Kapitel 88

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"Siehst du was?" Jiaki ließ sich von meinem Rücken rutschen und schaute sich um. Ich war zwar der Meinung, dass wir schneller gewesen wären, wenn sie sich auch in einen Wolf verwandelt hätte, aber dann hätte ich mit ihr darüber diskutieren müssen und das hätte zu viel Zeit gekostet. Sie wollte immerhin jede Verbindung zu unserem Vater durchtrennen und dazu gehörte auch ihr Werwolfblut.
Ich verwandelte mich zurück und schaute mich um. "Nein."
Das neutrale Gebiet im Norden war um einiges kleiner als das im Westen, weshalb wir uns schneller einen Überblick verschaffen konnten. Aber trotzdem fanden nichts. Waren wir schon zu spät?
Plötzlich bemerkte ich ein Rascheln und entdeckte einen dunklen Schemen. "Schwester." Flüsterte ich und sie kam sofort angerannt. Gemeinsam liefen wir in die Richtung des dunklen Schemens.
Es wirkte wie eine zusammengesackte Gestalt und als ich sie aufstöhnen hörte, war ich mir sicher. Das war mein Zwillingsbruder!
Ich wollte auf ihn zulaufen und ihm helfen, aber Jiaki griff nur nach meiner Schulter und hielt mich zurück. Ich wollte erst was sagen, aber ich realisierte sofort, dass es dämlich wäre, einfach auf ihn zu zulaufen. Wir wussten nicht, was dort in der Dunkelheit auf uns wartete.
"Ihr seid also endlich gekommen." Eine sanfte Stimme drang durch die dunkle Nacht. Sie wirkte charmant und höflich, aber da sie von jemandem aus dem Darach-Rudel stammte, konnte der Besitzer auch nur skrupellos sein.
"Wir haben eure Anforderungen befolgt. Jetzt gebt ihn uns wieder!" Befahl ich mit fester Stimme. Ich durfte jetzt keine Schwäche zeigen oder mich einschüchtern lassen, aber irgendwas war an dieser Situation und an dem Besitzer der Stimme komisch.
"Das sehe ich. Es sind wirklich nur Chimären gekommen. Siehst du das, Kleiner? Die Familie ist gekommen, um dich zu retten!" Ein weiterer Schatten erschien aus der Dunkelheit. Das war der Besitzer der sanften Stimme. Beide standen nun einige Meter von uns entfernt am Eingang eines Waldes. Hinter diesem Wald lag nur braches Land. Das wusste ich. Sollten sie fliehen wollen, müssten sie eine offene Fläche überqueren und das war für sie mehr als unvorteilhaft. Sie würden also nicht in der Dunkelheit verschwinden können.
Die Gestalt war um einiges größer als Leon, was aber auch daran liegen könnte, dass Leon auf seinen Knien zusammengesackt saß. Er muss sehr erschöpft sein, aber das kann man ihm bei der Folter auch nicht verübeln. Die Person war mit Sicherheit ein junger Mann. Seine Hände kamen zum Vorschein, welche einen ungesunden hellen Hautton besaßen und packten Leons Schultern.
Sofort zischte er vor Schmerzen auf. Er hatte seinen linken Arm verloren und ich war mir sicher, dass sein Rücken auch sehr verwundet aussehen musste. Aber wir regten uns nicht. Wir wussten nicht, wie viele Darach-Rudelmitglieder hier waren, also war es sicherer, sich still zu verhalten.
"Freust du dich denn nicht? Sie sind für dich hier. Willst du ihnen denn nicht ein erleichtertes Lachen schenken?" Und mit diesen Worten packte er Leons Kinn und riss es in die Höhe. Erst jetzt konnten wir sein dreckiges Gesicht sehen. Es war voller Sand und blutverschmiert. Er wirkte leichenblass und abgemagert. Seine Augen waren geschlossen und ich nahm an, dass es wegen der Schmerzen im ganzen Körper war.
"Was sollen wir tun, damit wir ihn wiederbekommen?" Meine Stimme drang erneut durch die Nacht und ließ die dunkle Gestalt in seinem Handeln stoppen. Er ließ von Leons Kinn ab und stützte sich wieder auf seinen Schultern ab.
