Kapitel 6

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Es waren schon einige Wochen vergangen, nachdem beschlossen wurde, dass Liv doch das Internat besuchen sollte. Es war nun schon etwas kühler und der Herbst kündigte sich lauthals mit Regen an. Ich zog meine Jacke noch enger an meinen Körper und schaute mich suchend um.
"Auf wen wartest du denn?" Erklang eine Stimme und überrascht sah ich mich um. Hinter mir stand Caliria Blackstorm, meine Adoptivmutter. Ich hatte das Haus etwas eher verlassen, um jemanden abzuholen, weshalb ich überrascht war, dass sie mir gefolgt ist.
"Was machst du denn hier, Luna?" Verwundert betrachtete ich sie. Sie sah Leon wirklich ähnlich. Sie Unterschied sich abgesehen vom Geschlecht nur durch ihre Narben. Im Gegensatz zu vielen fand ich sie jedoch ziemlich unheimlich. Sie war immer so gut gelaunt und fröhlich, aber das grundlos. Klar kann man mal einfach so glücklich sein, aber sie wirkte jeden Tag so unbeschwert, egal was geschah. Sie hatte immer ein Lächeln auf den Lippen und einen netten Hinweis für jeden. Sie war einfach zu perfekt.
"Ich sagte dir doch bereits, dass du mich einfach Mutter nennen kannst. Isabelle, du wohnst jetzt schon über zehn Jahre bei uns und wir sind praktisch deine Familie. Du musst nicht so förmlich sein!" Strahlend sah sie mich an und breitete dann ihre Arme aus. Ich hatte meine leibliche Mutter nur in Panik gesehen, weshalb ich diese Art von Zuneigung nicht kannte. Ich war damals zwar sehr jung, aber ich konnte mich gut an meine Eltern erinnern. Ich wusste nicht, wie sie aussahen, aber ich wusste, dass sie immer auf der Flucht waren. Sie waren schließlich ausgestoßene Werwölfe, die niemand aufnehmen wollte und wir somit eigentlich hättet getötet werden sollen, da wir ein Sicherheitsrisiko waren.
Mein Vater hasste uns dafür. Er war früher Teil eines Rudels gewesen, aber da er sich eine Nacht auf eine dreckige, ausgestoßene Hure eingelassen hatte und dann auch noch ein minderwertiges Kind zeugte, wurde er ebenfalls ausgestoßen. Das Zusammenleben als Familie war erträglich. Wir wurden zwar regelmäßig geschlagen und misshandelt, aber wir überlebten. Meine Mutter ließ alles über sich ergehen und ich kann mich gut daran erinnern, wie sie mir immer wieder zurief, dass es nur noch dreizehn Jahre waren. Dann könnten wir von diesem Mann weg.
Dieser Moment kam früher als geplant, aber sie schaffte es nicht. Wir flohen eines Nachts, als sie es nicht mehr aushielt und wurden dafür Monate lang von meinem Vater gejagt. Irgendwann gelangten wir in das Blackstorm Revier, doch war es für meine Mutter längst zu spät. Er hielt ihr gesamtes Leben und ihre Zukunft in den Händen und er warf sie achtlos weg und ich hatte alles gesehen.
Bevor er jedoch mich auch noch umbringen konnte, erschien ein Mädchen in meinem Alter vor mir. Ihre schwarzen Haare verschmolzen mit der Nacht und die roten Augen stachen wie ein bedrohliches Achtung-Schild hervor. Sie schien keinerlei Angst zu haben, selbst als mein Vater sie zu Boden schlug, stellte sie sich immer wieder vor mich, bis ihre Eltern auftauchten und meinen Vater aufhielten. Andere Wölfe zu töten, war eine unserer obersten Verbote und mein Vater hatte sie missachtet, was den Tod mit sich führte.
An diesem Tag hatte ich auch Caliria kennengelernt. Sie wirkte so ruhig und unbekümmert. Diese entspannte Art und Zuversicht, dass alles gut gehen würde, hatte mir Angst gemacht. Sie wirkte einfach anders und ich war mir sicher, dass sie kein Werwolf war. Aber ich habe es nie gewagt, mit jemanden darüber zu sprechen.
Ich atmete tief ein und schaute sie dann an. "Danke für das Angebot, Caliria, aber ich hatte eine Mutter. Sie hat ihr Leben für mich gegeben und nach ihr will ich keinen Ersatz haben." Du hast es doch alles gesehen! Dachte ich, aber wagte es nicht, ihr in dieser menschenverlassenen Stunde das ins Gesicht zu sagen. Ich hatte ihre Anwesenheit gespürt und diese kalten blauen Augen in der Dunkelheit gesehen, aber als mein Vater meine Mutter umbrachte, hatte sie nichts dagegen unternommen.
"Das ist nicht schlimm. Hauptsache du fühlst dich wohl." Mit einem warmen Lächeln betrachtete sie mich. Sie war wirklich lieb und auch, wenn ich sie immer wieder abwies, gab sie nicht an ihren Muttergefühlen für mich auf. "Aber warum stehst du hier in aller Frühe am Straßenrand? Es ist kalt und die Anderen warten sicher auf dich. Komm, lass uns reingehen." Caliria packte meine Schulter, aber ich zog mich sofort zurück. Es war zwar lieb gemeint, aber ich erwartete jemanden.
