Kapitel 46

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"Ich gehe stark davon aus, dass du nichts weißt. Ich war zwar seit Jahren nicht mehr bei unseren Eltern, aber ich nehme an, sie haben alles vor dir verheimlicht, wenn du nicht mal meinen vollständigen Namen kanntest." Jiaki hatte mich in einen helleren Raum gezogen, der etwas einladender wirkte. Während ich sie noch einige Minuten anschwieg, brachte mir Tyra ein heißes Getränk als Entschuldigung, da sie nicht vorgehabt hatte, mich so zu erschrecken.
"Jeder hat mich belogen, also kannst du davon ausgehen, dass ich keine Ahnung habe." Gelassen zuckte ich mit den Schultern, aber merkte, wie sich Jiakis Augen verdunkelten.
"Es ist eine Schande, wenn der Erbe nichts von seinen Vorfahren weiß." Auch sie hatte ein heißes Getränk erhalten und nahm einen großen Schluck davon.
Wenn ich so ihre Art beobachtete, wies sie schon sehr viele Ähnlichkeiten mit uns auf. Thomas konnte auch kochend heiße Getränke einfach hinunterkippen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
"Das musst du mir nicht sagen." Auch ich nahm einen Schluck, aber da ich etwas empfindlicher gegenüber Wärme war, blieb es bei kleineren Schlücken.
"Dann werde ich dir alles erzählen und mit alles, meine ich auch alles." Mit etwas Schwung rückte sie ihren Stuhl etwas von dem Tisch, an dem wir saßen und legte beide Beine auf diesen, sodass ich nur ihre Schuhe vor der Nase hatte. Da ich ihr aber in die Augen sehen wollte, hievte ich mich auf den Tisch und stützte meinen Kopf auf meinen Knien ab. Erwartungsvoll starrte ich sie an.
"Es gab eine Zeit, in der jeder Gestaltwandler für sich lebte oder wohl eher jede Familie für sich. Werwölfe lebten in Nalawe, Kojoten in Norkaru, Naguals in Roparu und so weiter. Jede Familie hatte ihr eigenes Land und niemand wagte es, diese Grenzen zu übertreten außer ein Mann. Keiner weiß, wer dieser Mann war oder woher er kam, aber jeder kennt seine Geschichte. Er war ein Druide, der die Länder durchstreifte und mehr als jeder andere forschte. Ihn hielten keine Grenzen oder Gesetze auf. Wenn er etwas wissen wollte, dann forschte er solange, bis er seine Antworten hatte und eines Tages fand er zwei junge Wölfe. Sie hätten nicht verschiedener sein können. Sie ähnelten sich weder im Blute noch im Aussehen, aber der Druide nahm beide auf und liebte sie wie seine eigenen Söhne. Sie wuchsen heran und entwickelten mit den magischen Kräften ihres Vaters absonderliche Fähigkeiten, die sich niemand erklären konnte. Der eine war der Schatten der Nacht, der Nebel der Dunkelheit und die Finsternis des Morgengrauens. Der andere war das Licht des Tages, der Schein der Sonne und das Strahlen der Abenddämmerung. Sie waren das Yin und Yang der Werwölfe."
"Blackstrom und Whitenight." Überrascht ließ ich meine Arme sinken. Ich hatte mich immer damit zufrieden gegeben, wenn man sagte, man wüsste nicht, woher die Werwölfe stammten, aber ich hatte nie in Betracht gezogen, nach der Herkunft der Whienights und Blackstorms zu fragen.
"Das ist korrekt. Und wie ihr Vater waren die Ziehbrüder Wanderer. Mit ihren besonderen Fähigkeiten bereicherten sie die Ländereien und brachten Wissen mit sich. Davor haben alle Familien immer Abstand voneinander gehalten, aber als die Brüder auftauchten, änderte sich alles. Nagual jagten mit Wendigowak, Kojoten studierten mit Druiden und Kitsune trainierten mit Werwölfen. Es war eine Ära des Friedens und der Gemeinsamkeit, aber alles änderte sich, als die Menschen diese unbekannte Welt betraten. Sie fürchteten sich vor den Gestaltwandlern und Zauberern, was dazu führte, dass wir nahezu ausgerottet wurden. Der weise Druide wollte aber nicht mitansehen, wie seine Kinder und die Zukunft dieser Welt zugrunde gingen, weshalb er etwas tat, was niemals hätte geschehen dürfen. Er entwickelte ein Gen, das jede Regel der Natur über den Haufen warf. Er entwickelte ein Gen, das die Barriere überschritt, dass nur ein Gen bei Mischlingen sich durchsetzen kann. Er entwickelte das Chimären-Gen."
"Das Chimären-Gen? Was soll das bringen und was hat das mit allem zu tun?"
