Kapitel 111

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Ich vernahm ein Tropfen. Es war nicht unbedingt laut, aber es war konstant. tropf, tropf, tropf. Immer wieder durchdrang dieses Geräusch die Stille. Ich war zu erschöpft, meinen Kopf zu heben. Meine Arme fühlten sich unglaublich schwer an und dieses Tropfen machte mich verrückt. Wo kam das her und warum was es so viel?
"Du siehst scheiße aus!" Überrascht hob ich meinen Kopf und bereute es sofort. Mein Kopf dröhnte und als ich mich zu schnell bewegte, drehte sich alles. Meine Sicht verschwamm und ich konnte nur sagen, dass sich Leonard vor mir befand, weil ich seine Stimme erkannte. Mit verschränkten Armen stand er einige Meter von mir entfernt.
"Wasser." Hauchte ich. Meine Stimme versagte und erst jetzt bemerkte ich, wie hungrig und durstig ich eigentlich war. Wie lange war ich hier schon eingesperrt?
"Tut mir leid, Prinzessin. Ich kann dir leider kein Wasser bringen. Es ist verboten." Er kam etwas näher, aber wagte es nicht, in meine Reichweite zu gelangen.
"Wieso tut ihr das?" Meine Stimme hörte sich so an, als wären meine Stimmbänder über Schleifpapier gezogen worden. Mir tat alles weh und ich konnte einfach nicht erkennen, was hier los war. Der Raum sah sehr weiß aus, aber da eh alles verschwommen wirkte, konnte ich das nicht mit Sicherheit sagen.
"Wieso fragst du das so oft? Wir wollen die Hybriden haben. Wir finden aber einfach keine Möglichkeit, das Gen vollständig zu aktivieren. Streng dein Gehirn etwas an, damit wir vorankommen. Die Allianz wurde zerschlagen. Es wäre unglaublich peinlich, wenn wir so lange brauchen würden, die Welt zu übernehmen." Mit lauten Schritten kam er näher. Jeder Schritt hallte in meinen Ohren wie Donner wieder.
"Wieso musstest ihr mich dafür einsperren? Ich hätte das auch frewillig mit euch zusammengearbeitet." Ich hörte mich husten und musste sagen, das ich seinen angewiderten Blick verstehen konnte. Raucherhusten klang dagegen wie sanfte Musik.
"Glaubst du das ernsthaft? Livvy, wir vertrauen dir kein bisschen. Wir wissen, dass das alles nur eine einzige Lüge war. Wir wissen, dass du uns nicht wirklich beigetreten bist. Glaubst du wirklich, dass wir so dumm sind?"
Ich schüttelte langsam meinen Kopf, was ein Fehler war. Lernte ich denn nicht? "Ich bin auf eurer Seite! Ich will auch die schwarzen Wölfe ausrotten! Ich bin doch deine Zwillingsschwester?"
Sein Lachen fiel mir beinahe ins Wort. "Jetzt plötzlich ist es dir wichtig, dass wir Zwillinge sind? Vor vier Monaten wolltest du das nicht mal von mir hören. Du hast mich sogar geschlagen, wenn ich nur über diese Tatsache nachgedacht habe. Und jetzt willst du mir sagen, dass es dich kümmert?"
"Willst du mir etwa sagen, dass es dir Spaß macht, mich so zu sehen? Gefällt es dir, dass ich leide und mich nicht bewegen kann. Wir sind eine Familie! Wie konntest du mir antun, dass ich wieder diesen unendlichen Schmerz spüren musste? Wieso hast du mir das angetan?!" Ich merkte, dass meine Stimme immer lauter wurde, aber ich wollte es nicht, da es mit jeder Lautstärker immer schmerzhafter wurde.
"Ist dir jemals in den Sinn gekommen, dass es mich nicht kümmert? Ich bin mir ziemlich sicher, dass dich Jason gewarnt hat. Er hat dir bestimmt gesagt, dass du dich von mir fernhalten solltest. Er hat überhaupt nicht unrecht. Zolin ist mein Vater. Er hat mich großgezogen und mir alles gezeigt, was ich weiß. Familie bedeutet mir gar nichts. Du willst einen Bruder, der dir hilft? Was war mit mir, als ich mit vier meinen ersten Mord begang? Was war mit mir, als ich beinahe mit sieben zu Tode geprügelt wurde, weil ich eine Leiche nicht richtig vergraben habe? Was war mit mir, als ich nach Stunden der harten Arbeit nicht mehr genug Kraft hatte, gegen Zolin anzukommen und deshalb Wochen ausgehungert wurde? Was war mit mir, als mir mein Vater zeigte, wie man einen anderen Werwolf häutet? Wo war meine geliebte Zwillingsschwester, als ich von den Männern meines ach so geliebten Vaters vergewaltigt wurde und das für Stunden, wenn nicht sogar Tage? Sag mir, Schwester, wo war meine Familie, die mir hätte beistehen sollen?"
Er wurde nicht laut. Er wirkte auch nicht wütend oder entsetzt, verletzt oder traurig. Seine Fragen klangen vielmehr danach, als würde er fragen, ob wir uns morgen treffen könnten. Und das schockierte mich am meisten an der ganzen Sache. "Hör auf. Bitte. Sag das nicht. Bitte. Hör auf." Meine Worte konnte ich nur hauchen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er es hörte und zufrieden mit meiner Reaktion war.
