Kapitel 101

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Schwer atmete ich aus. Ich hatte nicht damit gerechnet, so nervös zu werden. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich vor meinen Trainingseinheiten so stark ausgeatmet hatte, da ich wusste, dass mich meine Schwester wieder durch den Raum treten würde. Dieses mal war es aber eine ganz andere Situation. Leonard stieß die Tür auf, die mich von Jiaki trennte. Sie wirkte bei weitem nicht so schwer oder robust wie die Türen, die die Gänge voneinander trennten, aber trotzdem hatte ich das Gefühl, diese Tür von alleine nicht aufzubekommen.
"Der Raum ist relativ groß. Du musst ein bisschen laufen, bis du sie erreichst." Leonard trat einen Schritt zurück und zeigte in die Dunkelheit. Sofort folgte ich seinem Finger und ging in die gezeigt Richtung. "Warte! Das ist nicht-" Mein Kopf donnerte gegen eine Glasscheibe. "sicher... Sis, ich wollte dich grad vorwarnen. "
Ich stöhnte auf und hielt meine pochende Stirn. Ich hatte zwar in der letzten Zeit sehr oft unendlichen Schmerz erlebt aufgrund meines Fluches, aber es war noch mal eine ganz andere Sache, wenn man gegen Dinge rannte. "Du hättest mich auch vorwarnen können."
Lachend kam mein Zwilling neben mir an. "Ich war dabei. Ich wusste nur nicht, dass du so unbedingt mit ihr reden wolltest." Er lehnte sich etwas von mir weg und schon wurde der Raum mit Licht durchflutet. Ich hatte nicht damit gerechnet, weshalb ich sofort meine Augen schloss, um nicht geblendet zu werden.
"Vorwarnung? Irgendjemand? Hallo?" Ich blinzelte gegen das Licht an, um Leonard einen wütenden Blick schenken zu können, aber als ich seine grinsende Miene sah, musste ich auch automatisch grinsen. Ich war mir jetzt zu 100% sicher, dass es für mich keine Rollle mehr spielen würde, ob seine Worte echt sind oder nicht. Er ist wenigstens hier.
Er streckte mir seine Zunge etngegen und wendete sich dann wieder der Glasscheibe. "Diese Glasscheibe kann nicht mal von deinem Dickschädel zerstört werden. Unsere Druiden haben sie so verstärkt, dass sie nur von einem weiteren Druiden zerstört werden kann. Jiaki wird diesen Raum voraussichtlich nie wieder verlassen können."
Ich kniff meine Augen zusammen. Obwohl der Raum, in dem wir standen, mit Licht durchflutet war, war es immer noch stockfinster hinter der Glasscheibe. Ich konnte aber ganz schwach die Umrisse einer hockenden Person erkennen. Sie wirkte kraftlos und erschöpft. "Die Druiden scheinen ziemlich schwierig zu sein."
Leonard schnaufte. "Du hast ja keine Ahnung. Du musstest sie nur einige Monate ertragen. Mir kleben sie mein Leben lang an der Backe, da Mictlan den Spion spielen sollte. Sie haben auch an mir experimentiert. Ich verstehe diese Leute einfach nicht. Was hat das mit dem Hybridengen zu tun? Versteh die mal einer."
Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Wenn man nicht den Kontext beachten würde, könnte man davon ausgehen, dass er nur ein normaler Teenager war, der sich über seine Mitmenschen aufregte. Diese Unbeschwertheit beruhigte und beunruhigte mich zugleich. Einerseits war ich froh, dass er so locker mit mir reden konnte und ich mich nicht komplett verloren fühlte, aber die Tatsache, dass er so unbeschwert über Menschenexperimente und Verrat reden konnte, war irgendwie... beängstigend.
"Tut mir leid. Ich schweife vom Thema ab. Willst du?" Er kratzte sich leicht am Hinterkopf und zeigte dann auf die Glasscheibe. "Ich mache das Licht an. Du kannst dann mit ihr reden. Gehe aber nicht davon aus, dass sie dir antworten wird. In ihren Augen hast du sie immerhin verraten."
Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Ich konnte sofort spüren, wie meine Abneigung ihr gegenüber anstieg. Ich soll sie verraten haben? Zähneknirschend trat ich an die Glasscheibe. "Mach das Licht an."
