Kapitel 81

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Stumm starrte ich gegen die Wand. Nachdem mich Christopher einfach sitzengelassen hat, hatte ich keine Aufgabe mehr. Marco hatte das Spiel verloren und musste somit die Nachricht Thomas' überbringen, was aber auch bedeutete, dass wir nicht mehr was unternehmen konnten. Durch Olivias Abwesenheit sind wir, die Whitenights, und Marco uns wirklich näher gekommen und ich kann mir ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen, obwohl wir uns alle nicht mal ein Jahr kennen.
Als ich so schweigend gegen die Wand starrte und in meinen Gedanken verloren an die nächste Zeit dachte, wurde ich mit einem Schrei sofort in die Wirklichkeit gerissen. Schockiert sprang ich auf und rannte in das Wohnzimmer der Blackstorms, in dem sich auch Thomas, der neue Alpha, befand. Er mag zwar ein Ekel sein durch das, was er Olivia und Jiaki angetan hat, aber er war kein schlechter Alpha. Jedenfalls kamen wir durch ihn deutlich schneller voran als mit Peter.
Als er mich den Raum betreten sah, warf er mir einen verwirrten Blick zu, aber ich wusste auch nicht, was das zu bedeuten hatte. Wir wussten nur, dass Caliria hinter dieser geschlossenen Tür immer wieder in Schmerzen aufschrie.
Thomas ließ alles stehen und liegen und riss sofort die Tür auf, um seine Mutter verzweifelt am Boden liegen zu sehen. Wenn man durch diese Tür sah, konnte man Christopher sehen, der mit einem schockierten Gesichtsausdruck eine Kiste hielt und an dessen Beine Olivia geklammert hing. Weinte sie etwa? Ich kann mich gar nicht an das letzte mal erinnern, wann sie geweint hat. Sie schluckte alles immer runter, weshalb es mich zutiefst überraschte.
"Was hat das zu bedeuten?" Sofort erklang die Stimme des Blackstorm-Alphas und ich zuckte zusammen. Peters Stimme konnte ich noch standhalten, da ich ihn nie als meinen Alpha betrachtet hatte, aber Thomas hatte durch seinen unendlichen Hass auf die gesamte Welt eine ganz andere Ausstrahlung. Wenn man jetzt so den Vergleich hatte, ist Peter eigentlich ein relativ sanftmütiger Alpha gewesen. Wieso lernte man so was erst viel zu spät schätzen?
Langsam richteten sich Christophers Augen auf Thomas und dann auf die Kiste. Es sah so aus, als hätte er einen Geist gesehen. Seine porzellanartige Haut wirkte grau und er sah irgendwie sehr kränklich aus. Was hatte ihn denn so unter Schock versetzt?
Ich stieß Thomas zur Seite, als ich durch den Türrahmen trat, drängelte mich an Caliria vorbei und hockte mich neben Olivia. Sie war immer noch meine Priorität und ich konnte sie so zusammengebrochen am Boden nicht ertragen. "Chris?" Besorgt hob ich den Kopf, als ich Olivias leeren Blick sah.
Sie hatte leuchtende rote Augen, aber es wirkte so, als wären ihre Tränen vor langer Zeit versiegt. Ihr Körper war vollkommen verspannt und sie schien in einem ganz anderen Universum zu sein. Sie zitterte nicht oder gab auch nur einen Mucks von sich. Sie saß nur da und klammerte sich an ihren Mate.
"Leonard." Sagte mein Cousin schließlich nur und senkte das Pakt etwas. Sofort schrie Caliria wieder auf, als hätte man ihr einen Arm ausgerissen. Ich kannte diesen Klang. Es war ein Schrei, der mehr als nur den Schmerz unterstrich. Sie schrie auf, als hätte man ihr Schmerzen zugefügt, die nicht zu vergleichen waren, aber es schwang auch endlostiefe Trauer mit, als wäre etwas unglaublich wichtiges verloregn gegangen, das nicht mehr zu ersetzen ist.
Es roch nach verfaultem Fleisch und Tod. Ich ließ von Olivia ab, die nicht mal beim Schrei ihrer Mutter zusammenzuckte, der mich in Mark und Bein erschütterte. Vorsichtig erhob ich mich und starrte in die Box. Auch Thomas trat näher. Er jedoch hockte sich neben seine Mutter und nahm diese in die Arme, die sich sofort in diese fallen ließ.
