287-die letzte Hoffnung

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Man fürchtet sich vor schwierigen Prüfungen, selbst wenn man gelernt hat, wochenlang lernte, Bücher verschlang und jedes Wort in sich aufsaugte. Trotz allem hockt man mit feuchten Händen auf seinem Platz, den noch umgedrehten Prüfungszettel vor sich liegend.

Beim ersten Mal schwimmen, ohne Schwimmflügeln um die dünnen Arme, zittert man wie verrückt. Auch wenn ein Erwachsener mit offenen Armen im Wasser wartet, sagt, dass man ihm vertrauen kann, traut man sich nicht. Wer weiß, was geschehen könne, obwohl sich nichts großartig ändert, außer der Tatsache, dass die tragenden Flügel fehlen.

Wenn man zum ersten Mal hinter dem Steuer eines Wagens sitzt, schießen viele Szenarien in deinen Kopf. Blut, lautes Gekreische, gebrochene Knochen und qualmende Autos erscheinen. Du versuchst loszufahren, was jedoch nicht klappt. Vor Aufregung hat man die Handbremse vergessen.

Eine Menge Mädchen verbinden ihren ersten Frauenarztbesuch mit Angst, Qualen, komischen Stühlen und blauen Handschuhen. Sie haben Angst, wollen am liebsten nie hingehen. Doch was geschieht? Man redet.

Vor all diesen Sachen fürchtete ich mich sehr, spürte immer eine große Übelkeit in meinem Magen, bevor ich einen Test, geschweige denn eine Prüfung schrieb. Als ich das erste Mal ohne Schwimmflügel schwamm, ertrank ich beinahe, da mein Gehirn aussetzte, ich jegliche Bewegungen vergaß. Meine erste Fahrstunde sehe ich immer noch als Horror an, denn ich schaffte wirklich gar nichts, fürchtete mich vor meiner Tollpatschigkeit und Ungewissheit über den Straßenverkehr. Und über meinen ersten Arztbesuch möchte ich gar nicht erst weiter nachdenken.

Immer wieder besaß ich große Angst vor diesen unbekannten Dingen.

Und auch jetzt fürchte ich mich, weiß nicht genau, was mich erwarten wird, was Harry und Anne mir erzählen werden. Es könnte alles Mögliche beinhalten. Doch trotz allem vertraue ich dem Lockenkopf, der nun liebevoll nach meiner schwitzenden Hand greift, die er in seine nimmt, mir seinen Beistand ausdrückend umklammert.

Aufgeregt spüre ich mein Herz in meinem Brustkorb pochen. Blut wird in einer hohen Geschwindigkeit durch meine Venen gepumpt, damit ich nicht umkippe. Meine Atmung verläuft stockend, wie die erschöpften Schläge eines Boxers auf seinen Gegner treffen. Mit leicht schwächelnden, halb zugefallenen Augenlidern blicke ich in das Grün, welches mir noch die letzte Hoffnung und den letzten Mut schenkt.

Keiner der beiden mir gegenübersitzenden Personen bringt einen Ton hervor.

Anne sieht schweigend auf ihre Finger, die sie gefaltet auf ihren Schoss liegen hat. Ein paar schwarze Haarsträhnen hängen ihr ins Gesicht und etwas erkenne ich ein nachdenkliches Gesicht, die kleinen Falten auf ihrer Stirn, welche der neben mir sitzende Mann ebenfalls aufweist.

Harry denkt nach. Angestrengt, sowie überfordert. Er weiß nicht, womit er anfangen soll, was er sagen möchte, darf und wird. Diese Gefühlslage lese ich aus den grünen Augen, welche sich nun von mir weg bewegen.

Besonnen beißt er sich auf die Unterlippe, rückt ein Stückchen näher, bevor er tief Luft holt. Angst spiegelt sich auf seinem Gesicht wieder. Angst, Ungewissheit und ein Ausdruck, der mich um Vergebung bittet.

"Erinnerst du dich noch an die Zeit, als Willoughby mich schubste?", beginnt er ruhig, genau meine Reaktion mein Gesicht musternd abwartend.

Schweigend nicke ich.

Diese Zeit werde ich wahrscheinlich nie vergessen. Meinen Schmerz und das Bangen vor dem Verlust. Ein Leben ohne Harry erschien mir so leer, trostlos und wenige Monate später erfuhr ich, dass ich damit vollkommen falsch lag.

Denn es ist noch viel schlimmer.

Leonard verletzte Harry damals so sehr, dass er im Koma lag, nicht aufwachte und keiner der Ärzte mir genaue Details verraten konnte. Jeden Tag durfte ich nur weinend an Harrys Bett hocken und auf ein Lebenszeichen seinerseits warten. Ich schlief kaum, aß wenig und wollte nichts tun, bis er endlich erwachte.

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