Leonard nickte und verschwand aus meinem Sichtfeld. Einige Sekunden später ging das Licht an und ich konnte Jiaki erkennen. Ihre schwarzen Haare hingen strähning von ihrem Kopf herunter. Ihr Kopf selbst war gesenkt und erst als das Licht anging, reagierte sie leicht. Ihre Arme wurden von den Ketten angehoben, die sie an den Raum fesselten und auch ihre Füße waren an den Boden gekettet. Ich konnte sie leicht aufstöhnen hören, als das Licht nicht wieder ausging, aber sie schaute immer noch nicht auf.
"Die Druiden haben sie mit Drogen vollgepumpt, damit sie sich nicht selbst oder jemand anderem etwas antut. Du hast keine Ahnung, wie viele Naguals es gebraucht hat, sie ruhig zu stellen. Eine richtige Bestie." Leonard lief an mir vorbei und drückte auf einen Knopf an der Glasscheibe. Mit einer gedämpften Stimme sprach er zu mir. "Deine Worte kommen jetzt dort an. Rede mit ihr."
Ich zögerte. Jetzt, da ich vor ihr stand, fehlten mir die Worte. Ich konnte ihr nicht vorwerfen, mir nicht alles verraten zu haben, was in ihrer Kindheit geschehen ist. Nicht mal ich habe das getan und eigentlich hatte ich viele, denen ich mein Leben anvertraut hätte. Ich zuckte zusammen. Auch ihr hätte ich mein Leben anvertraut. Sie mag zwar sehr schweigsam sein und ja, sie hat mich sehr oft verprügelt, aber sie hat sich immer um micht gesorgt. Als ich meinen Arm zertrümmert habe, hat sie mich nicht eine Sekunde alleine gelassen. Sie war immer an meiner Seite. Sie hat mich, ohne zu zögern, verteidigt und behütet. Sie ist meine große Schwester, die mich liebt. Wie konnte sie mich also verraten?
"Jiaki!" Meine Stimme hallte immer wieder in dem großen Gefängnis wider. Ich konnte sehen, dass meine Schwester zusammenzuckte, aber immer noch nicht aufschaute. Vor meinem inneren Augen erschienen viele Bilder von ihr. Ich konnte sie an meinem Krankenbett sehen, als mein Alphafluch mich ans Bett gefesselt hat. Ich konnte sie sehen, wie sie versuchte, auf ihrer Gitarre zu spielen, aber nur die Seiten gerissen sind. Ich konnte sie sehen, wie sie mich in einen Teich zerrte, um mir einen Kampf im Wasser zu demonstrieren, aber am Ende nur herumgeplanscht hat. Ich konnte sie deutlich vor mir sehen. Ich konnte ihr Lachen sehen, das mich mit Wärme erfüllte und ihre beruhigenden Worte, die mir versichterten, dass sie mich am Leben halten würde, selbst wenn es ihr eigenes kosten würde. Ich erinnerte mich an all diese Momente. Ich erinnerte mich an meine große Schwester, von der ich nie gewusst habe. Doch diese Frau vor mir war nicht meine Schwester. "Ich habe dir vertraut. Grade du solltest doch wissen, wie wichtig Vertrauen ist. Ich habe mich dir anvertraut und du wusstest genau, dass mir Ehrlichkeit alles bedeutet. Wieso hast du nie erwähnt, dass die die Drei Könige kanntest? Dachtest du wirklich, es sei nicht nötig? Hast du nie einen Gedanken daran verloren, was mit deinem Kind geschehen ist?" Ich dachte an Mictlan zurück, als ich noch dachte, er wäre mein Bruder. Er hatte mich immer vor meinen eigenen Kräften beschützt. Vermutlich war es nur für die Darachs, aber er war immer für mich da. Auch wenn er nicht mein Zwilling war, hat er sich wie einer verhalten. Jiaki war seine Mutter und sie hat nicht mal einen Gedanken an ihn verschwendet. Hat sie das getan, nur weil er Zolins Kind war? Er war nur ein unschulidges Kind. Was konnte er für seine Eltern? "Weißt du eigentlich, was deine Taten mir und Mictlan angetan haben?"
Jiaki regte sich nicht. Sie sah nicht auf und machte auch sonst keine Anstalt, mich anzusehen.
"Schau mich an, Jiaki! Erkläre mir, warum du das getan hast! Sag mir, warum du Thomas nicht aufgehalten hast, als er Vater getötet hat! War dein Hass immer noch so groß? Ich weiß, dass du ihn hättest aufhalten können! Wolltest du nicht, dass ich, eine Chimäre, Alpha werde?" Meine Stimme überschlug sich. Ich konnte mich nicht mehr aufhalten. Ich rannte auf die Glasscheibe zu und schlug mit meinen Fäusten dagegen. "Antworte mir und sitze nicht nur schweigend da! Ich will dir zuhören! Ich möchte dir glauben, dass du deine Gründe hattest, aber dafür musst du mir antworten! Jiaki! Jiaki! JIAKI!" Mit jedem mal, das ich ihren Namen sagte, schlug ich fester gegen die Glasscheibe, aber sie reagierte nicht. Tränen sammelten sich in meinen Augen, als ich das sah. "Ich habe dir vertraut! Rede mit mir! Was hat das alles zu bedeuten? Wieso bist du so? JIAKI!"
Meine Hand schnellte nach hinten, als ich ein weiteres mal auf die Scheibe einschlagen wollte, aber eine starke Hand riss mich zurück. Überrascht hielt ich die Luft an, als ich auf meinem Rücken landete und von unten in zwei eisblaue Augen blickte. "Was machst du denn für einen Lärm, Prinzessin?" Ein leichtes Grinsen erschien auf Zolin Alvizos Lippen.
Sofort versiegten meine Tränen. Ich wollte vor ihm keine Schwäche zeigen. Meine Instinkte riefen mir deutlich zu, ihn nicht zu unterschätzen oder ihn zu verärgern. "Was willst du?" Fragte ich stattdessen und blieb weiterhin liegen.
"Darf ich denn nicht in Erfahrung bringen, wer in meinem Kerker hier herumschreit?" Er richtete sich auf und schaute die Frau hinter dem Glas an. "Wusstest du, dass das auch Jiakis Kerker war, als sie vor 17 Jahren meine Gefangene war?"
Ein Ekel kam in mir auf. Ich mag zwar Jiaki aktuell nicht sonderlich leiden können, aber das Lachen dieses Verrückten sagte mir noch weniger zu. Er hatte ein elfjähriges Mädchen vergewaltigt. Egal wie sehr ich mich vielleicht verraten fühle und mich den Darachs anschließen möchte, ich kann trotzdem nicht einfach jegliche Moral wegwerfen. Er ist und bleibt ein furchtbares Monster.
"Vater!" Der überraschte Klang in Leonards Stimme zeigte mir, dass es ausnahmsweise mal nicht Teil seines Plans war. Die Tatsache, dass er diesen Mann als seinen Vater bezeichnete warf mich aus der Bahn. Irritiert setzte sich mich auf und starrte zu Leonard, der um einiges unterwürfiger wirkte, als Zolin auf ihn zu kam. "Ich wollte nur-"
Zolin hob seine Hand und schlug meinem Bruder ins Gesicht. Das Geräusch klang so schmerzhaft, dass selbst ich zusammenzuckte. Leonard fiel zu Boden und hielt sich seine Wange, die sofort rot wurde. "Habe ich dir gesagt, dass du sie zu Jiaki bringen kannst?" Der Klang seiner Stimme schien mit seiner Augenfarbe übereinzustimmen. Sie war kalt und erbarmungslos. Er lief an meinem Bruder vorbei und drückte einige Knöpfe. Sofort ging das Licht aus und Jiakis Bild verschwand in der Dunkelheit. "Wenn ich gewollt hätte, dass die kleine Prinzessin mit meinem Weib redet, dann hätte ich mich selbst darum gekümmert. Lass die Finger von meinen Frauen!"
Meine Augen weiteten sich. Hatte er mich soeben als eine seiner Frauen bezeichnet? Sofort beschleunigte sich mein Herzschlag. Er hatte doch nicht im Sinn, auch mit mir ein Kind zu zeugen!? Ich wollte das nicht! Er soll mich nicht anfassen! Zolin schien meinen beschleunigten Herzschlag zu bemerken, da seine kalten Augen sofort in meine Richtung wanderten und mich fixierten.
Ich konnte mich nicht bewegen. Die Farbe ist vielleicht schön, aber der Mann, der diese Augen hatte, jagte mir Angst ein. Leonard ist kein schwacher Wolf. Er ist immerhin der Sohn eines Alphas und eine Chimäre. Ein einfacher Mann könnte ihn nicht einfach bezwingen, aber Zolin benötigte nur einen Schlag, um ihn auf den Boden zu zwingen. Ich wollte gar nicht wissen, wie seine gesamte Kraft aussehen würde. Langsam kam er auf mich zu und ich wich ihm instinktiv aus.
