Wie ein junges Reh, das den Schuss des Jägers im dunklen Wald hörte, springt Harry hastig auf. Seine grünen Augen sind groß, als würde er die Gefahr hinter einem Gebüsch entdecken. Angst, Sorge und tausende Gedanken spiegeln sich in diesem glasigen Blick wieder, der direkt zu mir gerichtet ist.
Erschrocken, ebenso besorgt wie er, schaue ich immer wieder zwischen Fernseher, in dem man Bilder zu irgendeiner Schiffstaufe sehen kann, und Harry, der mich mit diesem gequälten Ausdruck ansieht, hin und her.
Stammelnd, unbeholfen auf der Suche nach den richtigen Worten, richte ich mich langsam auf. Doch schon in diesem Augenblick stürmt der Mann los, sich seine Boots schnappend und in den Flur stürmend.
"Ich bring die um, wenn sie ihr etwas angetan haben", flucht er grimmig, wütend gegen meine Kommode, heute zum bestimmt schon dritten oder vierten Mal, tretend. "Diese scheiß Mistkerle!"
Mit wackligen Beinen eile ich ihm nach, im Türrahmen stehen bleiben. "Vielleicht kommt sie gleich", versuche ich ihn zu beruhigen. "Warte doch noch ein paar Minuten. Was wenn sie aufgehalten wurde?"
"Meine Mom kam noch nie zu spät, Honor", zischt Harry mir, sich nach vorne beugend, entgegen. "Sie hast Unpünktlichkeit."
Wild rennt er nun von der einen Ecke des Flures, zur nächsten, rauft sich verzweifelt fluchend die Haare, immer wieder fiebrig auf die kleine Uhr schauen, die sich über dem Schrank befindet. Er würde am liebsten los stürmen, ich kann es genau erkennen.
Die Muskeln angespannt, die Hände zu Fäusten geballt, den Blick kritisch zum Türgriff, als würde dieser sich gleich bewegen. Und die Ohren gespitzt, falls das Klingeln der Haustür schrill in unseren Ohren ertönt.
Nichts passiert.
Die Türklinke bewegt sich nicht, da Anne keinen Schlüssel besitzt, und das laute Läuten verbleibt.
Auch meine Angst und Anspannung steigen ins Unermessliche, während meine Gedanken sich die schlimmsten Szenarien ausmalen.
Ich bezweifle aber nicht, dass Harrys schlimmer sein werden, da er sich mit allem auskennt, weiß, wo sie sich befindet und bei wem. Er kennt diese Menschen, während ich keinen blassen Schimmer besitze, wo drin wir uns befinden.
Wo sollte ich denn nach den beiden suchen, wenn der Mann wirklich plötzlich die Wohnung verlassen hätte?
"Ich geh, Honor!"
"Zieh dir was an und warte", halte ich ihn schnell warnend auf, greife noch rechtzeitig nach seinem Handgelenk. Mir ist nicht zum Scherzen zumute, weswegen ich meinen Spruch zu seinem Aufzug hart herunterschlucke.
In Boxershorts und den schwarzen Boots wollte er die Wohnung verlassen, rauf auf die Straßen laufen, so aufgebracht wie er ist. Damit hätte er wahrscheinlich sofort die Blicke der Menschen auf sich gezogen und wäre wohl eher auf einer Polizeistation gelandet, da man ihn für einen Verrückten hält.
"Und ich komme mit", meine ich dann entschlossen und mit der Hoffnung, Harry etwas Zuversicht zu schenken.
An seiner Hand lässt er sich von mir ins Schlafzimmer schleifen, wo er sich sofort Jeans und Oberteil schnappt, welches er sich überzieht, dann entgegnet: "Vergiss es, du bleibst hier! Das ist viel zu gefährlich!"
Mit dieser Antwort rechnete ich. Deshalb kann ich schnell und überzeugend kontern, bin innerlich stolz auf mich selbst: "Und was, wenn diese Menschen hier klingeln, ich ohne Bedacht die Haustür öffne, weil ich denke, dass du und Anne zurück seid? Die könnten sonst etwas mit mir machen, Harry!" Bei dem letzten Satz hebe ich meine Stimme wehleidig, schaue unschuldig in seine grünen Augen.
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Small Freaks
Fanfiction"Es fühlt sich an wie sterben!" Honor muss feststellen, dass auch sie sich in den Menschen aus ihrer Umgebung täuschen kann. Doch nicht nur sie schätze Menschen falsch ein, sondern auch Harry, der dadurch wütend wird, beginnt an einigem zu zweifeln...