"Ihr? Das ist eine gute Frage. Was könnte ihr tun? Wie viel ist ein Leben wert? Diese Frage habe ich mir schon oft gestellt und viele Darachs erforschen auch diese Fragestellung. Wie viel muss man geben, um ein Leben zurückzubekommen? Die Druiden lassen sich von sehr vielen Regeln und Einschränkungen in ihrem Handeln eingrenzen. Es ist eigentlich schade, da viele Talente verloren gehen. Wenn man doch nur über sich herauswachsen könnte und einfach zum Darach werde würde. Kannst du mir sagen, wie viel sein Leben wert ist? Kannst du mir sagen, wie viel die Leben wert waren, die ihr genommen habt?" Erst jetzt fiel mir auf, dass der junge Mann eine Kapuze trug und ich nur die untere Hälfte seines Gesichts sehen konnte. Er schenkte mir ein Lächeln, aber es löste bei nur ein Gefühl aus: Angst.
"Lass dich nicht von ihm verwirren, Prinzessin." Flüsterte mir Jiaki zu. "Beeil dich bitte. Ich habe ein sehr ungutes Gefühl bei dieser Sache."
"Jiaki, willst du denn nicht selbst für dich sprechen?" Rief die erhobene Gestalt. "Rede mit mir. Ich beantworte gerne eure Fragen!" Woher kannte er ihren Namen? Es war doch allgemein bekannt, dass Jiaki eigentlich tot sein müsste. Nur die Allianz wusste von ihr. Woher wusste er davon?
"Wir wollen nur unseren Bruder wiederhaben!" Sagte sie. Wenn ich ein Außenstehender gewesen wäre, hätte ich gedacht, sie sei eine starke und furchtlose Frau, aber als ihre Schwester erkannte ich, wie viel sie sich davor fürchtete, mit diesem Mann zu sprechen. Und dieser Mann schien es auch zu wissen.
"Da bin ich mir nicht so sicher." Er grinste uns erneut an, aber irgendwie steckte hinter diesem Grinsen mehr als hinter einem höhnischen Gelächter.
Wir schwiegen alle. Für einen Moment geschah nichts, aber die Angst breitete sich in meinem Inneren aus. Ich hatte schon lange nicht mehr so etwas gespürt.
"Ich weiß!" Sagte der Mann dann endlich und ließ Leon los. "Olivia hat immer nach der Wahrheit gesucht und sie nie gefunden. Ich beneide sie. Unwissenheit bringt Unschuld. Wenn du Dinge nicht weißt, kannst du dein Leben unbeschwert genießen und kennst die schreckliche Wahrheit hinter allem nicht. Ich will ihr diese Unschuld nehmen. Das ist der einzige Preis, den ihr zahlen müsst, um den kleinen Mann hier wiederzubekommen!"
Ich zögerte. Ich wollte erst zustimmen, aber irgendwas sagte mir, dass ich nicht einwilligen sollte. Etwas schrie mich an, zu fliehen, solange ich noch unwissend war, aber ich wollte die Wahrheit erfahren. "Gut, ich stimme zu. Was willst du mir sagen?"
"Du weißt doch bestimmt, dass die Kyles bei einem Massakar ausgerottet wurden, stimmt's?" Eine neue Stimme erklang in der Dunkelheit. Sie klang noch gefährlicher als die des Jungen und all meine Sinne riefen mir zu, ich solle fliehen.
"W-" Begann Jiaki und brach plötzlich zusammen. Verwundert drehte ich mich um und sah dabei zu, wie sie sich die Ohren zuhielt und mit unendlicher Angst in den Augen zu schreien begann.
Verwundert wich ich ihr kurz aus, bis ich realisierte, dass ich die anderen nicht vestehen würde, sollte sie weiterhin schreien. Aus diesem Grund nahm ich sie in den Arm und hoffte, dass sie sich beruhigte. Aber sie schüttelte nur den Kopf und stieß mich von sich.
"Wir müssen fliehen! Jetzt!" Schrie sie und rannte schon los, aber ich bewegte mich nicht. Das bemerkte sie dann und drehte sich um. "Bist du lebensmüde? Komm!"
Aber ich schüttelte nur den Kopf. "Ich habe eingewilligt. Ich werde nicht gehen und du solltest auch bleiben. Wir können Leon nicht einfach zurücklassen." Irgendein Gefühl kam in meinem Inneren auf, als ich sah, wie sehr Jiaki mit sich rang und sich letztendlich doch dazu entschied, zu bleiben.
Ich drehte mich wieder zu den drei Männern und bemerkte, dass auch sie sich kein Stück bewegt haben. Sie schienen gewusst zu haben, dass ich bleiben würde. Zitternd nahm Jiaki meine Hand und klammerte sich an mich, ohne aufzusehen.