"Woher stammt das Paket?" Ich wollte bei diesen Worten aufschreien. Wie kann Thomas nur so kalt sein? In diesem Paket lagen Überreste seines kleinen Bruders und er wollte wissen, woher das kam? Konnte er denn nicht etwas Rücksicht auf seine Mutter oder sogar seine kleine Schwester nehmen, die schon ohnehin zu viel wegen ihm leiden musste?
Das schien auch Christopher zu schockieren oder eher zu überraschen, da er nur den Mund öffnete, aber kein Ton über seine Lippen kam.
"Das wissen wir nicht." Eine kalte Stimme zerschnitt die Luft. Es war, als wäre es ein kalter Winter und die einzige Quelle von Leben war ein wilder Fluss, der starres Eis und tote Tiere aufwirbelte. Dieser kalte Fluss schien mich in diesem Moment zu verschlingen, als diese distanzierte Stimme erklang und hinterließ einen bitteren Nachgeschmack im Mund. So kalt und unberechenbar. "Wir sollten reingehen und das untersuchen. Es ist der erste Körper, den wir nach all den Monaten endlich wieder untersuchen können. Wir sollten keine Zeit mit Sentimentalitäten verschwenden. Es wäre sinnlos." Das kalte Wasser schien mich auf der Stelle einzufrieren.
Ich konnte nur meine Augen bewegen und sah dabei zu, wie Caliria schockiert ihren Kopf hob und mit traurigen grünen Augen an mir vorbei starrte. "Wieso haben sie dir das angetan?"
"Das ist nebensächlich. Wenn du wissen willst, warum ich Prioritäten setze, dann ist hier der Grund: Wir müssen diese Bastarde aufhalten. Koste es, was es wolle." Koste es, was es wolle? war ihr überhaupt bewusst, was das für alle bedeutete? War diese Person denn bei Verstand? Wir wollten die Darachs nur aufhalten und zerschlagen. Es war nie der Plan, sie aufzuhalten, da diese Art von 'Aufhalten' die Ausrottung der gesamten Allianz unserer Gegner bedeutete.
"Ach, meine kleine Olivia." Traurig starrte Caliria weiterhin an mir vorbei und erst in diesem Moment begriff ich die Situation. Mein Kopf drehte sich immer weiter nach rechts, bis ich meine Adoptivschwester entdeckte. Sie stand aufrecht neben mir und keine Spur der Trauer war auf ihrem Gesicht zu sehen. Sie wirkte leer und wie ausgetauscht.
"Sie hat recht." Thomas erhob sich. "Wenn wir unsere Gegner auslöschen wollen, dann sollten wir unsere Zeit nicht mit Trauer verschwenden. Wir können auch später weinen." Der Alpha trat von seiner Mutter weg und ging wieder in das Wohnzimmer. Olivia nickte nur stumm, nahm das Paket aus Christophers Hand und folgte ihm.
"Das kann doch nicht euer ernst sein! Liv, er war dein Zwillingsbruder! Wie kannst du ihn so-" Doch ich kam nicht weiter. Ich spürte Christophers warme Hand auf meiner Schulter, die mich zwang, stillzuhalten. Aber ich wollte weder stillhalten noch ruhig bleiben. Das konnte doch nicht ihr ernst sein. Und dann schloss sie sich auch noch mit dem Mann zusammen, der ihre Zukunft zerstört hatte. Das konnte doch nicht ihr ernst sein. "Lass mich los!"
Ich wollte seine Hand wegschlagen, aber diesen Versuch wehrte er mühelos ab. "Lass sie." Seine Stimme erklang wie aus der Ferne, aber traf mich direkt wie seine Klaue, wenn wir trainierten. Kalt, direkt und unumgänglich. Ich soll sie machen lassen? Das würde bedeuten, dass ich sie alles runterschlucken ließe und der Schmerz würde dann irgendwann ihr den Verstand rauben. Das konnte ich nicht zulassen. Das hatte ich ihr versprochen!
