Kapitel 65

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Schweigend saß ich auf dem Boden und betrachtete das Zimmer. Hier werde ich die nächsten Wochen verbringen und von Jiaki und meiner Mutter unterrichtet werden. Der Raum hatte immer noch sehr viele Spuren von Jiakis Klauen und anderen Angriffen. Sie muss bei ihrer ersten Verwandlung sehr ausgerastet sein. Es gab keine Fenster in diesem Raum und nur eine Stahltür, die sich nur mit diversen Passwörtern öffnen ließ. Ich gehe davon aus, dass dieser Raum für die erste Verwandlung vorgesehen war.
Früher verwandelten sich Jungtiere das erste Mal im Freien, aber nachdem es zu viele Vorfälle gab, die uns in Schwierigkeiten brachten, wurde die Regel in Nalawe eingeführt, dass man seine Kinder im Haus lassen soll. Ich hatte das zu meiner Zeit nicht verstanden, da ich keinerlei Probleme damit hatte und ich immer dachte, Leon und ich seien einfach nur gesegnet mit einer Macht, unsere Bestie zu kontrollieren. Heute weiß ich, dass Leon sich nie verwandelt hat, da er kein Werwolf ist und meine Kraft mit großer Wahrscheinlichkeit unterdrückt wurde.
Ich war jedoch etwas hin und her gerissen. Ich wollte stärker werden. Ich wollte meine Freunde und meine Familie beschützen, aber je stärker ich wurde desto näher kam der Zeitpunkt, an dem ich meinen Vater töten müsste. Ich sehe es als meine oberste Priorität an, meine Familie mit dieser Kraft zu schützen und nicht sie damit auseinanderzureißen. Ich kann das damit verbundene Leid nicht verantworten. Ich könnte mir auch niemals verzeihen, sollte ich meiner Mutter diesen Verlust antun. Aber ich bin die einzige Person, die das machen sollte.
"Trinken?" Verblüfft hob ich meinen Kopf und sah meine Schwester in ihrer Militäruniform vor mir stehen. Sie hielt mir eine Wasserflasche hin, die ich nur verwirrt anstarrte. "Du hast doch rumgeheult, du seist durstig. Jetzt nimm." Mit einer leichten Bewegung forderte sie mich erneut auf und ich nahm die Flasche an und trank das kühle Nass mit einem Zug aus.
"Was soll ich sagen? Du hast mich eine halbe Stunde lang verprügelt. Da wird man durstig." Lachend stellte ich die Falsche beseite. Ich klagte sie nicht an. Es war ihre Aufgabe und etwas Prügel gehörte nun mal dazu. Trotzdem waren ihre Tritte äußerst unangenehm.
"Du hast mir ein Fußgelenk gebrochen. Das war auch ziemlich ermüdend." Sie gab mir das gleiche Lächeln zurück. Nur wirkte ihr Lächeln irgendwie verloren. Aber ich wollte sie nicht darauf ansprechen.
"Ich habe dich besiegt, also sag mir, wo sich Isabelle und Christopher befinden." Fordernd packte ich ihre Schulter und zog sie in meine Richtung.
Mit großen Augen starrte mich die Chimäre an. "Wir haben die Whitenights auf Untersuchungen hin in Gewahrsam genommen. Wenn wir sicher sind, dass man ihnen trauen kann, werden sie wieder entlassen."
"Oh." Das hätte ich mir auch denken können. Aber ich wollte das vermutlich nur hören, da ich mit dem Gedanken nicht klargekommen wäre, wenn mich Christopher nach all den Tränen einfach verlassen hätte. Er hielt sich lediglich an sein Wort. "Habt ihr sie gefesselt?"
"Ja."
"Mit Ketten?"
"Ja."
"Jeder in eine eigene Zelle?"
"Erstaunlicherweise hatten wir die sogar, also ja."
"Verstehe." Ihr Antworten waren so trocken und neutral, als würde man sie fragen, ob ein Wolf Fell hätte. Es war ganz normal für sie. "Du wärst eine furchtbare Mutter."
Getroffen griff sie sich an die Stelle der Brust, wo ihr Herz lag. "Wie kannst du das nur sagen? Ich wäre eine tolle Mutter."
"Du würdest deine Kinder bei Regelverstößen einsperren und verprügeln, wenn sie sich wie Waschlappen anstellen." Lachend schlug ich leicht gegen ihre Schulter, um ihr zu demonstrieren, was sie mit ihnen machen würde.
"Wenigstens werden sie dann keine Waschlappen." Geschickt fing sie meine Hand ab und zog mich hoch, als sie aufstand. "Und du sollst auch keiner werden. Ich will dir einige Sachen der Naguals zeigen, aber wenn du noch irgendwelche Fragen hast, stell sie bitte jetzt. Ich werde keine Pausen mehr vor dem Abendessen einlegen."