"Wenn jemand das Chimären-Gen besitzt und man mit jemanden aus einer anderen Spezies Kinder bekommt, dann werden diese Kinder nicht das eine oder andere, sondern beides. Die Kinder sind Chimären, ein Wesen, das aus zwei genetisch verschiedenen Arten besteht. Aber dieses Gen existierte nur einmal und nun musste sich der Druide entscheiden, welcher seiner Söhne diese Aufgabe aufgetragen bekommen sollte. Und er entschied sich für Blackstorm."
Ich runzelte die Stirn. "Du willst mir sagen, dass meine- unsere Familie das Chimären-Gen besitzt?"
"Korrekt." Ernst starrte mich Jiaki an und hatte wieder dieses ehrlich Glänzen in den Augen. Ich wollte ihr glauben, aber es kam so plötzlich und zufällig. Das ergibt doch alles keinen Sinn. Wenn wir wirklich Chimären sind, warum ist es mir dann noch nie aufgefallen.
"Du lügst." Eigentlich wollte ich nichts sagen, aber diese Worten verließen meinen Mund, ehe ich darüber nachdenken konnte.
Das schien sie zu bemerke, da Jiaki mich nur anlächelte. "Nachdem Blackstorm das Chimären-Gen erhielt, sorgte er dafür, dass er mit seinem ersten Kind zwei Spezies vereinte, um unsere Welt vor dem Aussterben zu bewahren. Wir mussten immerhin stärker werden. Stärker als der Fortschritt der Menschen, der unser Untergang war. Aber seinen Bruder überkam der Neid. Er wollte ebenfalls Erben haben, die so mächtig und stark werden, wie die Blackstorms, weshalb er sich mit einer anderen Gruppe von Druiden zusammenschloss, die ebenfalls ein Gen herstellten, was dem Chimären-Gen sehr ähnelte, das Hybriden-Gen. Doch im Gegensatz zum Chimären-Gen wird man nur als Hybrid geboren, aber die Kräfte aktivieren sich nur mit einem gewissen Ritual, was das Blut der Chimären erfordert. Der Krieg gegen die Menschen flachte ab, als sich Blackstorm und eine Gruppe von Menschen anfreundeten und sich die Gestaltwandler wieder in die Unterwelt zurückzogen, um dort getrennt von den Menschen zu leben. Aber eine weitere Bedrohung stand ihnen bevor, da Whitenight sein Hybriden-Gen unbedingt aktivieren wollte. Er jagte die Blackstorms und sie mussten mit den Menschen untertauchen, die ihnen beistanden. Seitdem sind die beiden Familien auf dem Kriegspfad und können einfach nicht vereint werden, weshalb die Whitenights eine eigene Gründerfamilie werden wollten, da sie sich niemals den Blackstorms untergeordnet hätten. Aber damit endet die Geschichte nicht. Hunderte von Jahren später sind die Whitenights immer noch auf der Suche nach einer Möglichkeit, das Gen zu aktivieren und versuchen dementsprechend an die Blackstroms heranzukommen, die sie für das Ritual brauchen. Aber die Blackstorms sind nicht so rein und perfekt, wie die Außenwelt denkt. Generationen über haben die Blackstorms nur Werwölfe geheiratet und nur ein Kind bekommen, bis Peter Blackstorm kam. Trotz der Warnung seiner Eltern heiratete er einen Nagual und bekam eine Tochter, die die erste Chimäre seit Jahrhunderten war. Aber auf dieses Kind wartete bereits der Tod. Eine Gruppe dunkler Druiden, die aus dem Untergrund stammen, wollten dieses Kind haben und mit der Kraft der Whitenights ihre eigene Welt gestalten. Und das war nur möglich, da unser Vater nicht auf seine Eltern hören wollte. Thomas, unser Großvater, musste sein Amt abtreten und wurde von seinem Sohn getötet, aber unsere Großmutter, Chao-Xing lebte. Sie ging zu den einzigen Menschen, die von allem wussten und bat um etwas, das einen Krieg hätte hervorbringen können. Sie bat die Menschen darum, Peter soweit zu bedrohen, dass er sein Kind opferte und sie somit nicht in die Hände der Darachs fallen würde. Und dort beginnt meine Geschichte."
Ich starrte Jiaki an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es war so unglaublich viel, dass ich es nicht alles ordnen konnte. Whitenights und Blackstorms hassen sich und Christopher Whitenight ist mein Mate. Fantastisch! Meine Schwester wurde durch die List unserer Großmutter praktisch verkauft und mein Bruder hasst unseren Vater seit Jahren dafür. Das habe ich verstanden, aber was hat das mit mir zu tun? "Ich verstehe aber nicht direkt, warum ihr mich entführt habt? Willst du dich an Vater rächen? Und woher weißt du das alles?"
"Dazu komme ich jetzt. Da wir den Plan der Darachs vereitelt haben, indem ich zu den Menschen gelangte, brauchten sie einen anderen Erben. Aber unser Bruder Thomas ist nicht so wie wir. Mutter ließ ihr Blut versiegeln, damit die nächsten Kinder keine Chimären werden. Das tat sie nicht, damit die Darachs nicht an sie herankam, sondern aus einem anderen Grund. Natürlich war das ein glücklicher Zufall mit Thomas, aber nicht ihr Grund. Der Grund, warum es immer nur einen Blackstorm-Erben gab, war der Fluch der Alpha."
"Der Fluch der Alpha? Meinst du das Ermorden der Vorgänger?" Es war mir dezent zu viel Wissen. Ich kam gar nicht mehr mit.
"Nein, dieser Fluch betrifft nur unsere Familie. Wenn einer unserer Geschwister die Kraft der Alpha übernimmt, werden die anderen zugrunde gehen. Das Chimären-Gen hat nämlich eine Schwäche und das ist die Tatsache, dass das Gen in Generationen denkt und immer darauf bedacht ist, sich mit den stärksten Fähigkeiten zu verbinden. Sollte ich die Kraft der Alpha übernehmen, wird dein Blut ebenfalls versuchen, sich mit irgendwas verbinden zu wollen, da es die Kraft in unserer Generation spürt, aber das ist nicht möglich. Da du diese Kraft nicht erhalten kannst, wirst du unendliche Schmerzen erleiden. Dein Blut wird brennen, deine Knochen werden zerbersten, es wird sich so anfühlen, als würden Nadeln durch dein Blut gepumpt werden, du wirst nichts mehr klar wahrnehmen können und der Schmerz wird dich in den Wahnsinn treiben. Das ist der Grund, weshalb ein Blackstorm nur ein Kind haben sollte, aber unser Vater hat jede erdenkliche Regel übergangen und uns somit diesem Leid ausgesetzt."
"Aber warte! Wenn das Blut unserer Mutter versiegelt ist, warum sollte ich dann in Gefahr sein? Thomas ist damit ein reiner Werwolf und Leon ist überhaupt kein Werwolf. Übernimm du einfach die Kraft der Alpha und keiner muss leiden!"
"Das ist das Problem. Bei euch, den Zwillingen, brach das Siegel unserer Mutter. Das Siegel sorgte dafür, dass ihr Blut niemals durch Thomas' Adern fließen wird, aber du sagtest doch selbst, dass Leon kein Werwolf sei. Das Blut unserer Mutter fließt durch meine wie auch deine Adern und auch Leon ist davon betroffen." Betrübt schaute Jiaki nach unten. "Weil dieses Siegel gebrochen ist, wurdest du zu einer Chimäre und zu einem Ziel der Darachs. Du kannst dich doch bestimmt daran erinnern, entführt worden zu sein. Der Grund dafür ist dein Blut."
Meine Augen weiteten sich. Sie hatte recht. Ich erinnere mich noch an ein Gespräch dieser Darachs. Ich erinnere mich daran, wie sie mein Blut entnahmen und sagten, dass irgendwas nicht damit stimmen würde. Jiaki sagte die Wahrheit. "Habt ihr mich deshalb entführt? Ist eure Entführung sicherer als die Entführung der Darachs?"
Jiaki nickte.
"Aber Leon ist auch noch da draußen. Schwebt er nicht auch in Gefahr? Wir sind Zwillinge!"
"Voraussichtlich nicht. Er ist kein Werwolf und demnach auch keine Chimäre." Vorsichtig betrat Tyra das Zimmer und legte ihre warme Hand auf meine Schulter. "Unsere größte Sorge bist erstmal du."
"Aber woher wisst ihr das alles? Woher nehmt ihr dieses Wissen?" Ich mochte die beiden, aber fühlte mich immer noch unbehaglich. Ich werde noch sehr viel darüber nachdenken müssen, aber jetzt brauchte ich erstmal antworten.
"Weil der Mensch, dem Blackstorm damals sein Wissen anvertraute, Kyle war. Mein Vorfahre und Gründer der einzigen Jägerfamilie in dieser Welt." Aufmunternd nahm sie meine Hand und obwohl sie im ersten Moment sehr angsteinflößend wirkte, war sie eine sehr liebevolle Frau.
"Und was genau wollt ihr nun von mir?" Sie hatten mir zwar viele Fragen beantwortet und mir eine andere Perspektive der Welt geschaffen, aber das erklärte ihr Verhalten immer noch nicht. Natürlich könnte ich es dabei belassen und glauben, sie würde mich nur beschützen wollen. Aber es steckte noch viel mehr dahinter. Warum sonst hätte sie mir von unserem Alphaflluch erzählen sollen?
Ernst schaute mir Jiaki direkt in die Augen und nahm meine Hände. Sie holte noch einmal tief Luft, ehe sie die Worte aussprach, die mich die gesamte Nacht verfolgten. "Ich möchte, dass du zum Alpha der Blackstorms wirst und unseren Vater tötest."

If I hadn't met youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt