284-kreuz und quer

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Fassungslos, starr schaue ich auf die weißen Linien, die sich über Harrys Rücken ziehen, stammele innerlich dummes Zeug und bekomme kein klares, vernünftiges Wort hervor. Mein Herz rast, meine Atmung stockt vor Schreck.

Da sind Narben auf seinem Rücken.

Den Traum erklärte ich mir vor wenigen Minuten noch als Einbildung, als ein Hirngespinst meiner Angst. Ich glaubte nicht daran, dass dies wirklich geschah, wurde auch noch von Harry beruhigt und nun...

Jetzt liegt er auf dem Bauch, mir seinen Rücken zeigend, auf dem die Striche kreuz und quer, lang und kurz, tief und schwach verlaufen.

Tränen rinnen über meine Wangen, tropfen zu Boden, während ich zitternd, hart schluckend meine Hände weiterhin vor meinen Mund halte. Der Schock sitzt tief in meinen Knochen.

Seufzend richtet der Mann sich nun auf, sein Hemd wieder anziehend, jedoch nicht zuknöpfend. Besorgt, mit einem reumütigen Blick sieht er mich an, wartet darauf, dass ich vielleicht etwas sage. Die Hand mit dem Kreuz drauf greift nach meinen Handgelenken, wodurch sich meine schwachen Finger von meinen flirrenden Lippen wegbewegen.

Wärme umschließt die kalte Haut. Halt und Liebe will er mir durch seinen festen Druck schenken, mir sagen, dass alles gut wird, doch dies kann ich gerade nicht glauben.

Keine der Narben sah frisch aus, neu oder jünger als ein Jahr aus. Sie sind sogar schon verheilt und doch verlaufen einige so tief in der weichen Haut, so gerade und andere wiederum nur schwach, als wenn der verletzende Gegenstand Harrys Haut kaum berührte.

Mein Magen zieht sich zusammen, alles in mir bebt aus Trauer, Angst und dem Mitleid gegenüber Harry.

Wie lange musste er diese Schmerzen ertragen? Wer tat ihm das an?

Dies sind nur zwei von vielen Fragen, die in meinem Kopf umherschwirren und mir keine Ruhe lassen. Jemand verletzte ihn, schlug Harry, hinterließ seine Spuren auf dessen Rücken. Da gibt es eine Person, die dem Mann, den ich vom ganzen Herzen liebe, öfters, bestimmt über Monate hinweg wehtat, weil es ihr oder ihm Spaß macht.

Und ich konnte nicht für ihn da sein, bemerkte gestern nichts davon und hätte wahrscheinlich euch heute diese Sache immer noch nicht entdeckt, wenn dieser qualvolle Traum nicht gewesen wäre.

In diesem erlitt ich bestimmt nur die Hälfte von dem, was Harry durchmachen musste. Man schlug mich nicht mit derselben Wucht, wie man es bei dem Lockenkopf tat. Sein Leid, seine Qualen waren größer als meine.

Doch, trotz allem sitzt er hier vor mir, stark und ruhig, hält meine Hand. Längst wäre ich zusammengebrochen, hätte aufgehört zu kämpfen, jedoch Harry nicht.

Er lässt sich nicht so einfach von seinem Ziel abbringen, obwohl er schon so viel durchlebte.

Der Kloß in meinem Hals kratzt, raubt mir die Luft oder hindert mich daran, neue zu schnappen. Ein Schauer durchfährt meine Knochen und die Tränen fließen weiter über meine Wangen. Mir wird ganz kalt und etwas schwindelig, was erst weggeht, als Harry mich vorsichtig an seine nackte Brust zieht, sanft eine Hand auf meinen Kopf legt.

"Honor, es geht mir gut", nuschelt er an mein Ohr, streicht über meine Haare. "Wirklich. Baby, bitte hör auf zu weinen."

"Du wurdest geschlagen und ich... Ich war nicht da, konnte dir nicht helfen, sondern war wütend auf dich", schluchze ich verzweifelt. Danach vergrabe ich mein Gesicht aus Scham nur noch mehr an seiner Brust, schniefe laut.

"Dazu hattest du jegliches Recht." Achtsam, besorgt und langsam nimmt er nun mein Gesicht zwischen seine warmen Finger, schaut mir ernst in die Augen. Sein Grün wirkt nicht schwach, sondern stark, funkelt mich dunkel an. Er sieht so stark und entschlossen aus. "Ich werde nicht zulassen, dass du wegen anderen weinst", meint er dann.

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