Entgeistert suchte ich die einzige Uhr in diesem Raum. Es war kurz nach zwölf. Wie kann sie nur? Aber ich hatte noch eine Frage. "Was ist nun mit Leon? Vater hat mir keine Antwort gegeben und ist einfach gegangen. Es war dezent unangenehm, als sich alle aus dem Staub machten. Ich will doch nur wissen, was mit meinem Zwilling ist."
Der Blick meiner Schwester wurde düsterer. "Eisblaue Augen." Hauchte sie. Verwirrt starrte ich sie an, doch musste schockiert zurückweichen. Ihr Blick war starr auf den Boden gerichtet und als sie ausatmete, entstand ein tiefes Knurren in ihrer Kehle. Sie schien sich an irgendwas zu erinnern, was schreckliches für sie sein muss. Sie fletschte ihre Zähne und ballte ihre Hände zu Fäusten. Jedoch müssen ihre Krallen entstanden sein, da ihr rotes Blut langsam auf den Boden tropfte.
Ich verstand nicht genau, was passierte. Mein Bruder hatte eisblaue Augen. Sie wirkten zwar etwas anders, als die unserer Mutter, aber es waren dennoch blaue Augen, die zu unserer Familie gehörten, oder? Zögernd trat ich vor und griff nach ihrer Faust. Ich hatte großen Respekt vor meiner Schwester, aber ich musste ihr trotz meiner Angst vor ihrer Kraft nun beistehen. "Ki?" Hauchte ich und sofort klarte ihr Blick wieder auf.
"Tut mir leid. Ich habe geträumt." Sie schenkte mir ein Lächeln und schloss dabei ihre Augen. Ich wusste jedoch aus Erfahrung, dass sie diese Technik nur anwandte, da ihr Lächeln niemals ihre Augen erreicht hätte. Das Lächeln war nicht ehrlich und das galt ebenfalls für ihre Worte. Da steckte noch mehr dahinter, aber ich wollte nicht nachfragen. "Jedenfalls müssen wir uns vor Leon auch in Acht nehmen."
Schockiert ließ ich ihre Hand los und trat einen Schritt zurück. "Wieso? Warum glaubt ihr, ihm nicht vertrauen zu können? Er ist auch dein Bruder!"
Schweigend starrte sie auf den Boden. "Ich will gar nicht sagen, dass man ihm nicht vertrauen kann, aber wir machen viele Fehler. Kein Gestaltwandler, Druide oder Mensch ist perfekt. Wir machen alle Fehler und ich fürchte, dass Leons Rettungsmission so einer ist. Er wollte dich finden und ist vermutlich in die Hände der Darachs geraten. Es wäre zu gefährlich, jetzt nach ihm zu suchen, da wir den Krieg nicht beginnen wollen und auch noch viel zu unerfahrene Kämpfer haben. Außerdem hat Leon die Esche zerstört."
Verwirrt legt ich meinen Kopf schief. "Die Esche? Er hat einen Baum zerstört?"
"Die Esche war ein mächtiger Baum des weisen Druiden, dem Druiden, der die Gründerfamilien erschuf. Er nutzte diese Esche, um einen Ort zu schaffen, in dem ausgewählte Wesen hausen können, ohne Gefahr zu laufen, angegriffen oder von Menschen entdeckt zu werden. Diese Esche war das Zentrum der Hauptbarriere von Lupus Luna. Natürlich kamen im Laufe der Zeit noch mehr Barrieren und Schutzvorrichtungen dazu, aber die Esche war das Zentrum. Jedoch habe ich gehört von der kleinen Alexandra Williams dass Leon die Esche, willentlich oder nicht, zerstört hat und somit den Schutzschild des Internats schwächte. Was glaubst du wohl, warum Tyra das Gelände betreten konnte? Sie ist nur ein inoffizieller Gründer und könnte theoretisch die Grenzen nicht überschreiten. Es sollte immerhin auch ein Schutz vor den Menschen sein."
"Aber Leon hat diese Esche bestimmt nicht mit dieser Intention zerstört. Vermutlich war das ein Unfall. Sollte er wirklich ein Verräter, wäre er das klüger angegangen. Aber wir können nicht ignorieren, dass er etwas so zentrales zerstört hat. Einer der Gründe, warum wir nicht nach ihm suchen."
Jiaki nickte und schwieg. Ich verstand dieses Handeln, aber es war dennoch schwierig zu akzeptieren. Warum sollte Leon sein Heim willentlich in Gefahr bringen? Er schwor sich, seine Familie zu beschützen und für sie zu kämpfen. Das war nur ein dummer Fehler eines dummen Jungens.