"Er hat recht. Lass es gut sein." Schwerfällig erhob sich Caliria und sah mich flehentlich an. "Ich weiß, dass du ihr nur helfen willst, aber sie ist in dem Moment gebrochen, als sie die Triskele gesehen hat. Keiner außer sie selbst kann sie jetzt noch retten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie all ihre Menschlichkeit verlieren würde. Ich will nicht sagen, dass ihr sie so lassen sollt, aber ich habe das schon oft genug gesehen." Beruhigend legte mir die ehemalige Luna ihre Hand auf die Schulter und diesmal schlug ich sie nicht weg. "Sie ist auch teilweise ein Nagual und wenn es dazu kommt, dass wir keine Kontrolle mehr über die Situation haben, schotten wir uns von ihren Gefühlen ab, um unser Ziel zu erreichen. Das ist der einzige Grund, warum ich den Angriff auf meine Heimat überlebt habe. Sie wird dort wieder rausfinden."
"Mutter..." Betrübt griff ich nach Calirias Hand. "Ich will sie nicht verlieren."
"Das werden wir nicht. Wir werden sie und den Frieden unserer Lande wieder zurückgewinnen." Zuversichtlich legte mir Christopher seine Hand auf die andere Schulter und sah mich aufmunternd an. Sein Gold verbarg den Schmerz zwar sehr gut, aber ich konnte trotzdem etwas sehen, das wie Trauer und Schuld wirkte. Es war aber nicht seine Schuld, dass sie dieses Paket gefunden hat. Wir hätten es auch niemals vor ihr verheimlichen können, da sie das mehr zerstört hätte.
Ich nickte nur zögernd. Danach betraten wir angespannt das Haus und erblickten die beiden Blackstorm-Geschwister am Boden. Der Arm lag zwischen ihnen und Olivia hielt die Triskele oder eher, den Hautfetzen, der mal Leons Rücken war, in den Hand. "Er ist älter." Sagte sie ohne den Hauch von Gefühlen in der Stimme. "Wenn man Körperteile vom Hauptkörper trennt, werden sie steif, wie bei der Totenstarre, da sie nicht mehr mit Blut versorgt werden können. Man kann zwar davon ausgehen, dass dieses Fleisch ausgetrockneter wirkt, da es kleiner als der Arm ist, aber die Differenz ist zu groß. Die Triskele wurde ihm weit vor dem Arm herausgeschnitten."
"Gehst du von Folter aus?" Ohne vom Arm aufzusehen, stellte Thomas diese Frage. Ich traute mich nicht, den beiden auch nur einen Schritt näher zu kommen. Sie waren so kalt und erbarmungslos.
"Eher nicht. Die Narben sind alt. Es ist höchstens eine Art Masche. Sie wollen uns provozieren, den ersten Angriff zu starten und das, bevor unsere Frist abgelaufen ist. Ich weiß zwar nicht, zu welchem Zweck das gut sein soll, aber ich gehe davon aus, dass sie noch mehr auf Lager haben." Olivia ließ die Triskele fallen und fuhr ihre Klauen aus.
"Dann ist er vermutlich noch am Leben. Wenn sie uns besonders provozieren wollen, dann sollten die Körperteile immer frisch sein, damit wir wissen, dass er ständig leidet." Thomas sprach mit der gleichen Distanziertheit wie Olivia und hielt den Arm gerade, als Olivia mit ihren Klauen ansetzte, um den Unterarm aufzuschlitzen.
"Die Wunden erscheinen mir aber etwas seltsam." Vorsichtig klapptet meine Adoptivschwester die aufgeschnittene Haut beiseite und inspeszierte das Innere des Arms. "Die Wunde ist glatt und ich sehe auch keinerlei Frakturen."
"Willst du damit andeuten, dass er sich nicht gewehrt hat?" Endlich hatte sich Christopher aus seiner Starre gerissen und ging auf die beiden zu. "Das würde doch keinen Sinn ergeben. Warum sollte er sich freiwillig den Arm abschneiden lassen?"
Olivia schwieg.
"Du hast vermutlich recht. Kein Wesen bei Verstand würde solche Schmerzen freiwillig über sich ergehen lassen." Thomas nickte und ließ vom Arm ab. Olivia dagegen starrte weiterhin auf das tote Fleisch.
"Ich denke, ihr überseht das Offensichtliche." Mein Herz schien einen Aussetzer zu machen, als diese Stimme erklang. Ich bin davon ausgegangen, dass nur Christopher, Thomas, Olivia, Caliria und ich im Haus geblieben sind. Jayden war mit seinem Schüler Lawrence und seinen Kameraden im Norden, um dort nach verdächtigen Aktivitäten Ausschau zu halten. Alex und ihre Truppe hatten sich dem Osten und dem Silverstone-Rudel angenommen, um dort nach Darachs zu suchen und Shang war mit Tyra im Süden. Jiaki wartete derzeit mit ihren Füchsen auf die Befehle ihres Bruders, die von Marco überbracht werden sollten und die Gray-Geschwister sind mit mir und Christopher nach Lupus Luna gegangen, um für die Medizin der Verfluchten zu suchen. Ich bin davon ausgegangen, dass alle unterwegs waren, aber als ich meinen Mate oben an der Treppe stehen war, wusste ich, dass etwas schiefgegangen sein musste.
"Und das wäre?" Kalt starrte Olivia zu Max. Sofort fasste sich Caliria an die Brust, als hätte sie unglaubliche Schmerzen im Herzen. Ich verstand auch, woher das rührte. Max war eine sehr sanfte Seele und wir mussten früher immer sehr viel Rücksicht auf ihn nehmen, da er zu naiv und gutgläubig war. Er nahm sich auch viel zu viel zu Herzen. Viele dachten immer, dass er zu schwach wäre, dabei ist er einfach nur als das falsche Wesen geboren worden. Er hätte eigentlich ein Druide sein müssen und das merkte man auch an seinem Verhalten. Olivia hatte sich davon aber niemals stören lassen, da Max für sie nur Max war und nicht der Schwächling unseres Rudels. Sie behandelte ihn wie jeden anderen, was Max dazu brachte, sie zu lieben. Ich hatte sie früher sogar dafür beneidet, da er sie mehr zu lieben schien als seinen Mate, mich, aber ich verstand mit der Zeit, dass es eine Liebe war, die weit von der romantischen Liebe entfernt war. Es war eine reine, bedinungslose Liebe, die an nichts Physisches gebunden war. Sie waren auf einem emotionalen Level verbunden, das keine körperliche Affektion jemals hätte erreichen können.
Aber als Max nun vor ihr stand, starrte sie ihn mit einer Verachtung an, als hätte man ihr einen verfaulten Igel vorgesetzt. Ihre kalten dunklen Augen schauten verächtlich auf ihn herab, als sei er nutzlos und nicht in seinem eigenen Haus willkommen.
Er schien ebenfalls die Veränderung in ihrem Blick zu bemerken, was ihn stutzen ließ, aber er verstand es auch, seine Gefühle beiseite zu legen, weshalb er kurz schluckte und weitersprach. "Der Geruch. Es mag zwar stark nach Leiche riechen und es wirkt auch so, als hätten die Gegner versucht, den eigentlichen Geruch zu verbergen. Meine Schwester hat mir vor einigen Wochen die Leichen mit der Botschaft der Darachs gezeigt. Es ist für euch vermutlich offensichtlich, dass es die Darachs waren, aber ihr dachtet auch, die Jäger seien mit ihnen im Bunde." Verwirrt schauten wir alle auf. Wollte er uns damit sagen, dass Leon nicht von den Darachs gefangen wurde? Sofort hob er verteidigend seine Hände. "Das will ich nicht damit sagen." Beantwortete er meine Frage, die ich nicht mal ausgesprochen hatte. "Dieser Geruch unter dem Geruch der verfaulten Leichen stimmt mit dem der Botenleichen überein. Ich kann hiermit bestätigen, dass das Leon von den Darachs angetan wurde." Max setzte sich in Bewegung und lief die Treppe herunter. Keiner der drei, die um dem Paket saßen, bewegte sich. Deshalb nahm Max selber zögernd den Arm in die Hand und führte ihn an seine Nase. "Unter diesem Geruch der Verwesung liegt das Aroma von Schnee, Blut und Eisen."
Sofort verkrampfte sich Christopher. Caliria sprang überrascht zu Seite und entfernte sich somit von der Tür, ehe ich eine kalte Klinge an meiner Kehle bemerkte. Ich spürte das Blut herausquellen und sah Christophers schockierten Blick, als er auf mich zulaufen wollte. Doch eine Hand zerrte ihn zu Boden und bestürzt musste ich feststellen, dass Olivia ihn zu Boden gerissen hatte.
"Wusste ich es doch." Zischte mir der Besitzer dieser eiskalten Klinge ins Ohr. Ich wusste, dass sie bereit war, sie ruckartig wegzuziehen, was meine Kehle durchtrennt hätte und mir war ebenfalls bewusst, dass kein Flehen etwas gebracht hätte, aber ich konnte nicht anders.
"Tyra, bitte." Aber mit Gnade hätte ich an diesem Ort nicht rechnen können.

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