Kapitel 63

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"Willst du mich den gesamten Weg anschweigen?" Fragend lief mein Vater vorweg.
Durchaus.
Ich wollte nicht mitkommen. Mir taten zwar die jungen Wölfe leid, die ihren Alpha verloren haben und dank Tylers Unachtsamkeit viel zu lange orientierungslos waren, aber ich hatte damit nichts zu tun. Ich wollte nur bei den Blackstorms bleiben und endlich stark werden, um andere beschützen zu können, aber mein Vater musste alles zunichte machen.
Er lief weiter und schwieg endlich.
Ich wusste nicht, was er erwartet hatte. Dachte er, dieser Vater-Sohn-Ausflug würde alles wieder gut machen? Jedes üble Wort vergessen lassen und jede Wunde heilen? Ganz sicher nicht.
Er war mein Vater. Ich hatte ihm mehr vertraut als jedem anderen. Als ich kleiner war, war er mein Held, ein starker Beta, dem der Alpha Whitenight ohne zu zögern vertraute und auf seine Bedenken hörte. Ich bewunderte ihn, doch er verriet mich.
Ich war sein erster Sohn und somit sein Erbe und seine Hoffnung, doch als ich mich mit vier Jahren immer noch nicht verwandelte, wurde er rasend vor Wut. Normalerweise können sich Werwölfe schon in einem sehr jungen Alter verwandeln. Meine Schwester hatte ihre ersten Anzeichen schon mit 14 Monaten, doch ich nicht. Mein Vater dachte auch erst, ich wäre gar kein Werwolf. Er dachte für eine zeitlang, ich wäre ein Bastard meiner Mutter.
Er hatte sie geschlagen und angeschrieen. Das war der einzige Grund, warum ich mit 13 Jahren das erste Mal einen Hauch der Verwandlung zeigte. Nach all den Jahren färbten sich meine grauen Augen blau und mein Vater wusste, dass ich sein Sohn war. Aber ich wusste auch, dass er sich für mich schämte. Ich wusste auch, dass er Jamie, meine kleine Schwester, nur bekam, da ich nicht zufriedenstellend war.
Und dann nahm sich meine Mutter das Leben. Sie ertrug nicht mehr, mich so zu sehen. Sie ertrug es nicht mehr, von Tante Penny getrennt zu sein und sie ertrug es nicht mehr, von Tyler so misshandelt zu werden.
Ich verlor an dem Tag den einzigen Menschen, der mir irgendwie seine Liebe zeigte. Sie war der einzige Mensch, der mich in meiner Familie verstanden hätte, warum ich so fühle, wie ich fühle. Meine Mutter hatte eine andere Frau geliebt und nun liebte ich einen anderen Mann. Und dafür schämte sich mein Vater. Er wollte mich nicht mehr sehen und als ich an Lupus Luna kam, wiederholte er oft die Worte, er sei froh, mich endlich los zu sein.
Dachte er wirklich, dass ich nach alle dem, ihm nach einem etwas akzeptablen Verhalten in die Arme fallen würde und ihm alles verzeihen könnte? Ganz sicher nicht.
"Pass auf!" Überrascht blickte ich auf, als mein Vater meinen Arm griff und zu sich zog. Ich wollte erst dagegen ankämpfen und mich von ihm stoßen, bis ich ein Auto an mir vorbeirauschen hörte.
Für einen Moment starrte ich ihn überrascht an, doch wendete schnell den Blick ab. Erwartete er jetzt Dankbarkeit?
"Marco..." Als ich seine Stimme vernahm, verkrampfte sich mein gesamter Körper. Ich wollte dieser Stimme nicht lauschen! Als ich sieben Jahre alt war, ist er oft mit dieser sanften Stimme in mein Zimmer getreten. Ich dachte am Anfang sogar, er würde sich bei mir entschuldigen wollen, aber er hat immer nur ein Kissen gegriffen und es auf mein Gesicht gedrückt.
'Wenn du in Lebensgefahr schwebst, wirst du dich bestimmt verwandeln!' Das waren seine Worte und er sprach sie so sanft und liebevoll aus, dass ich ihm glauben wollte. Aber es klappte nie und eine solche Nahtoderfahrung hielt mich die Nächte immer wach. Ich hasste das Gefühl zu ersticken. Und ich hasste diese Stimme.
Zögernd trat ich einen Schritt zurück. Ich merkte, wie mir die Luft wegblieb. Schnell drehte ich mich um und lief weiter zu dem Rudel der Nolans - oder sollte ich jetzt sagen 'das Rudel der Silverstones'? Ich war froh, dass wir uns in der Stadt befanden und er mir nichts hätte antun können, aber diese Menschen machten mich auch unglaublich nervös.
"Marco!" Wieder rief er meinen Namen und ich beschleunigte meine Schritte. Ich wusste nicht, was er wollte, aber ich wollte hier nur weg. "Marco, bleib stehen!" Ich fing an zu rennen und hörte, wie sich ebenfalls die Schritte meines Vaters beschleunigten.