"Was hast du denn?" Er fing an zu grinsen. "Willst du lieber wie deine Schwester enden? Sie ist komplett mit Drogen vollgepumpt und schenkt dir keinerlei Aufmerksamkeit. Ich könnte mit ihr alles machen, was ich will. Willst du das auch? Oder willst du lieber zur Allianz? Euer Verschwinden hat es uns erlaubt, einen Angriff zu starten. Dank euch werden wir ein Drittel dieser verdammten Allianz auslöschen können. Willst du zu ihnen, den Verrätern?"
Ich wollte hier weg. Ich wollte so weit weg, wie ich nur konnte. Vor einigen Momenten hatte ich mich noch über ihn lustig gemacht, dass er sich nicht so aufspielen sollte. Ich hatte keine Lust, ihm mein Mitleid zu schenken, aber ich verstand nun, warum die Naguals so schwierige Zeitgenossen waren. Ich konnte in seinen Augen keine Zukunft sehen. Ihm war egal, ob er jetzt oder erst in 100 Jahren sterben würde. Er lebte nur für die Rache und seinen Hass auf diese Welt. Keine Moral oder Grenzen der Gesellschaft hätten ihn einschränken können. Nichts spielte für ihn eine Rolle. Ich konnte nur den Ruf nach Krieg und Blut in seinen kalten Augen sehen, die mir die Fähigkeit zu atmen nahmen.
Ich stieß gegen Widerstand und Zolin kam immer näher. Ich wollte schreien, aber meine Stimme versagte. "Lass das!" Über mir ertönte eine erhabene Stimme, die mich schockiert aufspringen ließ. Ich wich von den beiden Männern und starrte sie an. Wenn ich noch etwas geblieben wäre, hätte Zolin mich packen können. Doch tatsächlich schockierte mich der dritte Mann viel mehr.
"Christopher!" Hauchte ich und starrte den Mann mit dem weißen Haupt und der porzellanartigen Haut an.
Er reagierte jedoch nicht auf meinen Ruf. Der weiße Wolf legte nur seinen Kopf schief und atmete genervt aus. "Kannst du dich nicht einmal berherrschen? Sie ist keine Gefangene. Olivia ist freiwillig hier. Behandle sie gefälligst auch so."
Zolin schenkte dem Wolf ein breites Grinsen. "Und was ist, wenn ich es nicht tue?" Seine Haut färbte sich blau und seine eiskalten Augen begannen grün zu leuchten. "Was willst du tun, Yaotl?"
Yaotl? Ich kannte diesen Begriff. Es war ein alter Begriff, den Naguals damals benutzten, um einen Krieger zu bezeichnen. Ich glaube auch, dass Yaotl 'Der Krieger' bedeutet. Wieso redeten sie so miteinander? Was tat Christopher hier?
"Ich töte dich. Ganz einfach." Und mit diesen unbeschwerten Worten hob der Krieger seine Hand. Seine Augen wurden immer heller, bis sie so aussahen, als würden sie aus Licht bestehen. Er hob seine Hand und blaue Adern bildeten sich an seinem Arm, in denen Sonnenlicht zu fließen schien. Zolin wich schockiert einen Schritt zurück, was den Mann aus Licht zum Grinsen brachte. "Hat da jemand etwa Angst?"
Zolin schnaubte. "Ich will nur nicht sterben. Ich habe noch viel vor mir." Ich merkte, wie er versuchte, locker zu klingen, aber ich war mir sicher, dass wir alle das Zittern in seiner Stimme vernehmen konnten.
"Nimm deinen Sohn mit, wenn du gehst. Die Prinzessin bleibt in meiner Obhut. Sie ist immerhin wichtiger für uns als für dich." Der weiße Wolf ließ seine Hand sinken. Das Licht ging zurück und er starrte mich an, als nur noch ein leichtes Leuchten seine Augen zierte.
"Christopher..." Ich hauchte seinen Namen und konnte genau vernehmen, wie sehnsüchtig ich klang. Ich wollte das nicht.
Der Mann schien auch etwas überrascht. Er blinzelte einige Male, bis das Licht verschwunden war. "Jason." Zwei blaue Augen, die ich zu gut von Isabelle kannte, starrten mich belustigt an. "Ich bin Jason Whitenight. Christopher ist mein Sohn."

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