"Glaub ja nicht, dass Familie hier irgendwas bedeutet. Du könntest die Kinder der Könige bringen und sie würden trotzdem nicht zucken, wenn sie sterben sollten. Vergiss niemals, dass wir nicht für die Familie kämpfen. Wir haben ganz andere Ziele, Prinzipien und Moralvorstellungen. Das ist der Grund, warum wir dir nicht trauen. Dir bedeutet das Leben anderer viel zu viel. Du würdest lieber selbst leiden, als deine Freunde in Gefahr zu bringen und das wissen wir. Hast du vergessen, dass dein lieber Neffe sehr gut darin ist, Gefühle und Lügen zu deuten und zu erkennen?"
Ich schüttelte langsam den Kopf. "Sei still." Meine Aufforderung war leise, aber provokant genug, dass Leonard näher trat und lauter wurde.
"Wir haben alles mitgehört, was du zu Christopher Whitenight gesagt hast. Wieso hast du ihn angelogen? Wieso hast du behauptet, du hättest ihn geliebt? Wieso hast du diese Lüge behauptet?" Er packte meine Haare und riss meinen Kopf in die Höhe. "Wieso hast du ihn gebrochen, obwohl dir deine Freunde immer noch mehr als die Welt bedeuten?"
"Meine Arme." Hauchte ich. Irritiert ließ mich Leonard los und starrte mich an. "Meine Arme tun weh. Kannst du die Ketten etwas lockern?"
Mein Zwilling seufzte. "Das ist alles? Du willst nichts weiter sagen, als dich zu beschweren?"
Ich schüttelte den Kopf. "Du würdest mir doch eh nicht glauben, wenn ich sagen würde, ich wäre auf eurer Seite. Du glaubst doch nichts, was aus meinem Mund kommt."
Leonard trat näher, bis wir so nahe aneinander standen, dass kein Blatt mehr zwischen uns passte. Ich war zu schwach und konnte deshalb meinen Kopf nicht heben. Dafür war ich in der Lage, seinen regelmäßigen Herzschlag zu hören. "Ich glaube dir kein Wort. Du bist immerhin die Tochter von Peter Blackstorm und Caliria Miyarayo. Er war ein skrupelloser Alpha, der seine Kinder opferte und sie ist ein Überlebenskünstler, dem kein Opfer zu groß ist. Du wurdest von diesen beiden großgezogen, also nein. Du kannst so oft behaupten, wie du willst, dass du unsere Verbündete bist. Ich glaube dir nicht. Ich habe dein Herz gehört, als du Marco dort unten gesehen hast. Ich habe deine Emotionen gespürt, als du Christopher gegenüber standest. Und ich kann dich in diesem geschwächten Zustand sehen. Du bist ein verdammter Lügner."
Er sagte die Wahrheit. Ich konnte seinen unberührten Herzschlag hören. Er war davon überzeugt, die Wahrheit zu sagen und diese Überzeugung war unumstößlich.
"Ich will aber mal nicht so sein. Ich helfe dir etwas." Und mit diesen Worten trat er etwas von mir und beugte sich zu meinen Armen. "Ich finde es witzig, dass sie dich mit Ketten am ganzen Körper an diese Wand gefesselt haben. Du siehst fast wie moderne Kunst aus. Ich habe die nie verstanden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich auch solche Sachen wie drei Kreise und vier Dreiecke nebeneinander zeichnen könnte. Wieso können die Menschen das für einen hohen Preis loswerden und meins landet im Mülleimer? Ach, muss ich das überhaupt verstehen?"
Seine Hand berührte sanft meinen Arm, was mich zusammezucke ließ. Er reagierte nicht auf meine Reaktion. Stattdessen packte er nur meinen Arm und rammte seine Klauen in meine Haut. Schockiert schrie ich auf. Als ich das letzte mal bei Bewusstsein war, hat mich der Alphafluch verfolgt und jetzt misshandelte mich mein Bruder. Ich sollte einfach weiterschlafen.
Immer und immer wieder riss er mit seinen scharfen Klauen Fleischstücke aus meinem Arm. Erst jetzt bemerkte ich, dass das Tropfen immer heftiger wurde. Verwirrt drehte ich meinen Kopf zur Seite, musst aber direkt wieder abbrechen. Der Schmerz an meinem Hals und Nacken hinderte mich davon, meine Arme zu betrachten. "So. Fertig. Ich hoffe, dir gefällt es. Ich kann die Ketten und Handschellen schlecht lösen. Stattdessen habe ich einfach das Fleisch aus deinem Arm genommen. Das ist ein Sieg für uns alle! Bei dir ist es nicht mehr so eng um die Arme und die Darachs könne noch schneller Blut sammeln!"
Ich lachte. "Bin ich etwa deshalb hier? Damit ich Blut spenden kann?"
"So ziemlich. Ich würde aber an deiner Stelle meinen Kopf nicht so schnell bewegen. Ich habe dich vorhin mit einer Schlinge, die mit Rasierklingen geschmückt war, aufgehangen. Dein Hals sollte ziemlich demoliert sein. Lass es nicht darauf ankommen. Wir brauchen dich am Leben. Na dann, viel Spaß und denk genau darüber nach, ob du uns wirklich gegenüberstehen willst oder weiterhin behaupten willst, uns zu unterstützen."
Er drehte sich gelassen um und verließ pfeifend den Raum. Und ließ mich zurück. Es wurde dunkel um mich herum und ich war erneut gefangen im Nichts. Niemand war hier, der mir helfen könnte. Ich war auf mich gestellt, aber kam nicht frei. Ich wollte den anderen helfen, aber ich verstand auch, wofür die Darachs kämpften. Ich wünschte, ich könnte wenigstens einmal in meinem Leben für mich selbst einstehen und mich nicht von anderen lenken lassen.

If I hadn't met youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt