Kapitel 80

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"Arschloch!" Als meine Stimme nach ihm rief, schaute er sofort auf und ignorierte dabei Isabelles Versuch, ihn anzugreifen. Er fing ihren Schlag mit einer Hand ab und warf sie etwas von sich weg.
"Was gibt's, Darling?" Er schenkte mir seine gesamte Aufmerksamkeit und ignorierte seine Cousine vollkommen, die ächzend auf dem Boden lag.
"Her kommen!" Sofort setzte er sich in Bewegung und ließ die entgeisterte Isabelle zurück. Sie sagte nichts, aber man konnte deutlich sehen, dass sie genug von uns hatte. Das erinnerte mich an die alten Zeiten.
"Was willst du?" Fragend starrte er von oben auf mich herab, als er vor mir stand. Es war ziemlich warm und dadurch, dass er mir so nahe stand, wurde es noch wärmer. Ich erwiderte seinen Blick nicht, sondern zog ihn nur vom Platz.
Da das Lager unten in der Stadt immer weniger bewohnt war durch die ganzen Außeneinsätze, hatte kaum jemand aus dem Blackstorm-Haus Lust, den ganzen Weg vom Hügel in die Stadt abzuklappern, selbst mit der Abkürzung. Das war der Grund, warum sich Mutter im Mai auf die Wiese hinter unserem Haus gestellt hat und es zu unserem neuen Trainingsort erklärte. Ich habe zwar nur die Whitenights unten gesehen, aber wenigstens wurde es benutzt.
Während wir schweigend den Berg runterliefen, ließ ich seine Hand nicht los, obwohl er den Druck nicht erwiderte. Ich wollte damals aus verschiedenen Gründe Nalawe nicht verlassen. Ein Grund dafür war die schöne Landschaft. Hinter dem grünen Hügel lag ein klarer Fluss, indem wir früher immer gebadet haben, bis Isabelle der Meinung war, mich ertränken zu müssen. Seitdem war Mutter immer sehr misstrauisch, wenn wir rausgehen wollten.
Ich blieb kurz vor dem Fluss stehen und starrte in das klare Wasser. Doch bevor ich etwas sagen konnte, ergriff Christopher das Wort. "Sag mir bitte nicht, dass du mich näher an dich heranlassen willst. Das möchte ich nicht von dir hören."
Überrascht drehte ich mich um. "Was meinst du damit? Warst du nicht immer derjenige, der unbedingt von seinem Mate akzeptiert werden wollte?" Ich verstand diesen Typen einfach nicht.
"Das will ich schon, aber ich möchte nicht, dass du dich mir nur näherst, da ich dir einen Gefallen erwiesen habe und du glaubst, mir etwas schuldig zu sein. Ich will, dass du mich als Person magst und nicht, weil du mir etwas schuldig bist." Er folgte mir nicht, sondern stand nur distanziert hinter mir.
Entgeistert starrte ich ihn an. Er hatte aber auch nicht unrecht. Ich wollte mich ihm öffnen, da er so viel für mich getan hatte, aber das wäre wirklich ein komischer Anfang einer Beziehung. "Hast du dich mal kennengelernt? Du bist ein furchtbarer Mensch. Wer würde dich schon wegen deiner Persönlichkeit wollen?" Grinsend betrachtete ich ihn, wie er auf der Stelle trat.
"Es gibt eben auch Menschen ohne Geschmack. Was soll man machen?" Er schenkte mir ebenfalls ein schelmisches Grinsen, das seine Augen in einem metallischen Gold aufblitzen ließ.
"Diese Leute nennt man Menschen mit logischem Denken. Keiner mit einem Verstand würde sich auf dich einlassen wollen." Langsam lief ich auf ihn zu und legt meinen Kopf schief, um ihm von unten ins Gesicht zu schauen.
"Und trotzdem bist du hier." Er hob seinen Arm und berührte mich leicht an der Schulter. Ich wollte ihm erst ausweichen, aber als ich seine Augen sah, blieb ich stehen.
"Ja, das-" Doch weiter kam ich nicht, da mich plötzlich ein Schmerz übermannt, als würde sich mein Blut in Lava verwandeln und mein Inneres verbrennen. Keuchend sackte ich zusammen. Sofort fing mich Christopher auf.
"Wo ist deine Medizin?" Besorgt schaute er sich um, aber selbst wenn er Stunden geguckt hätte, hätte er keine Medizin gefunden. Ich hatte sie vergessen.
Ich versuchte, seinen Arm zu greifen, aber durch meine verschwommene Sicht griff ich immerzu daneben, bis ich irgendwann frustriert den Arm sinken ließ und erschöpft gegen seine Brust fiel. "Es ist nicht so schlimm." Ich zog die Luft ein, als sich meine Wirbelsäule so anfühlte, als würde sie brechen. "Es ist alles nur in meinem Kopf. Da ist keine Lava in meinen Adern."
Ich war mir sicher, dass er es nicht verstand, aber er sagte nichts zu meinem fragwürdigen Kommentar. "Wir sollten wieder ins Haus gehen. Da kannst du dich ausruhen."
Sofort packte ich seine Kehle und schüttelte energisch den Kopf. "Tu mir das nicht an! Ich will nicht schon wieder dort eingesperrt sein."
Seine Augen weiteten sich vor Überraschung. "Willst du denn wirklich mit einem solchen Ekel wie mir Zeit verbringen?" Und wieder erschien dieses schelmische Grinsen.
"Das ist mir lieber, als wieder eingesperrt zu werden." Ich war immer noch außer Atem, aber ich wollte entschlossen klingen.
"Ich bin attraktiver als Gefangenschaft? Das wollte ich schon immer sein!" Er sprach wie ein kleiner Junge, der sich über ein Geschenk freute, aber eigentlich machte er sich nur über mich lustig.
"Du bist ein furchtbarer Mensch."
"Und trotzdem bist du hier."
"Ja... ja, das bin ich." Und mit diesen Worten lehnte ich mich noch näher an seine Brust und schlang meine Arme um seinen Oberkörper. Zögernd erwiderte er die Umarmung und setzte sich mit mir ins Gras am Flussufer.
Keiner sagte was und ich konnte so entspannt seinem Herzschlag lauschen. "Wann wir wohl das nächste Mal so friedlich unseren Nachmittag verbringen können?" Seine Brust vibrierte, als er sprach, aber das störte mich erstaunlich wenig.
"Vermutlich nie wieder." Es klang zwar bitter, aber für die meisten Werwölfe war ein friedliches Leben nur in der Kindheit und Jugend möglich. Danach kämpft man nur noch für sich oder seine Familie oder ist tot. Nur sehr wenige können sich ein Leben ohne Krieg gönnen wie die Menschen. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre nie als eine Chimäre geboren worden. Manchmal würde ich am liebsten alles hinschmeißen und ein Mensch werden können. Aber dann hätte ich niemals diese Familie gehabt oder diese Freunde gefunden. Und ohne meine Herkunft hätte ich auch nie Christopher kennengelernt- warte, was?
Überrascht hob ich meinen Kopf und starrte direkt in die Augen meines Mates, der mich besorgt gemustert hatte. "Was ist?" Fragte er. Dort schwang kein sarkastischer Unterton mit. Es war nur eine ehrliche Frage.
"Ich..." wollte ihm danken und mich für alles entschuldigen. Es war nicht fair, dass er das alles wegen mir erleben musste und ich ihm mit nichts dankte. Er will zwar nicht, dass unsere Beziehung auf so was aufbaut, aber als ein Wesen in dieser Gesellschaft war ich ihm eine Entschuldigung schuldig. Er hätte in Frieden seinen Abschluss machen können und wäre dann zum Vollzeitalpha geworden. Er hätte zum König der weißen Wölfe werden können und hätte ein zufriedenes Leben führen können, aber da ich da war, hat sich alles für ihn geändert. Noch immer trug er die Narben meiner Klauen am Rücken und die meiner Reißzähne an seinem Nacken. Ich habe ihn für immer gezeichnet und das nicht nur physisch. Da wäre ein Danke und eine Entschuldigung das mindeste.
"Lass uns gehen." Ehe ich aus meinem Gedankenstrom herausfinden konnte, um mich zu entschuldigen, unterbrach er mich und zog mich auf meine Füße. "Ich habe ein ungutes Gefühl. Wir sollten lieber schnell zu den anderen."
Und just in diesem Moment spürte ich es auch. Es war, als würden Alarmglocken läuten. "Du hast recht." Ich packte sein Handgelenk, aber er zog sich sofort wieder aus meinem Griff mit einem Kopfschütteln.
Ich starrte ihn nur an, als er an mir vorbeilief. Was hatte er denn? Aber damit konnte ich mich nicht weiter befassen, da ich ihm sofort hinterher lief und wir nach Hause gingen.
"Ich rieche Blut." Flüsterte er, als wir fast das Haus erreicht hatten. Das hätte aber vieles sein können. Neben uns war immerhin ein Trainingsplatz und die Whitenight nahmen keine Rücksicht auf Verletzungen.
Als ich mich noch nicht bewegen konnte, aber wach war, wurde Isabelle oft in die Krankenstation der Gray-Druiden gebracht, da sie entweder ihre Schulter nicht einrenken konnte oder ihr ein Fuß fehlte. Manchmal fragte ich mich, ob die Regeneration der Werwölfe überhaupt Grenzen hatte, wenn sogar ein Fuß einfach wieder rangenäht werden konnte.
"Das ist Isabelles." Sagte ich in einer normalen Lautstärke und zeigte auf die Blutlache im Hinterhof. Sofort richtete sich Christopher auf und grinste mich entschuldigend an, was ich nur mit einem Augenrollen resignierte.
Wir liefen weiter und gelangten an das Haus, aber nichts erschien ungewöhnlich. "Was ist das?" Verwirrt zeigte Christopher auf die Box vor unserer Haustür.
"Eine Box?" Fragend starrte ich ihn an. "Hast du noch nie eine Box gesehen?" Lachend hob ich sie hoch und war erstaunt, dass sie für ihre größe so leicht war.
"Das meinte ich nicht. Wer würde uns denn ein Paket schicken?" Nun wurde auch ich misstrauisch. Er hatte recht. Wir hatten nicht mal eine Adresse. Wenn wir etwas verschicken wollten, dann wurde das einfach einem Angehörigen mitgegeben. Wir hatten kein Liefersystem.
Vorsichtig stellte ich das Paket wieder ab und lauschte. Ich hörte Vögel und einen unruhigen Herzschlag, der von Christopher kam, aber sonst war nichts ungewöhnlich. Langsam zerschnitt ich das Klebeband, das die Box schloss und atmete tief ein. Ich wusste nicht, was uns da erwarten würde, aber ich hatte ein sehr ungutes Gefühl bei der Sache.
"Es riecht nach Blut." Wiederholte Christopher seine vorige Aussage und diesmal nickte ich nur angespannt. Und dann öffnete ich langsam das Paket.
Mein Herz blieb stehen und für einen Moment hatte ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Sofort stief mich Christopher zu Boden und zog das Paket an sich, damit ich nicht mehr hineinsehen konnte.
"WIESO?" Schrie ich ihn an und klammerte mich an seine Beine. "Wieso? Wieso? Wieso?" Mein Augen brannte und mein Rachen fühlte sich trocken an. Wieso musste das passieren?
Schockiert riss eine Person hinter mir die Tür auf. "Was ist hier los?" Es war die besorgte Stimme meiner Mutter. "Livvy, warum liegst du am Boden? Christopher, was ist passiert?"
"Wieso?" Wieder schrie ich dieselbe Frage und schaute zu Christopher hoch. Ich kann das nicht mehr. Wieso musste es dazu kommen? Wir hatten doch noch einen Monat Zeit!
"Es tut mir so unendlich leid." Christopher senkte das Paket leicht und gewährte meiner Mutter einen Blick auf den Inhalt. Ich wusste, warum sie schockiert aufschrie. Ich wusste, warum sie entsetzt zusammenbrach. Ich wusste es, da ich dasselbe gesehen habe. Es war nicht sonderlich viel in dem Paket. Es war lediglich eine kleine Triskele und ein Arm. Doch diese Triskele gehörte meinem Zwillingsbruder. Ich hätte das Mal überall erkannt und nun lag es herausgeschnitten in einer Box. Und auch dieser Arm gehörte ihm. Ich erkannte die Narben an seinem linken Arm. Es roch sogar alles nach ihm. Das waren Körperteile meines Bruders. Sie wurden uns per Post geschickt. Wieso?

If I hadn't met youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt