292-Elisabeth

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Ein ungutes Gefühl von Schuld plagt mich, während meine Augen durch die aufgeräumte Küche, auf der Suche nach dem Verbandskasten schweifen. Mein Magen fühlt sich so an, als würden die Rühreier von heute Morgen gleich auf dem polierten Boden landen.

Damit würde ich mir dann meine Sympathie bei Harrys Vermieter verspielen.

Aber meine Gedanken fühlen sich so berechtigt an.

All die Jahre, vom Anfang meiner Schulzeit, bis zum heutigen Tag erscheinen mir, wie ein Bündel an Katastrophen, die durch mein Handeln, meine Anwesenheit ausgelöst wurden. Die Linien verlaufen immer wieder zu mir.

Jemand hätte Sky retten können, sie vor sich selbst schützen, wenn ich nur damals meinen Mund aufgemacht hätte. Am besten wäre es gewesen, wenn ich niemals auf ihre Begrüßung geantwortet hätte, wodurch sie und ich niemals Freunde geworden wären. Dadurch wäre sie von Louis und Harry nie bemerkt worden.

Der Unfall wurde durch mich verschuldet. Als ich damals vor das Auto lief versetzte ich meine Eltern in Angst und Schrecken. Meine Mutter weinte bitterlich an meinem Bett, in dem ich schlief, wobei der gesamte Raum von den Piepen der Maschine erfüllt war. Diesen Anblick stelle ich mir als Horror für jede Mutter vor.

Wir wären nicht umgezogen, wenn ich etwas mehr Mut besäßen hätte. Die Worte von Louis und Harry wären an mir, wie an einem Schutzschild abgeprallt. Doch das taten sie nicht, weswegen meine Eltern so viel aufgaben. Meinetwegen!

Der Kindergarten wäre vor vier Jahren niemals abgebrannt, wenn ich mich geweigerte hätte meinen Gefühlen gegenüber Harry nachzugeben. Ich konnte ihn nicht abblitzen lassen, war so egoistisch und ging meinen eigenen Wünschen nach, womit ich den Kindergarten direkt in die Flammen schickte.

Für Louis schüttete ich damals den Benzin aus.

Mein Egoismus ging weiter, als ich Harry bat nach London zu ziehen. Er hätte in Corby bleiben müssen. Dort, wo sein Vater ihn niemals finden würde, wäre er sicher gewesen. Der Mann wollte niemals studieren, gab aber nun seine Wohnung, seinen Job und seine Ansichten auf.

Die Gefahr, die nun für Harry und ebenso seine Mutter existiert ist auf meinen Mist gewachsen. Anne meinte selber, dass ich für alles die Schuld trage, man mich mit involviert. Alles kann schlimm, gefährlich enden, wenn ich nur einen Fehler begehe. Und ich begehe häufig Fehler.

Der Blumentopf gerade, wäre nicht runtergefallen, wenn ich nicht einfach ohne jegliche Erlaubnis das Haus betreten hätte. Harrys Hand würde nicht mit Kaktusnadeln durchlöchert sein und sein Vermieter nicht wütend. Der Lockenkopf soll seine Wohnung nicht verlieren, die er sich nur wegen mir besorgen musste.

So viele Dinge sind wegen mir geschehen. Wegen meinem Handeln, meinem Nichthandeln. Wegen meiner Anwesenheit, meiner Tollpatschigkeit. Die Gefahren, Unfälle, Verletzungen passieren, weil ich in Harrys Leben stehe.

Bin ich wirklich so ein Fail, wie mir schon in der Schule eingebläut wurde?

"Miss Chapel?"

Die alte Stimme des Mannes ertönt mit einem Mal hinter mir, worauf ich mich erschrocken umdrehe. Mit einem rasend schnell pochenden Herz starre ich in die dunklen Augen, welche mich skeptisch mustern. Auf der Stirn der alten Haut entdecke ich eine Falte, welche mir das Misstrauen des Mannes verdeutlicht.

"Ja?", krächze ich, ehe ein Schluchzen, das ich nicht unterdrücken kann, folgt. Die kleinen Tränen unter meinem linken Auge wische ich schnell mit meinem Handrücken weg, räuspere mich dann. "Ich -ähm... Ich finde Ihren Verbandskasten nicht, Sir."

Eigentlich habe ich diesen noch gar nicht gesucht, teile dies dem Mann jedoch nicht mit, der nun in den Raum gehumpelt kommt, sich dabei schwer auf den braunen Stock abstützt. "Hier unten, hinter dem Mülleimer", erklärt er mir. Die Spitze der Krücke deutet auf eine Schranktür.

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