Ich führte sie hoch in die Notaufnahme. „Kommt Johannes nicht mit rein?" fragte Dad. Ich schüttelte den Kopf. „Er will jetzt lieber alleine sein." Als wir vor dem Zimmer standen, verließ mich all der Mut. Ich deutete auf die Tür. „Da drin liegt sie, aber... Ich glaube ich bleibe auch lieber noch was draußen. Ich kann das nicht." Mum nickte verständnisvoll, doch Jule zog mich einfach hinter sich her in den mittlerweile hellen Raum. Benno hatte anscheinend den Lichtschalter gefunden. Dieser stand immer noch vor dem Bett und starrte vor sich hin. Hannahs Augen waren immer noch geschlossen und ich bekam Angst, dass sie sich nie wieder öffnen würden. Alle drei blieben erschrocken und wie angewurzelt stehen. Mum stand der Schmerz ins Gesicht geschrieben, Jule weinte leise und Dad stand traurig daneben. Dad und Hannah hatten nie wirklich das beste Verhältnis gehabt, aber sie mochten sich trotzdem. Mum ging zu Benno und legte ihre Hände auf seine Schultern, woraufhin er zusammenzuckte und sich verheult zu uns umdrehte. Er fiel Mum in die Arme und schluchzte leise, während sie ihm tröstend über den Rücken strich. Es war zwar nicht das erste mal, dass Hannah wegen ihrem Herz im Krankenhaus lag, aber es war noch nie so schlimm wie jetzt. Ich sah mir Mum ganz genau an. Wie war das für sie? Erinnerte sie das hier an den Tod ihres besten Freundes? War das der Schmerz in ihrem Gesicht? Oder zerriss es sie innerlich, wie es eine Mutter eben zerriss, wenn sie ihr Kind sterben sah, obwohl Hannah ja nie wirklich ihre Tochter gewesen ist. Hatte sie sie immer als ihre eigene Tochter angesehen? Oder war da immer eine Distanz, die sie gespürt hat? Ich jedenfalls spürte keine Distanz zu ihr. Sie war meine Schwester, ob nun leiblich oder nicht! Und auch ich spürte einen unglaublichen Schmerz tief in mir drin. Diese Angst, diese wahnsinnige Verlustangst, die mich verrückt machte. Ob sich Jule genauso fühlte? Die beiden verstanden sich gut. Wir alle verstanden uns gut mit ihr. Mittlerweile zumindest. Ich hatte nur noch vage Erinnerungen an damals, als es noch nicht so war. Nur verschwommene Puzzleteile, die ich weder richtig sehen noch hören konnte. Aber ich wusste trotzdem, dass es diese Zeit gegeben hat. Ich wusste, was ich getan hatte. Und dass ich das nie wieder rückgängig machen konnte. Sie hasste mich deswegen nicht, das wusste ich. Hannah war kein nachtragender Mensch. Aber ich hasste mich dafür. Mit Tränen in den Augen dachte ich an all die Momente zurück, in denen ich Hannah unrecht getan habe. In denen ich sie angeschrien und beleidigt hatte, obwohl ich genau wusste, dass es keine Selbstverständlichkeit war, dass sie überhaupt noch lebte. Und auch jetzt war jeder Herzschlag keine Selbstverständlichkeit. Ich wischte mir Tränen aus dem Augenwinkel und atmete tief durch. Dann fiel mir Lilly ein. Ohne sie hätten wir davon wahrscheinlich nie etwas erfahren. Ohne sie stünden wir jetzt hier und wüssten nicht, warum es so gekommen ist. Ich dachte an Malia und daran, wie Hannah sich für mich gefreut hat, dass ich endlich glücklich war. Und dann dachte ich an gestern. Der letzte Abend, den ich mit Hannah verbracht habe. Das letzte Familientreffen, bei dem sie dabei war. Der letzte Tag, an dem alles normal war...