"Gib mir deine Hand." Befahl mir meine Schwester und ohne zu zögern reichte ich ihr diese. "Das Fell der Nagual hat eine ungewöhnliche Farbe. Die meisten Gestaltwandler haben das Fell von Kojoten, Füchsen oder Wölfen, wie es sie auch in der Natur gibt. Wendigowak sind keine Tiere und Druiden sind nur Menschen. Naguals dagegen haben blaues Fell. Es ist eine Seltenheit und somit besonders beliebt bei Jägern. Großmutter hat mir oft erzählt, dass unsere Mutter nur zu den Blackstorms kam, da Peter sie zufälligerweise gefunden hat, nachdem sie aus Roparu, der ehemaligen Heimat der Naguals, geflohen ist."
Großmutter... Ich erinnere mich. Jiaki hat uns erzählt, dass unsere Großmutter Jiaki zu den Jägern brachte und später bei ihr leben sollte. Ich hätte mich auch mal gerne mit ihr unterhalten. Chao-Xing Wang war ein junger Wolf aus China und wurde später zur Luna eines mächtigen Rudels. Ich bin mir sicher, dass sie viele Geschichten zu erzählen gehabt hätte. Aber sie lebte nicht mehr.
"Großmutter meinte zwar, dass es eine lange und schwierige Reise von soweit weg sein musste, aber Mutter hatte laut ihr kaum ein Wort darüber verloren. Sie soll immer nur vom Verlust ihrer Eltern erzählt haben. Ihre Eltern seien nämlich gejagt und getötet worden. Großmutter erzählte, ihnen sei das Fell abzogen worden und Mutter hätte zugucken müssen. Danach soll sie nur gerannt sein. Ein junges Mädchen auf der Flucht, verdammt für ihre Art und gejagt bis zum Aussterben."
Ruckartig hob ich die Hand und meine Schwester verstummte. "Unseren Großeltern wurde so was angetan!?" Ich konnte nicht glauben, dass jemand zu so etwas im Stande war. Mord allein war schon grausam, aber wieso sollte man ihnen das Fell und somit die Haut abziehen, während deren kleine Tochter noch in der Nähe ist? "Warum sollte man das machen? Naguals sind keine einfache Beute. Sie sind doch Teil unserer Gesellschaft, wie jeder andere Gestaltwandler und Mensch auch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand so ein Monster sein kann." Ich habe zwar schon von Menschenhandel gehört und ihn auch am eigenen Leibe erfahren, aber das war eine ganz andere Sache.
"Es spielt auch Angst mit. Naguals haben nämlich eine ganz besondere Fähigkeit, die andere zum Schaudern bringt, sollte man sie nur erwähnen und diese würde ich dir gerne beibringen." Mit einem großen Schritt stand Jiaki vor mir und ließ ihre Reißzähne erscheinen.
Sie waren länger als die der Werwölfe und wirkten viel gefährlicher. Ich wollte ihr ausweichen, aber sie packte mich nur an den Schultern und schaute mich bestimmt an. Erst jetzt wurde mir durch ihre Ausstrahlung wieder bewusst, dass sie ebenfalls das Kind eines Alphas war. Sie war das Erstgeborene der Blackstorms und somit sehr mächtig.
"Jede Spezies besitzt eine besondere Fähigkeit, die sie von den anderen unterscheidet. Sei es der tödliche Biss der Kojoten, die Körperübernahme der Kistune oder die Fähigkeiten der anderen. Die Fähigkeit der Naguals liegt in unserem Biss." Langsam beugte sich meine Schwester runter und brührte leicht mit ihren Lippen meine Kehle.
Ein ungutes Gefühl machte sich in meinem Inneren breit und ich wollte fliehen. Es war wie ein natürlicher Instinkt oder Intuition, die mich vor Gefahren warnten. Und meine Schwester war so eine Gefahr. "Ki..." Mit zusammengebissenen Zähnen wollte ich sie von mir drücken, doch ihr Griff war zu eisern und sie bewegte sich kein Stück. "Es tut weh. Lass mich los."
"Versuch dagegen anzukämpfen und du wirst lernen, diese Fähigkeit zu fürchten." Und mit diesen Wort biss sie zu. Ihre Zähne durchdrangen die Haut meiner Kehle. Ich spürte das Blut an mir herunterlaufen und den brennenden Schmerz, der sich durch meinen Körper bahnte. Ich wollte schreien. Ich wollte schreien, dass es weh tut und sie mich loslassen soll. Doch ich tat es nicht. Vorsichtig öffnete Jiaki ihren Mund und ließ von meiner Kehle ab.
Das Blut lief aus ihren Mundwinkeln und mit ihrem roten Auge hätte ich sie auch für einen Vampir halten können. Aber die Angst war verschwunden und mit ihr jede Empfindung, die ich für einen Moment gespürt habe. Alles fühlte sie so leicht und unbeschwert an. Was war das?
"Du wirst deine eigenen Kräfte fürchten lernen." Drang eine Stimme durch den Raum und ich stimmte ihr ohne zu zögern zu, auch wenn ich nicht genau wusste, was sie meinte. "Die Fähigkeit, deinen Willen anderen aufzuzwingen und sie zu deinen willenlosen Marionetten zu machen."

If I hadn't met youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt