Arena ab und folgte Leonard, der schon am anderen Ende des Raumes stand. "Mictlan hat seinen Mate schon gefunden?" Ich kannte diesen Jungen wirklich nicht. Mein Leben lang dachte ich, er wäre mein Zwillingsbruder, der Mann, der mir am nächsten stehen würde, aber wie sich herausstellte, war das alles eine Lüge. Ich kannte Mictlan, meinen eigenen Neffen, überhaupt nicht. Leonard nickte jedoch nur beiläufig und blieb vor einem Zimmer am Ende des letzten Ganges stehen. Es wirkte wie eine Sackgasse. "Ich hoffe, dass es kein Fehler ist."
Ich legte verwirrt meinen Kopf schief, als ich bei ihm angekommen bin. "Was meinst du?"
"Wir befinden uns hier in der Brutkammer des Schreckens. Okay, nein. Es ist das Labor der Darachs. Hier bewahren sie ihre Experimente auf und forschen an ihnen. Es dient aber auch als Gefängnis und Kerker von Gefangenen und Feinden. Mir wurde empfohlen, dich zu ihr zu lassen, damit du dich mit ihr aussprechen kannst."
Ich verkrampfte mich. "Dir wurde empfohlen, mich zu IHR zu schicken?" Ich wollte gar nicht so verhasst klingen. Ich war schockiert, als ich einen unendlichen Hass und eine tiefgreifende Abneigung in meiner eigenen Stimme vernehmen konnte. Aber war es unbegründet?
"Willst du denn nicht? Wir können auch wieder hochgehen. Das ist kein Problem." Er wirkte etwas besorgt und auch panisch, als er merkte, dass ich nicht sonderlich angetan von dieser Idee war.
Meine Hand schoss vor und ergriff seine Schulter. "Ist schon gut. Lass mich zu ihr. Ich werde mit Jiaki reden."

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