Die Panik stieg in mir auf und ich rannte.
"Marco!" Wieder erklang seine Stimme hinter mir. Ich hatte Angst. Ich hatte unglaubliche Angst. "Marco, jetzt bleib doch mal stehen!" Ganz sicher nicht. Ich wollte noch schneller laufen und spürte ein Kribbeln in meinen Beinen. Meine Schritte wurden schneller und leichter. Es fühlte sich so an, als würde ich über den Boden gleiten. Meine Sicht wurde schärfer und ich konnte die verwirrten Gesichter der Passanten erkennen. Wir befanden uns zwar unter Werwölfen, aber die Situation war dennoch etwas absurd.
Hektisch bog ich um eine Ecke, doch bereute meine Entscheidung sofort. Ich befand mich in einer schmalen Gasse, die in einer Sackgasse endete.
Schnaufend holte mich mein Vater ein und ich konnte mich nur noch panisch gegen die Wand lehnen. Im Schatten der Häuser sah ich seine goldenen Wolfsaugen glänzen, als er auf mich zu lief und langsam den Mund öffnete. "Markie." Ich wendete meinen Gesicht ab. Ich wollte ihn nicht ansehen, wenn er mich schlug. Das war mein Spitzname, mit dem mich meine Mutter immer gerufen hatte. Ich verband ihn mit Liebe und Zuneigung. Ich wollte nicht, dass mir mein Vater das zerstörte.
Wieder vernahm ich den Klang meines Spitznamens und dann fühlte ich es an meiner Wange. Es war eine warme Hand und ich wartete auf den brennenden Schmerz, der sich durch mein Gesicht zog, wenn er mich schlug. Doch dieser kam nicht.
Verwirrt öffnete ich meine Augen und blickte in die grauen Augen meines Vaters, denen meine so ähnlich waren. Diesen Gesichtsausdruck kannte ich nicht. Jedenfalls habe ich ihn noch nie gesehen, wenn mich mein Vater anschaute. Er sprach voller Verzweiflung und Reue. Sein Blick zeigte mir einen seelischen Schmerz, den ich niemals erwartet hätte. Aber warum schaute er mich so an?
"Du weißt, dass ich nicht so gut mit Worten bin." Vorsichtig zog er seine Hand zurück und wendete seinen Blick ab. Es war dunkle und deshalb hätte ich mich auch irren können, aber mir war so, als würde mein Vater aus Scham erröten. Doch diese Röte verschwand sofort wieder. "Ich..." Er zögerte. Ich habe diesen großen Mann noch nie so unsicher gesehen. Irgendwie ähnelte ich ihm doch mehr, als ich erwartete hätte. "Ich habe in meinem Leben kein einziges Mal geglaubt, ich hätte als Vater versagt. Ich habe nur als Mensch versagt, da ich zuließ, dass meine wundervolle Mutter meine Frau, meine Schwester und meinen einzigen Sohn zerstörte. Meine eigene Furcht hat euch das angetan und ich kann es mit nichts wiedergutmachen. Aber lass mich dir eins sagen." Er hob den Kopf und starrte mich mit einer unumstößlichen Entschlossenheit an, die mich erschaudern ließ. "Du bist mein Sohn und ich werde nie wieder zulassen, dass dir jemand irgendwas antut. Ich werde dich nicht mehr im Stich lassen." Und mit diesen Worten drehte er sich um und ließ mich in der Gassen zurück.
Ich spürte, wie mir die Tränen kamen. Aber sie entstanden nicht aus Angst, Verzweiflung und Trauer, sondern aus Glück und Freude.
Ich wollte diese Worte schon immer hören. Ich hatte immer gedacht, mein Vater würde mich als Abnormalität ansehen. Ich dachte immer, er würde sich die Schuld dafür geben, dass ich eine solche Schande wurde. Ich dachte immer, er würde mich nur als Stück Dreck ansehen, aber ich hatte mich geirrt.
Ich habe schon oft erlebt, dass sich meine Großmutter, Nina Silverstone, über Homosexuelle aufgeregt hatte. Aber ich hätte nie gedacht, dass ihr Hass so tiefgreifend war, dass sie ihren Sohn zwang, den Mate seiner Schwester zu heiraten, nur um da Bild einer perfekten Familie zu wahren. Ich hätte nicht gedacht, dass sie ihre eigene Tochter verstoßen würde. Und ich habe auch nicht damit gerechnet, dass sich mein Vater so sehr vor ihr fürchtete, dass er mich von dieser Familie trieb, nur um mich zu schützen.
Ich dachte, er wollte mich nur nicht haben, da er mich verachtete, aber er verstieß mich nur, damit ich nicht mit dem eigentlichen Monster in Kontakt kommen musste.
Erst nach dieser Erkenntnis konnte ich meine Tränen stoppen und mich erheben. Mein Vater hasste mich nicht und diese Erkenntnis war mehr, als ich mir hätte wünschen können. Ich hatte doch ein Zuhause und eine Familie.

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