"Sie wartet auf mich, Lady Blackstorm." Ruckartig riss ich meinen Kopf zur Quelle der Stimme und sah ihn auf uns zu kommen. Maximillian Gray. Man konnte ihn sofort erkennen, da er eine ungewöhnliche Haarfarbe besaß. Sie waren von Natur aus grau und betonten stark seine grünen Augen. Im Gegensatz zu dem typischen giftgrün waren diese viel wärmer und einladender. Er sah wie Leon seiner Schwester überhaupt nicht ähnlich. "Wir hatten uns hier verabredet, da wir doch gemeinsam zum Internat fahren." Höflich gab er unserer Luna die Hand, doch winkte diese ab.
"Diese Jugend. Na ja, was soll man machen? Aber wenn ihr euch jetzt getroffen habt, könnt ihr doch mit reinkommen. Isabelle mein Kind, du trägst nur eine dünne Jacke und nichts an den Beinen. Bitte wärm dich drinnen auf." Besorgt betrachte sie mich, aber ging dann voran in der Absicht, dass wir ihr folgten.
"Guten Morgen erstmal." Grinsend nahm mich Max in den Arm und zögerlich erwiderte ich diese Umarmung auch. Es war komisch, ihn einfach so zu umarmen. Liv fragte uns immer, was auf der Party geschehen ist, dass wir uns so komisch verhielten, aber wir konnten es ihr nicht verraten. Peter hatte uns verboten, Liv irgendwas über Mates zu verraten und wir mussten uns an die Worte unseres Alphas halten.
"Hast du schon was von deinen Eltern gehört?" Versuchte ich das Schweigen zu brechen. Es interessierte mich wirklich, aber hatte ich das Gefühl, dass ich so was in einem normalen Gespräch nie gefragt hätte. Ich schaute kurz hoch und merkte dann, wie weit ich eigentlich vom Haus entfernt war. Warum war mir Caliria so weit gefolgt?
"Nein, ihre Station erlaubt es ihnen nicht, Kontakt mit jemand anderen als den Alphas der einzelnen Rudel aufzunehmen. Sie sind halt Abgesandte. Was soll man schon großartig dagegen tun? Ich muss eben warten, ehe ich diesen Streit mit ihnen klären kann." Er zuckte mit seinen Schultern und starrte dann geradeaus. Sein Profil war so definiert, dass ich mich manchmal fragt, ob er nicht aus irgendeinem Buch entsprungen sei.
"Hoffentlich leben sie noch. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie schlimm es für dich wäre, solltest auch du sie verlieren." Betrübt starrte ich gradeaus und merkte, dass mir die Kälte wirklich zu schaffen machte. Luna hatte recht gehabt.
"Keine Sorge. Sie sind zwar nicht so stark wie du, aber sollte man jemanden im Thema Stärke mit dir in einem Satz nennen können, dann müssen sie es überleben. Izzy, du bist echt unglaublich!" Strahlend schaute er zu mir herab und bei diesem Lächeln konnte ich es ihm nur nachmachen. Aber als wir dann wieder stumm weiterliefen, ließ mich ein Gedanke einfach nicht mehr los.
Warum kümmerte sich Caliria so sehr um mich? Versuchte sie irgendwas wieder gutzumachen? Es gab nämlich einen Irrglauben in den Reihen unseres Rudels. Nicht Peter hatte an dem Tag meinen Vater getötet. Es war seine Frau, die meinem Vater mit einem engelsgleichen Lächeln das Herz herausgerissen hatte. Aber ich fragte mich jede Nacht, warum sie nicht früher eingeschritten ist, als meine Mutter noch lebte.
Schließlich gelangten wir an das Haus und Caliria wartete bereits auf uns. Als wir das Haus betraten, umhüllte mich sofort die angenehme Wärme und ich war dankbar, dass ich ein Dach über dem Kopf hatte. "Willst du was essen?" Fragte ich Max, während er sich die Schuhe auszog und er nickte erleichtert. Er war zwar süß und alles, aber komplett nutzlos in der Küche. Wären wir nicht, würde er einfach alleine Zuhause verhungern.
Als wir jedoch die Küche betreten wollte und ich erst so gute Laune hatte, wurde alles zunichte gemacht. Die gesamte Küche sah aus wie ein Schlachtfeld. Überall lag Essen und Geschirr verteilt. Möbel lagen zerbrochen auf der Erde und die drei Blackstorm-Geschwister prügelten mit rot und grün leuchtenden Augen aufeinander ein. Am Rand saß Peter, las eine Zeitung und trank seelenruhig seinen Kaffee, während Auralia am Rand stand und darauf wartete, dass man das Zimmer wieder betreten konnte.
"Willkommen zurück." Flüsterte Caliria uns zu und schlängelte sich vorsichtig an den kämpfenden Geschwistern vorbei. Mir fehlten die Worte. Und während Max nur neben mir in Gelächter ausbrach, konnte ich mir nur die Hand vors Gesicht schlagen und den Kopf schütteln. Diese Blackstorms werden noch mein Tod sein.

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