"Gut." Sagte der neue Mann und trat aus dem Schatten. Im Gegensatz zu dem jungen Mann verdeckte er sein Gesicht nicht unter einer Kapuze. Er hatte dunkelblonde Haare, die im Schatten fast golden wirkten und trug einen schwarzen Anzug, der ihn sehr seriös wirken ließ. Jedoch konnte ich seine Augen nicht sehen, da er eine Sonnenbrille trug, aber irgendwie kam er mir bekannt vor. Ich wusste nur nicht, woher. "Wir Darachs sind nicht dumm. Wir haben schnell herausgefunden, dass die Jäger unsere Chimäre an sich gerissen haben, um sie selbst beschützen zu können, aber das konnten wir nicht zulassen. Wir machten sie schnell ausfindig und bestraften sie dafür, dass sie unsere Chimäre entführt haben. Die ehemalige Luna und ein paar Menschenkinder waren auch da. Zu schade eigentlich. Sie hätten nicht sterben müssen, aber Kolleteralschaden bleibt unumgänglich."
Bei jedem Wort, das der Mann sagte, verkrampfte sich Jiaki mehr. Ich wusste, dass sie mitansehen musste, wie ihre Adoptivfamilie ermordet wurde, aber ich verstand nicht, warum sie so extrem darauf reagierte. Bis jetzt wurde noch nichts schockierendes gesagt.
"Wir haben die Chimäre gefunden und mitgenommen. Da es jedoch mehr als nur eine Chimäre brauchte, mussten wir sie erstmal aufsparen. Wusstet ihr, dass wir irgendwann erfahren haben, dass das Alphapärchen wieder ein Kind erwartete? Und was wäre eine bessere Methode, ein Rudel unter Kontrolle zu haben, als einfach einen seiner Leute in ihre Mitte zu setzen? Wir mussten nur unseren Spitzel mit einem Blackstorm-Kind austauschen, um sie einerseits jederzeit beobachten zu können und um andererseits bereits eine weitere Chimäre zu haben."
Ich starrte sie an. Ein Blackstorm-Kind war gar kein Blackstrom, sondern ein Darach?
"Ich kann euch aber beruhigen. Wir haben nicht einfach ein beliebiges Kind in eure Mitte gesetzt. Wir haben schon darauf geachtet, dass ihr miteinander verwandt seid." Jiaki verkrampfte sich und ihre Haltung sagte mir, dass es nur noch einen Satz brauchte, ehe sie zusammenbrechen würde. "Die kleine Jiaki war gerade einmal elf Jahre alt, aber verdammt hatte sie ein Durchhaltevermögen."
Mir wurde übel. Das konnte doch nicht sein ernst sein. Jiaki schrie auf und brach zusammen. Ich hörte sie an meiner Seite schluchzen, aber ich konnte meinen Blick nicht von dem Mann vor uns nehmen. "Du hast sie..." Ich schluckte. "vergewaltigt?"
Erneut erschien ein Grinsen auf seinen Lippen, das keinerlei Reue zeigte. "Nicht nur das, sie trug auch mein Kind aus und war für acht Monate mein Sklave. Wir mussten das Kind aber etwas zeitiger aus ihr herausschneiden, damit es noch rechtzeitig ausgetauscht werden konnte. Du hast ja keine Ahnung, wie sehr das kleine Mädchen geschrieen hat. Ich war überrascht, dass sie mir danach noch entfliehen konnte, aber wie das Schicksal es so will, ist sie wieder bei mir." Und mit diesen Worten griff der Mann nach seiner Sonnenbrille und nahm sie ab.
Zwei eisblaue Augen erschienen in der Dunkelheit und ich wich reflexartig einen Schritt nach hinten. Ich hatte dieses Eisblau schon mal gesehen. Als ich in Jiakis Gedankenwelt eingedrungen bin, habe ich genau diese Farbe gesehen und die pure Angst in Jiakis Innerem hatte sich auch auf mich übertragen. Ich verstand nun auch, warum.
"Wo wollt ihr denn hin? Wir sind noch nicht fertig." Seine unbekümmerte Stimme ließ mich stoppen. Ich wollte tatsächlich wegrennen, aber ich hatte eingewilligt, mir alles anzuhören. "Mein Name ist Zolin Alvizo und ich bin einer der Drei Könige." Seine kalten Augen bohrten sich in meine Seele und fesselten mich an Ort und Stelle. Er drehte sich um und lief auf die andere Gestalt und auf Leon zu. "Und das ist mein Sohn Mictlan Alvizo." Und mit diesen Worten packte er Leons Schulter und zog ihn hoch.
Ich verspürte nichts. Ich konnte nur zu den beiden starren, während mich Jiaki anflehte, mit ihr wegzurennen. Ich fühlte meinen Herzschlag nicht mehr, aber wusste das ich noch lebte, aber wozu?
Leon, mein Zwillingsbruder, mit dem ich mein ganzes Leben verbracht hatte, war nichts weiter als eine Lüge? Ich hatte ihm das zwar immer vorgeworfen, aber ich hatte nie wirklich gedacht, dass es der Wahrheit entsprechen könnte.
Langsam klopfte er mit einer Hand den Dreck von seinen Sachen und schaute dann direkt zu mir. Ich hatte immer gedacht, dass er die blauen Augen unserer Mutter geerbt hatte, aber jetzt erkannte ich, dass er die gleichen Augen wie sein Vater hatte. Er schaute mich an, als würde er mich nicht kennen und dieses kalte Blau brannte sich in meinen Kopf. Alles war eine einzige Lüge.
"Mictlan hat sehr gute Arbeit geleistet, indem er dich immer im Zaun gehalten hat. Er hat uns brav mit Informationen über dich gefüttert und auch die Esche zerstört, damit die Jäger die kleine Nagual-Prinzessin aus Lupus Luna holen und wir einfacher an sie herankommen konnten. Und wenn du dich jetzt fragst, ob seine ganze Liebe eine Lüge war, dann ist hier die Antwort."
Grinsend schob Zolin seinen Sohn vor, der keinerlei Schmerzen zu haben schien. Das war also auch eine Lüge. Er schaute mich mit seinen kalten Augen an und mir wurde auch bewusst, warum mir Zolin so bekannt vorkam. Mictlan, das Gesicht, mit dem ich aufgewachsen bin, kam sehr stark nach seinem Vater. "Alles, was ich getan habe, war für das Darach-Rudel." Die kalte Stimme des Jungens, den ich für meinen Bruder gehalten habe, drang durch die schier endlose Nacht. "Ich empfinde nichts von dem, was ich dir damals vorgespielt habe, Tante Olivia."
Ich starrte ihn an. Ich konnte nichts tun, außer ihn anzustarren. Mein rechtes Auge brannte, aber ich wusste, dass ich jetzt nicht weinen würde. Ich wusste, dass ich vermutlich nie wieder in der Lage sein werde, zu weinen. Meine Tränen sind versiegt. Ich fühlte mich nur leer.
Meine Großeltern hatten uns verlassen und waren alle tot. Meine Eltern hatten mich mein Leben lang belogen. Meine große Schwester verheimlichte stetig Dinge vor mir und mein Bruder hat mir nichts als nur Probleme bereitet und Lügen erzählt. Meine Adoptivschwester hat eine wichtige Botschaft mit meinem Mate versteckt und mich belogen. Und mein eigener Zwillingsbruder war gar nicht mein Bruder, sondern der Feind selbst. Ich hatte nichts mehr- was redete ich denn da? Ich hatte in erster Linie nichts, da alles nur eine reine Lüge war!
Ich schaute von Zolin zu Mictlan. Beide musterten mich aus ihren kalten Augen, aber wirkten irgendwie interssiert. "Und wer ist das?" Fragte ich und zeigte auf den jungen Mann, der sein Gesicht mit einer Kapuze verdeckte. Jiaki zerrte an mir. Sie konnte wohl ihre Beine nicht mehr bewegen und wollte, dass ich ihr helfe, aber ich wollte nicht mehr laufen. Ich hatte genug davon.
"Das verletzt mich jetzt aber." Der junge Mann grinste und lief auf mich zu. Einen Meter vor mir blieb er stehen und schenkte mir ein liebevolles Grinsen. "Willst du mir etwas sagen, dass du mich nicht erkennst?" Leicht schob er seine Unterlippe vor, aber als ich nicht reagierte, hörte er sofort auf. "Ich bin's." Und mit diesen Worten griff er nach seiner Kapuze und schob sie sich vom Kopf. Darunter kam ein Junge in meinem Alter zum Vorschein. Seine Haare waren tiefschwarz und fielen ihm leicht ins bleiche Gesicht. Und seine Augen hatte wie Jiakis zwei verschiedene Augenfarben. Sein rechtes Auge war tiefschwarz und bodenlos, während sein linkes Auge eine klare blaue Farbe wie ein unbewölkter Himmel hatte. Und ich erkannte dieses Gesicht. Er trug mein Gesicht.
"Leonard." Hauchte ich, als ich den Jungen vor mir anstarrte. Wieder erschien ein Grinsen auf seinen Lippen, aber da ich nun endlich sein vollständiges Gesicht sehen konnte, merkte ich, dass es ein ehrliches Grinsen war. Seine Augen wirkten etwas wässrig und als er seine Hand ausstreckte und meine Wange berührte, fühlte ich mich erschreckend wohl.
"Endlich kann ich dich wiedersehen. 17 Jahre lebten wir getrennt und nun sehen wir uns endlich wieder." Eine Träne lief über seine Wange, als ich mich leicht gegen seine Handfläche lehnte. "Komm mit uns, Livvy. Bei den anderen hast du immer nur Schmerz und Leid erfahren, aber bei uns wirst du Großes erreichen können!" Seine großen, ehrlichen Augen leuchteten.
"Tu das nicht! Die Darachs sind unsere Feinde!" Panisch griff Jiaki nach meinem Bein, aber ich reagierte nicht, selbst als sie meine Hand nahm und daran zerrte.
"Wir sind ihre Feinde? Wir haben ihr wahres Selbst nicht all die Jahre unterdrückt oder ihr das Bild einer glücklichen Familie vorgegaukelt. Wir haben Mictlan bloß zu ihr geschickt, damit er sie im Augen behalten konnte. Schau sie dir an, Ki, wir sind nur wenige Minuten zusammen und schon zeigt sie ihr wahres Ich!" Vorsichtig nahm er mein Gesicht und drehte es zu unserer Schwester, die mich mit schockierten blauen und grünen Augen anstarrte. "Endlich kannst du ihre Heterochromie sehen. Es ist eine Schande, dass ihr wunderschönes rechtes blaues Auge so lange unterdrückt wurde. Aber das einfachste wäre ja, sie selbst zu fragen."
Schockiert starrte mich Jiaki an. "Du darfst nicht mit ihnen gehen. Hast du vergessen, was mir Zolin angetan hat? Was er Tyra und Großmutter angetan hat? Vergiss nicht, dass sie viele Läufer geopfert haben und das einfach so. Vergiss nicht, was sie dir vor zehn Jahren angetan haben!"
"Damit hatten wir nichts zu tun." Verteidigend hob Leon seine Hände. "Die Naguals halten sich aus Experimenten raus. Den Schmerz verdankt sie einzig und allein den Darachs und die kann ich persönlich auch nicht leiden."
"Das sind alles Lügen! Olivia, bitte tu das nicht!" Jiaki umklammerte meine Hand und zerrte daran, damit ich zu ihr kam und nicht mehr so nah an Leon stand. Er stand nur schweigend daneben und ließ sie gewähren. "Olivia, bitte."
Ich schwieg. Alle starrten mich erwartungsvoll an. Jiaki zerrte verzweifelt an meinem Arm, während Leon mich hoffnungsvoll anlächelte. Ich schaute zu Zolin, der Mictlans Gesicht säuberte. Mein Neffe bemerkte meinen Blick und schenkte mir ein entschuldigendes Lächeln, als wollte er sagen: Tut mir leid, dass ich so unhöflich war. Ich wollte dich nicht verletzen.
"Ich hatte nichts." Sagte ich dann schließlich, was Jiaki geschockt die Luft anhielten ließ. Leon schenkte mir einen traurigen Blick. "Ich wurde immer belogen und habe all die Zeit nur gelitten. Und wenn ich glaubte, etwas zu haben, wurde es von mir gerissen." Ich löste meine Hand von Jiakis und trat wieder an Leon heran. "Ich bin nur eine Hülle von dem, was ich hätte sein können." Vorsichtig nahm ich seine Hände und drückte sie. "Ich kann nicht mehr zurückkehren."
Und das war das Stichwort für Leon. Sofort befreite er sich von meinem Griff und zog mich in seine Arme. Ich hörte nur, wie Jiaki meinen Namen schrie, aber sofort verstummt, als ein Mann an uns vorbeilief und sie vermutlich ruhig stellte. Ich hatte mich entschieden.
"Lass uns nach Hause gehen, Livvy."
"Okay, Leon."

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